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Staatsräson in 3… 2… 1…

Buchautor_innen
Enzo Traverso
Buchtitel
Gaza im Auge der Geschichte

Der linke Theoretiker europäischer Geistesgeschichte provoziert mit seinem Buch über den Nahost-Konflikt – vor allem deutsche Befindlichkeiten.

Dieses Buch wird möglicherweise einigen nicht gefallen: Der linke Historiker Enzo Traverso hat einen wütenden, aber nicht minder analytischen, Essay vorgelegt, in dem er sich nicht scheut, unbequeme Wahrheiten an- und auszusprechen. Traverso legt eindrucksvoll und wortgewaltig dar, welche Ursachen die gegenwärtige und andauernde Zerstörung Gazas hat, denn mit dem 7. Oktober 2023 ist diese nicht zu argumentieren. Mit dem Ignorieren der Osloer Abkommen traf Israel vor über 20 Jahren die Entscheidung, in welche Richtung es politisch wie geostrategisch gehen wird – seither wurden in Ostjerusalem, in der Westbank und im Gazastreifen laufend Fakten geschaffen.

Reizworte und Worthülsen

Traverso nimmt sich in seiner Analyse unter anderem den Orientalismus vor und zeigt, wie dieser immer noch zum festen Repertoire westlichen Denkens gehört. Von Edward Said geprägt, meint der Begriff das Überlegenheitsdenken des Westens gegenüber der arabischen Welt, die als rückständig und bedrohlich skizziert wird. Traverso zeichnet auch nach, welche Konsequenzen der von Europa in den arabischen Raum transportierte Antisemitismus für die Palästinenser*innen hat und welches Narrativ (nicht nur) seitens des Netanjahu-Regimes daraus gesponnen wird, um die Zerstörung Gazas zu rechtfertigen.

Auch vor dem Reizwort Antizionismus macht Traverso nicht Halt. Vielmehr stellt er heraus, dass dieser in seinen Anfängen plural und politisch divers war. Heute seien, so seine ernüchternde Einsicht, linke und sozialistische Strömungen weitgehend von der ethnopolitischen Reaktion absorbiert – mit entsprechenden Konsequenzen.

„Es besteht kein Zweifel daran, dass vor allem rechte Antizionist*innen oft auch Antisemit*innen waren. […] Unbestritten ist aber auch, dass der Zionismus von einem sehr großen Teil der jüdischen Welt immer kritisiert und oft vehement abgelehnt wurde.“ (S. 68f.)

Traversos Ausführungen zur Einordnung der Hamas und – damit verbunden – sein kritischer Blick auf den Widerstandsbegriff stellen noch weitere, in den Debatten oft übersehene, Aspekte heraus. Widerstand von Opfern unterdrückerischer Regime wurde in der Geschichtsschreibung allzu oft mit einer konstruierten Unschuld kombiniert, weshalb uns eine wesentliche Seite verborgen bleibe: Befreiungskämpfe, so Traverso, nahmen in der Geschichte immer wieder auch brutale, gewaltvolle und erschreckende Formen an. Dazu gehörten, wie Traverso zeigt, unter anderem zahlreiche Aufstände von Versklavten, der Aufstand im Warschauer Ghetto, sowie bestimmte Praktiken emanzipatorischer Befreiungsbewegungen weltweit.

Die Hamas, so Traverso, sei in einer freien Welt der erklärte Feind emanzipatorischer Kräfte. Doch gerade jetzt muss sie als ein Bestandteil des palästinensischen Widerstands gesehen und akzeptiert werden – auch, wenn dies uns nicht gefalle, denn die Ideologie der Hamas lehnt Traverso mit deutlichen Worten ab:

„Müssen der Fundamentalismus, der Autoritarismus, der antidemokratische, frauenfeindliche und reaktionäre Charakter dieser Bewegung kritisiert werden? Ohne jeden Zweifel. In einer freien Gesellschaft wäre die Hamas der Hauptfeind der Linken. Unter den gegenwärtigen Umständen leistet sie militärischen Widerstand gegen den Genozid. Heute genießt sie die Nachsicht der Palästinenser*innen, die unter ihrer Diktatur litten. Man schießt nicht auf die Anführer*innen, die die belagerte Stadt verteidigen.“ (S. 82f.)

