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„Klassenfragen werden als religiöse Sinnfragen verhandelt“

„Klassenfragen werden als religiöse Sinnfragen verhandelt“ © Christina Kurby
Interviewpartner_innen
Interview mit Ingar Solty

Die Geschichte der Evangelikalen in den USA zeigt, wie die Christliche Rechte das Vakuum füllt, das Gewerkschaften und Sozialstaat hinterlassen haben.

In den USA glauben über 90 Prozent der Menschen an ein höheres Wesen, haben also einen religiösen beziehungsweise spirituellen Zugang zur Welt. Die Auffassung, wir lebten in säkularisierten Zeiten, scheint eine stark europäische zu sein. Warum spielt die Religion in Ländern wie den USA immer noch eine Rolle?

Ingar SoltyViele Religionssoziologinnen und -soziologen würden argumentieren, dass die USA von Religionsflüchtlingen, genauer von den Puritanern, gegründet worden ist und es von den Amish bis zu den Quäkern immer wieder religiöse Fluchtbewegungen gegeben hat, die Amerika bis heute prägen. Ich halte das nicht für sonderlich überzeugend. Ein Großteil der Einwanderung war ökonomisch bedingt und nicht ideologisch-religiös. Von daher ist das höchstens ein Teilaspekt. Viel entscheidender scheint mir, dass es in den USA, anders als in Deutschland und vor allem anders als in Frankreich, keine Verstaatlichung der Religion, also eine Verschmelzung von religiösem Glauben mit dem Staat gab. Das heißt, Religion konnte sich in den USA immer eine große Glaubwürdigkeit und Authentizität bewahren und spielte auch eine große Rolle in sozialen Bewegungen. Sie wurde nicht durch Religionsunterricht oder Schulgebete und dergleichen spirituell entleert, sondern blieb – auch durch das Agieren zivilgesellschaftlicher Akteure – stets lebendig.

Außerdem spielt Religion in den USA immer eine Rolle vor dem Hintergrund, dass sie von zwei Parteien dominiert werden, die aus der Zeit des Vorkapitalismus stammen, die auch den amerikanischen Bürgerkrieg überdauert haben. Diese entsprechen vom Typus eher liberalen Honoratioren-Parteien. Sie sind also keine programmatischen Massenparteien, die vom Kapital-Arbeits-Gegensatz geprägt sind. Es blieb bei diesen beiden Parteien – und es hat sich dort beispielsweise keine Christdemokratie herausgebildet. Klasse hingegen hat bei der Bündelung von Wählergemeinschaften und Klassenbündnissen lange Zeit eine viel geringere Rolle gespielt.

Unter den verschiedenen christlichen Gruppierungen werden immer wieder die Evangelikalen als besonders einflussreich genannt. Dieser Einfluss besteht historisch gesehen aber noch nicht sehr lange. Warum beginnt der Anstieg ihrer Einflussnahme erst ab den 1970er Jahren?

Das Denken der Christlichen Rechten beruht auf der Offenbarung und letztlich auf der dystopischen Hoffnung, dass, nachdem die Apokalypse über das Heiligen Land gefegt ist, der Messias zurückkehrt. Darum begrüßen Teile der Christlichen Rechten den Krieg in Gaza und wünschen sich auch einen Krieg mit dem Iran herbei. Dieser wäre die Voraussetzung für die Rückkehr Jesus und die Himmelsfahrt der Gottgerechten (auch Rapture genannt). Die Religionssoziologie spricht von Erweckungsbewegungen, die zyklisch verlaufen und auf der Idee eines religiöses Erweckungserlebnisses beruhen: Menschen, die sich als wiedergeborene Christen empfinden, erleben ihre Besinnung auf Religion als Befreiung. Darin steckt – wie die Studie „Amazing Conversions“ von Robert Altemeyer zeigt – immer Autoritäres: Autoritäre Unterwerfung unter ein rigides Glaubensbekenntnis, das dem Ich in der Krise ein neues geistiges Haus baut und einen missionarischen Lebenssinn verleiht, sowie autoritäre Aggression gegen die Außenwelt. Das Zyklische ergebe sich dadurch, dass das, was für die Konvertiten als Befreiung erlebt wird, für die Kinder der Konvertiten unterdrückerische Gestalt annimmt, etwa wenn sie sich nicht mit den anderen Kindern als Hexen verkleiden oder keine Harry Potter-Romane lesen dürfen, weil das als Hexerei gilt. In den 1960er Jahren sprach man in den USA von der Fourth Great Awakening, die vierte große Erweckungsbewegung, eine Welle, die laut einiger Religionssoziologinnen und -soziologen ab den 2000er Jahren wieder abebbte. Dieser Niedergang wurde daran festgemacht, dass die Zahlen der Taufen, Konvertierungen, Gemeindemitglieder und wöchentlichen Kirchgängerinnen und Kirchgänger tatsächlich rückläufig waren.

Der religionssoziologische Ansatz verstellt aber den Blick auf die politische Ökonomie, in der die Grundlagen erstarkender, christlich-fundamentalistischer Bewegungen zu finden sind, insbesondere der Christlichen Rechten seit den 1960er Jahren. Denn diese traten ihren Siegeszug von Kalifornien aus in dieser Zeit und über die Reagan-Wahl 1979 hinaus an und spielten auch bei der Administration von George W. Bush eine größere Rolle. Man kommt der christlichen Rechten nicht auf die Spur, ohne die Krise des Fordismus in den 1960er Jahren und die Krise des Sozialstaates in den Blick zu nehmen.

Was machte diese Bewegungen in der Krisenzeit attraktiv?

Die Neue Rechte revoltiert zwar gegen die Kulturrevolution, aber die Christliche Rechte ist auch selber Ausdruck dieses Umbruchs. In dieser Zeit drückt sie sich als Vertrauenskrise der traditionellen und mit Priester- oder Pfarrerhierarchien ausgestatteten, protestantischen und katholischen Mainline-Kirchen aus. Die Christliche Rechte hat mit ihrem Erweckungscharakter, bei dem der oder die Gläubige jenseits der kirchlichen Institutionen wieder wie im ursprünglichen Protestantismus als „Sünder in den Händen eines zornigen Gottes“ existiert, durchaus Anknüpfungspunkte zum Expressiven der Neuen Linken, der Hippies und so weiter. Den Subjektivismus der 68er findet man auch in der evangelikalen Bewegung wieder, bis hin zum Speaking in Tongues, also der Unterwerfung unter einen spirituellen Geist, der durch die Subjekte hindurch spricht – was beinahe heidnischen Charakter hat, aber von Timothy Leary und von „turn on, tune in, drop out“ weniger weit entfernt ist als es scheint.

Noch wesentlicher ist aber die politische Ökonomie und die Tatsache, dass der Sozialstaat in der US-Geschichte ganz anders entwickelt ist als beispielsweise in den skandinavischen Sozialstaatstypen, die stark egalitär sind, oder den von christlich-sozialem Protestantismus und katholischer Soziallehre inspirierten Sozialstaaten – beide Lehren entstehen in (Gegen-)Reaktion auf die Arbeiterbewegung – wie Deutschland. Dieser Umstand hat in den USA während der Krise des Fordismus sowie des Keynesianischen Wohlfahrtsstaats sehr schnell zu einem Mitte-Oben-Bündnis geführt, in dem signifikante Teile der lohnabhängigen Klassen den Abbau des Sozialstaates akzeptiert haben. Beispielsweise wurden die sogenannten Welfare Moms immer antifeministisch gebrandmarkt als Frauen, die ihre Männer verlassen und selbstverschuldet in der Alleinerziehenden-Armut landen, oder Schwarze, die selbstverschuldet arm sind, weil sie faul seien und so weiter. Das heißt, der Mangel an einem universalistischen Wohlfahrtsstaat ermöglichte die rassisierte, ethnisierte und antifeministische Kritik der „sozialen Hängematte“, wie es im Jargon der neoliberalen Revolution hieß; ermöglichte also eine Kritik, die sich nach unten richtete und die Leitern des sozialen Aufstiegs für die unteren Klassen wegtrat.

Der Glaube an die Institutionen oder an eine klassische Kirche war auch eine Art populistischer Ködermechanismus. Erleben wir heute eine Wiederholung der vergangenen Krisen oder ist der Erfolg der christlichen Rechten auch mit Hinblick auf Trump und seinem nicht hegemonialen und nicht institutionalisierten Gebaren diesmal anders zu erklären?

Lange Zeit war der Evangelikalismus ein Phänomen der unteren lohnabhängigen Einkommensklassen. Der Theologe Reinhold Niebuhr hat den Evangelikalismus in der Zwischenkriegszeit als die „Religion der Enterbten“ gekennzeichnet. Tatsächlich gibt es bis heute nur zwei Religionsgruppen, die ein geringeres Durchschnittseinkommen haben: die schwarzen Protestantengemeinden wie die Black Baptist Churches und die Zeugen Jehovas.