Mit diesen für viele nicht leicht verdaulichen Einordnungen plädiert der Autor für ein Weniger an Paternalismus und für das Anerkennen von Realitäten, die nicht in die westliche Propaganda passen. Dazu gehört für Traverso die Benennung des Kriegs gegen Gaza als Genozid und die Tatsache, dass die Sache der Palästinenser*innen längst zum Symbol eines Kampfes geworden ist, der den globalen Süden eint.

Übrigens: Viele von jenen, die sich (immer noch!) gegen die Nutzung des Begriffs Genozid wehren, haben gleichzeitig kein Problem damit, sich unter dem Banner der sogenannten „Staatsräson“ zu versammeln. Dass dieser Begriff eigentlich beschreibt, dass Moral und Gesetze vom Staat für ein „höheres Ziel“ missachtet werden dürfen, stört sie dabei nicht.

Wie post-faschistisch sind wir eigentlich…

Die Ausführungen zur symbolischen Verschiebung in Sachen Völkerrecht gehören zu weiteren lesenswerten Passagen des Buchs. Traverso zeigt, wie der globale Süden erstmals zum völkerrechtlichen Subjekt wird und wie der globale Norden, konkreter der Westen, dies als Bedrohung auf internationalen Bühne wahrnimmt – und entsprechend reagiert. (Stichwort: Internationaler Gerichtshof)

Traverso beleuchtet auch die Rolle „postfaschistischer“ und rechtsextremer Parteien und Bewegungen in Europa und den USA, die an der Seite des israelischen Regimes stehen, weil Muslim*innen und der Islam insgesamt in diesem Fall den gemeinsamen Feind darstellen. Da ist es dann aktuell auch egal, dass die eigene antisemitische Vergangenheit unaufgearbeitet in modrigen Kellern verstaubt. Wir leben wahrlich in einer Zeit absurd-gefährlicher Allianzen.

Abschließend noch ein paar kritische Worte zum Buch: Auch wenn Traverso in seinen Rückgriffen auf die Geschichte keine dezidierten Gleichsetzungen vornimmt, sondern sich auf Analogien beschränkt, fand ich manche Passagen verkürzt und zu stark zugespitzt. Über einige Formulierungen bin ich auch gestolpert und gehe nicht in jedem Detail mit dem Autor d'accord. Dazu gehört beispielsweise die Einordnung der Hamas als Organisation von Partisan*innen oder auch das Bemühen des historischen Faschismus in Bezug auf das Regime in Israel. Davon unabhängig ist, dass Traverso eine klare Kante gegen Antisemitismus und gegen seine Verharmlosung zeigt; das bedeutet auch – das ist wichtig – gegen ein „Weaponizing“ des Begriffs Antisemitismus, wie es derzeit von vielen Seiten geschieht.

Traverso provoziert, heißt es. Doch tut er das wirklich? Wer sich mit Diskursen außerhalb des deutschsprachigen Raums zum israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigt, wer Debatten außerhalb Europas verfolgt, wer sich abseits von Staats- und Mainstream-Medien informiert, vielleicht auch mit Aktivist*innen in Israel-Palästina im Austausch steht, wird sich von Traverso eher verstanden fühlen. Denn wenn wir ehrlich sind: Was hierzulande unter „Staatsräson“ abgenickt wird, während einmal mehr mit Rassismus Stimmung gemacht, ist nicht minder „provokant“, um es vorsichtig auszudrücken. Gerade deshalb ist „Gaza im Auge der Geschichte“ ein unverzichtbarer Beitrag zu einer höchst einseitigen Debatte und absolut lesenswert.

* Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Instagram-Buchblog der Rezensentin. Er wurde für die Veröffentlichung bei kritisch-lesen.de redaktionell bearbeitet und um einige Aspekte ergänzt.

Enzo Traverso 2024:
Gaza im Auge der Geschichte. Übersetzt von: André Hansen.
Wirklichkeit Books, Berlin.
ISBN: 978-3-948200-19-0.
112 Seiten. 18,00 Euro.
Zitathinweis: Stefanie Klamuth: Staatsräson in 3… 2… 1…. Erschienen in: Politisches Christentum. 74/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/izVwQ. Abgerufen am: 22. 01. 2025 11:11.

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Enzo Traverso 2024:
Gaza im Auge der Geschichte. Übersetzt von: André Hansen.
Wirklichkeit Books, Berlin.
ISBN: 978-3-948200-19-0.
112 Seiten. 18,00 Euro.