Das heißt, die populistische Situation, die du beschreibst, kann der Evangelikalismus ausnutzen: In das Vakuum, das die Gewerkschaften einerseits und der Sozialstaat andererseits hinterließen, stieß der Evangelikalismus hinein. In den Bundesstaaten, in denen es noch eine hohe Gewerkschaftsdichte, also Formen klassenbasierter Solidarität, gibt, ist der Anteil der Evangelikalen an der Gesamtbevölkerung gering, dort, wo die Gewerkschaftsdichte niedrig ist, wie etwa im industrialisierten Süden, dem sogenannten Bible Belt, ist er hoch.

Mit ihrer Besetzung der gesellschaftlichen Lücke haben Evangelikalen einen Marktpopulismus herausgebildet. Es gab bei Barack Obama viel Aufhebens darum, dass das Viertel der Bevölkerung, das sich dem Evangelikalismus zuordnet, zu 90 Prozent republikanisch wählte. Diese Leute würden, hieß es mitunter, mit einer Diskussion über moralische Werte verleitet, gegen die eigenen ökonomischen Interessen zu stimmen. Als Reaktion darauf versuchten liberale Demokraten ihre eigene Religiosität zu betonen, den Wählerinnen und Wählern kulturelle und zum Teil auch ökonomische Angebote zu machen, um sie damit zurückzugewinnen und die Sperrminorität der Republikaner zu brechen. Die Frage war, was schwerer wiegt: Vermeintlich ideelle „Werte“ oder materielle „Interessen“? Und man wollte sich auf das Materielle rückbesinnen.

Das Ganze hinkt daran, dass sich in der Geschichte der USA tatsächlich eine neoliberale Religiosität insbesondere in den Südstaaten herausgebildet hat – Werte und Interessen also wenigstens für Teile des religiösen Feldes deckungsgleich sein konnten. Die Entgegensetzung zwischen rechtslibertären Marktradikalen und rechtsautoritären Christen ist deshalb eigentlich hinfällig. Das zeigte beispielsweise auch die Tea Party, die sowohl christlich-rechtsautoritär als auch marktradikal war.

Könntest du diesen Zusammenhang etwas konkretisieren? Warum kann der Neoliberalismus mit seiner Marktradikalität mit einer christlichen Ideologie aufgeladen werden?

Manche würden einfach erklären, dass es im Christentum das Subsidiaritätsprinzip gibt, welches auch als Skepsis gegenüber säkularen, staatlichen Einrichtungen ausgelegt werden kann. Anstatt der staatlichen Kita sollte es sonntags den Kirchunterricht und die kirchlichen Kinderkrippen geben. Man wendet sich gegen zentralstaatliche Institutionen und ist damit auch ein Gegenpol zur sozialistischen Arbeiterbewegung.

Diese Argumentation verkennt aber, dass die Religion nie per se rechts war oder ist. Es gibt zwar eine Skepsis auf der weltanschaulichen Ebene – eine Sorge, dass der Sozialismus und selbst der Liberalismus Gotteslästerung seien, da sie versuchten, die Welt bewusst zu planen und zu organisieren und sich damit selber zu Göttern erheben – und trotzdem hat es auch immer eine christliche Linke in der Geschichte der USA gegeben. Es gab in den USA stets eine christliche Unterfütterung der sozialistischen Bewegung – im Gegensatz zu Europa, wo den Arbeiterinnen und Arbeitern aus Angst vor der Revolution Versprechungen gemacht wurden und man versuchte, sie mittels Antisemitismus gegen den Sozialismus immun zu machen. Schon die Regulator Rebellion um Herman Husband während der Revolution 1776 war von einem sehr starken Quäker-Puritanismus angetrieben. In der Arbeiterbewegung gab es dann während der Progressive Era Ende des 19. Jahrhunderts Figuren wie Richard T. Ely und Walter Rauschenbusch, die eine antimonopolistische orientierte Social Gospel-Bewegung ins Leben gerufen haben und sehr fortschrittliche Forderungen für eine Umverteilungspolitik hatten. Der erste Präsident der United Automobile Workers, Homer Martin, wiederum war ein Baptist und Evangelikaler. Dazu könnte man auch den mehrfachen Präsidentschaftskandidaten William Jennings Bryan und seinen Kampf gegen die Monopole erwähnen, der stark christlich geprägt war. Es gibt also keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Religion und Rechten. Auch der religiöse Text lässt verschiedene Deutungen zu: Was für die autoritäre Rechte das Offenbarungskapitel der Bibel ist, ist für die sozialistische Bewegung die Bergpredigt.

Den Schlüssel zum Verständnis, warum die religiöse Rechte allgemein und in spezifischen geografischen und sozialen Räumen stark ist, insbesondere in den Südstaaten und hier im ländlichen und suburbanen Raum, liefert uns erst die Spezifik der Geografie des Neoliberalismus. Der Süden gilt manchen vielleicht heute noch als agrarisch, er ist aber hochgradig industrialisiert, etwa ein Drittel der amerikanischen Industrie ist in den Südstaaten beheimatet. Diese Industrialisierung fand jedoch während der neoliberalen Wende statt; der Süden war quasi das inneramerikanische Zielland von Kapitalverlagerungen, das – vergleichbar mit den „neuen Bundesländern“ in Deutschland – auch als Druckpotenzial gegenüber den bisherigen Industriestandorten im Mittleren Westen und Nordosten diente. Das Kapital ist, um seine verlorene Profitabilität wiederzugewinnen, dorthin gegangen, weil dort kaum Arbeiterrechte und Gewerkschaften existierten. Die Arbeiterklasse in den Südstaaten war also nie Teil des fordistischen Klassenkompromisses, wie die Arbeiterklasse beispielsweise in Michigan oder die Automobilarbeiter in Detroit und Flint. Im Gegenteil, im Süden entsteht sie nur im Ergebnis des Neoliberalismus und unter Voraussetzungen der Gewerkschaftsfeindlichkeit nach innen und Freihandelsorientierung nach außen. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der Genealogie einer neoliberalen Religiosität in den USA, die sich mit den Methoden einer kritischen Geografie fassen lässt.

Wie üben die Kirchen neben ihrer Arbeit in den Gemeinden Einfluss auf politischer Ebene aus?

Lange Zeit waren die Evangelikalen klassistischen Ressentiments ausgesetzt. Das stärkte zum Teil ihren Zusammenhalt, schließlich erlebte man eine gemeinsame Diskriminierungserfahrung durch die Mainline-Kirchen und andere protestantische Strömungen. Aber mittlerweile gab es einen Marsch durch die Institutionen. Mit der Krise der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung entstand ein politisches Vakuum, das – vor allem in den Vorstädten und im ländlichen Raum, dort wo auch neue Kapitalstandorte auf der grünen Wiese entstanden – durch die sogenannten Megakirchen gefüllt wurde. Sie sind für ein Verständnis der Entstehung einer neoliberalen Religiosität ebenfalls entscheidend. Mit ihnen ist sozusagen eine Industrie entstanden, die vom Umbau des alten keynesianischen Wohlfahrtsstaats in einen sanktionierenden Workfare-Staat vielfach profitiert. Unter Bill Clinton wurden Mitte der 1990er Jahre wesentliche Sozialstaatsprogramme privatisiert und mit Fördermaßnahmen für die evangelikalen Kirchen verknüpft. Charitable Choice hieß das damals. Das erlaubte es Kirchen, trotz der säkularen Grundlagen der USA, ihren Missionarismus beispielsweise mit Suppenküchen oder anderen sozialpolitischen Maßnahmen aus der Zivilgesellschaft zu verknüpfen. Sie entwickelten so ein Interesse an der Privatisierung des Sozialstaats und wurden zu politischen Machtfaktoren.

Im ländlichen und suburbanen Raum hat sich der Evangelikalismus dabei als eine neue Form der Solidarität und des sozialen Zusammenhalts etabliert. Früher ging man, wenn es ein Problem gab, zur Gewerkschaft, die auch als soziales Netz Unterstützung, Kulturleben, weltanschauliche Perspektive und so weiter geboten hat. Diesen Platz nehmen nun die Megakirchen ein. Dort findet man Anschluss, dort erhält man die ansonsten privat zu finanzierende, psychologische Seelsorge. Freilich werden gesellschaftliche Probleme hier nicht mehr als Klassenfragen verhandelt, sondern als religiöse Sinnfragen und auch Fragen eines (anti-linken) Kulturkampfes.

Zumindest ideologisch haben die Megakirchen auch in anderen Teilen der Welt großen Erfolg.

Die Populismusforschung – beispielsweise durch Ernesto Laclau, dem argentinischen Theoretiker – geht davon aus, dass es breite Bevölkerungsteile gibt, die gar nicht dauerhaft an Parteien gebunden und gleichzeitig offen für Anti-Elite-Rhetorik sind. Es ist dabei kein Zufall, dass Laclau Lateinamerikaner ist, weil hier die Bedingungen für Populismus noch sehr viel stärker ausgeprägt waren als in den kapitalistischen Zentren des Westens. Dabei wird immer ein ideologisches Vakuum vorausgesetzt, das von den Evangelikalen gefüllt werden kann, auch und gerade in Lateinamerika, wo der Evangelikalismus den traditionellen Katholizismus verdrängt hat und auch hinter dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro in Brasilien stand, oder in anderen Teilen des globalen Südens.

Die Internationalisierung des Evangelikalismus hat in den USA in der Mitte der 2000er Jahre dazu geführt, dass manche die Hoffnung hegten, es könne eine junge, linksoffene evangelikale Generation entstehen. Der Hintergrund war die Annahme, dass aus dem Ziel des internationalen Missionierens ein Umdenken stattfinden würde. Auch beobachteten manche ein Ende der Fourth Great Awakening, die sich auch in den Krisen und Skandalen in der evangelikalen Kirche der USA zeigte. Erinnert sei an das erzwungene homosexuelle Coming-Out des bis dahin extrem homophob aufgetretenen Präsidenten der National Association of Evangelicals, dem Dachverband von mehr als 45.000 evangelikalen (Mega-)Kirchen. Die Hoffnung bestand darin, dass sich – aus Gründen der ideologischen Expansion – eine internationalistischere evangelikale Bewegung herausbilden könnte, die sich von den ultranationalistischen und kriegerisch-imperialistischen Vorstellungen während der Bush-Administration loslösen würde. Die ökonomische Erschließung von internationalen Märkten für Glaubenswaren – die Megakirchen sind letzten Endes Gottesunternehmen, die millionenfach Wohlfühl-Religionsbücher verkaufen – war jedoch eher der Export des US-Kulturkampfes nach Brasilien, Argentinien und so weiter.

Kann dieser Zusammenhang als Fusion zwischen autoritärem Evangelikalismus und Marktradikalismus beschrieben werden?

Vor dem Aufstieg der Tea Party gab es Richtungsauseinandersetzungen in der Republikanischen Partei, die teilweise einen fundamentalen Gegensatz zwischen Marktradikalen, also Rechtslibertären, und Christlichen Rechten, also Rechtsautoritären, suggerierten. Die Republikaner befanden sich damals, nach dem Hurricane Katrina 2005, in einer Krise: Da wurde Bush als amtierender Präsident auch von konservativer Seite aus kritisiert und Marktradikale wie Ron Paul, Paläokonservative wie Patrick Buchanan oder Ronald Reagans Berater Doug Bandow übten Kritik am Irakkrieg. Marktradikale Rechte wie Richard Viguerie und anderen beklagten, dass Bush gar nicht gegen den Sozialstaat gewesen sei, dass er ihn beispielsweise mit Prescription Drugs oder mit No Child Left Behind ausgebaut habe, und dass die Bush-Administration mit Homeland Security die staatliche Überwachung, also das Autoritäre, herbeigeführt habe. Dieser Gegensatz wurde aber stark überzeichnet. Am Ende waren dies alles Spannungen innerhalb der Partei, die sich aus der Krise ergaben und dazu führten, dass man sich gegenseitig für den Niedergang verantwortlich machte. Dabei wurde der innere Zusammenhang von Marktradikalismus und Autoritarismus verwischt. Es dauerte auch nicht lang, bis er sich neu manifestierte; in der Tea Party und dann beim Trumpismus – Trump kommt ja selbst aus der Birther-Bewegung in der Tea Party. Hier zeigte sich das neoliberale Fundament der Christlichen Rechten genauso wie der kulturkämpferisch-autoritäre Grundton des Marktradikalismus.

Wird die Bedeutung der evangelikalen Wählerschaft für die Siege von Donald Trump überschätzt?

Ich möchte einen Schritt zurückgehen: Auch unter den Demokraten gab es Überlegungen, mit welchen Angeboten man die Evangelikalen wiedergewinnen könnte. So fing beispielsweise auch Obama damit an, sich in seinen Reden auf Gott zu beziehen. Das ist natürlich eine Konsequenz aus dem strategischen Identifizieren und direktem Ansprechen von Kleinstgruppen durch Wahl- und Meinungsforschung, also einem Abwenden von der Klassenpolitik und einem ökonomischen Populismus, der Leute aufgrund ihrer Klasseninteressen anspricht und tatsächlich Mehrheiten bilden könnte. Auch bei der jüngsten Wahl 2024 hat sich wieder gezeigt, dass es Zwei-Drittel-Mehrheiten für den 15-Dollar-Mindestlohn, für ein öffentliches Gesundheitssystem, für kostenlose Hochschulbildung und so weiter gibt. Wie ich in meinem Buch „Trumps Triumph?“, das soeben erschienen ist, versuche zu zeigen, ist das Ergebnis der Wahl eine politische Rechtsverschiebung, aber von einer gesellschaftlichen Rechtsverschiebung oder gar einer Faschisierung der US-Gesellschaft kann überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil: Trump hat überhaupt kein Mandat für seine Politik: weder für das Zwei-Billionen-Dollar-Sparprogramm, das er und Elon Musk angekündigt haben, noch für die geplanten Massendeportationen von rund 12 Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern ohne legalen Aufenthaltsstatus, noch für das vor allem von J. D. Vance vorangetriebene nationale Verbot des „Rechts auf freiwillige Mutterschaft“, sprich: das nationale Abtreibungsverbot.

Ich glaube, dass die Frage, welche Rolle die Evangelikalen für den Trumpismus spielen, falsch gestellt ist. Sie führt etwas auf Ideologie zurück, was eigentlich stark mit der Klassenfrage verknüpft ist. Der Prozess der Proletarisierung der Republikanischen Partei hat 2016 einen erheblichen Sprung gemacht und sich jetzt noch einmal beschleunigt. Der Fehler ist allerdings bei den Demokraten zu suchen: Sie haben es versäumt, die Wählerinnen und Wähler über die Klassenfrage zurückzuholen. Harris hat den Menschen, vor allem der multiethnischen Arbeiterklasse, in einer populistischen Situation, in der die große Mehrheit des Landes unzufrieden mit seiner Entwicklung ist, einfach kein Angebot gemacht, außer: „Ich bin nicht Trump!“

Darüber hinaus ist das Verhältnis der Evangelikalen zu Trump ambivalent. Er gilt zwar in manchen Mega-Kirchen als Messias. Aber er wurde von der christlichen Rechten immer auch mit Skepsis betrachtet. Er war lange ein Demokrat aus dem zwielichtigen New York, hat sich lange für das Recht auf Abtreibung ausgesprochen, ist zwar jetzt Abtreibungsgegner und Natalist, aber ohne die von ihm erwartete Vehemenz. Er ist ein Lebemann, hat fünf Kinder von drei verschiedenen Frauen und flucht wie ein Rohrspatz. Seine Bezugnahme auf die Religion kommt wenig authentisch rüber. Er ist kein wiedergeborener Christ, wie beispielsweise George W. Bush, dessen Biografie des Alkoholsüchtigen, dem erst die Unterwerfung unter Gott wieder in die Spur verhilft, in der evangelikalen Bewegung widerhallt. Das heißt, man sollte nicht die Bedeutung des Evangelikalismus oder der christlichen Rechten nicht zu sehr aufbauschen, nur weil Trump gewonnen hat. Ohnehin zeigen die statistischen Daten der Nachwahlbefragungen, dass so wenig es eine breite faschistische Tendenz in der US-Gesellschaft gibt, es ebenso wenig Mehrheiten für die Christlichen Rechte gibt.

Kann man das auch auf die aktuelle Situation in Deutschland übertragen?

Grundsätzlich ist es ja so, dass wir in Deutschland mehr über die USA wissen als über unsere Nachbarstaaten und uns mehr an ihnen orientieren. Am Ende beobachten alle zum Beispiel die politischen Entwicklungen oder Wahlen in den USA sehr genau, und in den anderen europäischen NATO-Staaten sieht das nicht anders aus. Doch warum ist das so? Nun, die USA sind ein Imperium und die EU ist ein untergeordneter Teil dieses American Empire. Im Ergebnis kommen amerikanische Diskurse, Talking Points, Wahlkampfmittel und ähnliches mit etwa zehn Jahren Verspätung auch in Deutschland an. Besonders merkt man das natürlich bei Bündnis 90 / Die Grünen. Sie sind am Ende des Tages eine schlechte Kopie der Demokraten und mit Abstand die amerikanischste, um nicht zu sagen: eine amerikanische Partei. Bis hinein in die Wahlkampfslogans imitieren sie die jeweils zurückliegenden Wahlkampagnen, von Barack Obama über Hillary Clinton bis Kamala Harris. Habecks „Zerknirschungssound“ ist ohne das Vorbild Obama gar nicht zu denken, und sein Kanzlerkandidaten-Slogan „Zuversicht“ ist eine direkte Kopie des „Optimismus“- und „Lebensfreude“-Klangs, den Harris in ihrem Wahlkampf versprühen wollte. Zugleich gilt die Amerikanisierung der deutschen Politik auch für die Rechte, für die CDU und insbesondere die AfD. Deren Talking Points sind auch oft 1:1 amerikanischen Vorbildern entlehnt. Dabei sieht man den Einfluss der US-Rechten auch in der Art, wie sich zunächst Marine Le Pen und Giorgia Meloni an die amerikanische Außenpolitik angepasst haben und heute, nach der Trump-Wahl, sich nicht nur Alice Weidel Elon Musk zu Füßen wirft, sondern auch Maximilian Krah vom eigentlich ja antiamerikanisch-völkischen Höcke-Flügel der AfD jetzt ohne große Begründung einfach opportunistisch umkippt und selbst der Höcke-Berater Jürgen Pohl applaudiert. Da kann ein Benedikt Kaiser noch so laut auf Musks X „Verrat“ schreien; dieser Opportunismus liegt in der Natur der Sache der Rechten und es ist nicht ausgeschlossen, dass am Ende auch Höcke einknickt oder gar gleich verschwindet.

Was aber die Kraft des Religiösen anbelangt: Sicherlich gab es etwa in der Bewegung gegen den baden-württembergischen „Bildungsplan 2015“ auch in Deutschland christlich-fundamentalistische Kräfte, die wirksam werden. Trotzdem könnte jemand wie Beatrix von Storch, die der christlichen Rechten der USA wahrscheinlich am nächsten steht, niemals so eine politische Bedeutung entfalten, wie es diese Bewegung in den USA vermocht hat.

Wenn wir dem religiösen Einfluss auf die Gesellschaft nicht so viel Bedeutung beimessen sollten, muss man die Menschen wieder über die Klassenfrage ansprechen. Gibt es aber dennoch religiöse Bewegungen, die versuchen, gegen diese christliche Rechte anzugehen?

In einer Gesellschaft wie den USA, die anders als die kontinental-europäischen Gesellschaften nicht so stark säkularisiert sind, wo also Glaube in allen Formen immer noch weit verbreitet ist, kann Antikapitalismus immer auch in religiöser Sprache stattfinden. Wie gesagt, der Kampf zwischen einer sozialistischen Bergpredigt-Religion auf der einen Seite und einer rechtsautoritären Offenbarungsreligion auf der anderen Seite findet innerhalb der religiösen Institutionen statt, ja sogar im Evangelikalismus selbst. Schließlich gibt es auch eine kleine Evangelical Left um Jim Wallis und die Zeitschrift Sojourner, und es gibt, vor allem aus den Mainline-Kirchen kommend, religiös geformte Sozialproteste wie die Moral Mondays in North Carolina, die Teil einer kapitalismuskritischen Bewegung sind. Auch im Katholizismus hat sich mit Papst Franziskus Enzyklika „Fratelli tutti“ ein großer antikapitalistischer Raum geöffnet.

Ansonsten glaube ich aber, dass die demokratische Strategie, Fokusgruppen anzusprechen, gescheitert ist. Man wird dem Zuspruch zum Rechtspopulismus – oder dem Trumpismus – nur etwas entgegensetzen können, wenn man ökonomisch-populistisch, also letzten Endes Klasseninteressen fokussierte Politik macht, die universalistisch ist. In etwa, wie es Bernie Sanders vorgeschlagen hat: mit der Ansprache einer Multiracial Working Class. Genau das haben die Demokraten unter Kamala Harris nicht gemacht. Sie hätten es auch nicht machen können: Zum einen, weil sie die Partei der Inflation waren und weil Bidenomics, das heißt das große Konjunktur- und Infrastrukturprogramm der Biden-Regierung, scheiterte (an seinen inneren Widersprüchen und vor allem an der kapitalen Fehleinschätzung, eine keynesianische Konjunktur- und Infrastrukturpolitik über niedrige Zinsen und ohne Abschöpfung der großen Milliardärsvermögen machen zu können – ein Modell, das mit der Inflation, die die Verschuldung teuer machte, scheitern musste). Und zum anderen, weil angesichts der überwältigenden Rolle des Geldes in der Politik die Demokratische Partei abhängig ist von der Oligarchie – und zwar vor und nach jeder Wahl. Bernie Sanders hat zwar gezeigt: Trotz dieser Zerstörung der bürgerlichen Demokratie durch das Geld ist es möglich, einen Wahlkampf ohne die Spenden von Banken, Konzernen und Superreichen zu führen, allein mit den Mitteln von Millionen Kleinspenderinnen und -spendern. Aber Sanders konnte dies, weil er nie Teil des demokratischen Establishments gewesen ist.

Die lohnabhängigen Klassen haben, seit der Entstehung der New Deal Coalition, überwiegend demokratisch gewählt. Das sieht jetzt jedoch angesichts der Politik der Demokraten und gleichzeitigen Schwierigkeiten der sozialistischen Bewegung in den USA anders aus. Der Journalist und Organizer Eric Blanc von den Democratic Socialists of America (DAS) hatte drei Strategien vorgeschlagen: eine des Alignments mit den Demokraten, also der Versuch, eine nach innen morsche neoliberale Partei zu übernehmen und zurück zu verwandeln in eine Klassenpartei mit sozialistischen Grundströmungen; ein zweiter strategischer Ansatz war der Clean Break, also die Annahme, dass die Demokraten nie zu einer klassenbasierten Politik kommen werden, weil sie eben eine Partei des Finanzkapitals, der Pharmakonzerne und der Technologie-Monopole sind, dass man also von Anfang an jenseits von ihnen eine ganz neue klassenbasierte Partei aufbauen müsse. Dabei spielt die Hoffnung eine Rolle, dass es Zeit für eine solche Partei ist, in einer Situation der tiefsten Krise der arbeitenden Klasse, in der 60 Prozent der Leute von Paycheck zu Paycheck leben, also überhaupt keine Ersparnisse haben, um auf Inflation, unfreiwillige Teilzeitarbeit, Arbeitsplatzverlust, Arbeitsunfähigkeit, die Geburt eines Kindes, Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen oder dergleichen reagieren zu können. Und schließlich gab es noch die von vielen bevorzugt Idee eines Dirty Break: Man baut eine Klassenbasis innerhalb der demokratischen Partei auf, eine sozialistische Fraktion, die irgendwann den richtigen Zeitpunkt erkennt und dann auf dieser Grundlage eine schon von vornherein starke Drittpartei gründet. Von den Strategien des Clean und Dirty Break ist aber heute wenig übrig geblieben. Das Alignment mit der demokratischen Partei hat sich fortgesetzt zu dem Preis, dass man, um die progressiven Elemente von Bidenomics umzusetzen, den gesamten Kurs der Biden-Administration in der Außenpolitik mitgetragen hat, im Ukrainekrieg und in Richtung neuer Kalter Krieg gegen China, obwohl beide wesentlich verantwortlich sind für Inflation und das Elend der Arbeiterklasse in den USA, die sich, in ihrer Wut, nun Trump zugewandt hat.

Das Interview führten Sara Morais dos Santos Bruss und Sascha Kellermann.

Ingar Solty ist Sozial- und Literaturwissenschaftler und arbeitet als Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Zentrum für Gesellschaftsanalyse und politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zu Fragen der politischen Ökonomie, der politischen Theorie und Ideengeschichte sowie der Literatur und Kultur; zuletzt „Trumps Triumph? Gespaltene Staaten von Amerika, autoritärer Staatsumbau und neue Blockkonfrontation“ (2025) und „Der postliberale Kapitalismus“ (2025). Von Januar 2025 bis Dezember 2027 wird er die 36bändige „Edition Marxismen“ publizieren – eine Reihe allgemeinverständlicher Einführungen in die wichtigsten marxistischen Denker*innen von Marx bis Anwar Shaikh.

Zitathinweis: Sara Morais dos Santos Bruss und Sascha Kellermann: „Klassenfragen werden als religiöse Sinnfragen verhandelt“. Erschienen in: Politisches Christentum. 74/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/YDSXC. Abgerufen am: 22. 01. 2025 11:09.