Christlicher Pronatalismus
- Thema
- Essay von Agnes Laffert
Im Namen Gottes und der Geburtenrate kämpfen christlich-fundamentalistische Bewegungen gegen reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung.
Glaubt man* evangelikalen „Pro-Life“-Gruppen oder rechts-katholischen Regierungen, entscheidet sich unser nationales Schicksal im Kreißsaal. Das Szenario geht etwa so: Wie mit einem trojanischen Pferd findet auf der einen – der falschen – Seite „im Kreißsaal Einwanderung statt“ (Fundis LOL 2024, S. 23), während im Bett daneben so effektiv gegen den Arbeitskräftemangel gekämpft wird wie nirgends sonst, vorausgesetzt natürlich, dass keine konspirativen Gynäkolog*innen die neuen „Fachkräfte schon vor der Geburt geschlachtet“ (ebd.) haben. Was hier passiert, bestimmt nichts weniger als die Zukunft der Nation.
Christlich-fundamentalistische Gruppen, die den überwältigenden Teil der „Lebensschutz“-Bewegung ausmachen, gibt es schon lange, in den letzten Jahren haben sich allerdings die Rahmenbedingungen geändert, in denen sie operieren: Nach Jahren der Sorge vor globaler Überbevölkerung bietet der jetzt fortschreitende Rückgang der Geburtenrate in westlichen Ländern den unterschiedlichsten bevölkerungspolitischen Bestrebungen, von religiös bis neoliberal, Legitimation. Ähnlich wie in anderen Kreisen die Klimakrise, sind „Geburtenrate!“, „demographischer Wandel!“ und im selben Atemzug deren Folgen für den Arbeitsmarkt und „unsere Renten“ plötzlich angsteinflößende Begriffe für viele. Ob das alles überhaupt ein Problem ist, steht dabei nicht infrage. Eine Geburtenrate unter replacement level – also die durchschnittlich erforderliche Anzahl der Kinder pro Frau, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten, ohne Berücksichtigung von Migration – ist das Drohszenario der Gegenwart. Fragt man* christlich-fundamentalistische Gruppen, ist die Lösung dafür ganz einfach: Frauen aus ihrem „Zeugungs- und Gebärstreik“ (Sanders et al. 2014, S. 38f.) reißen! Aber der Kampf gegen Abtreibung und für die traditionelle Mutterrolle ist dabei mehr als nur ein Schritt, um die Geburtenrate westlicher Länder in die Höhe zu treiben – er ist Ausgangspunkt für ein umfassendes Programm zur Wiederherstellung der „gottgewollten“ natürlichen Gesellschaftsordnung.
Kultur des Lebens
Über den Aktivitäten vieler Akteure der „Lebensschutz“-Bewegung schwebt das Evangelium Vitae 1995, in dem der polnische Papst Johannes Paul II. zu einer christlichen „Kultur des Lebens“ im Kampf gegen eine von „perversen Freiheitsvorstellungen“ durchzogene „Kultur des Todes“ aufrief (ebd., S. 19). Aufnahmen des linken Filmkollektivs Leftvision vom „Marsch für das Leben“ am 21. September 2024 in Berlin zeigen Verfechter*innen dieses Kampfs, darunter einen blassen Demonstranten mit Kreuzkette, der sich sicher ist: „Selbst, wenn eine Frau vergewaltigt wird, gibt es nicht das Recht abzutreiben. Ist natürlich sehr schlecht für die Frau, mit Leiden verbunden, aber trotzdem haben wir kein Recht das Leben zu nehmen, denn das Leben nimmt nur Gott.“
Konsequenterweise, obwohl das also alles sehr schlecht für die Frau ist, wurden reproduktive Rechte in Ländern wie Polen oder den sogenannten USA längst massiv eingeschränkt. In vielen US-Bundesstaaten sind medizinische Eingriffe in eine Schwangerschaft ausschließlich erlaubt, um das Leben der schwangeren Person zu retten, allerdings nicht, um gesundheitliche Schäden Gebärender zu verhindern. Was bedeutet das? Frauen berichten, bei Komplikationen aus der Notaufnahme nach Hause geschickt worden zu sein mit den Worten: „Kommen Sie wieder, wenn Sie zusammenbrechen!“ Heißt: Kommen Sie wieder, wenn Sie im Sterben liegen. Die auslegungsbedürftige Sprache in Gesetzestexten führt dazu, dass Ärzt*innen aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen nicht eingreifen. Jede noch so kleine Änderung am Gesetzestext verhindern Politiker*innen, die wegen massiven Drucks der Anti-Abtreibungs-Aktivist*innen um ihre politische Karriere fürchten. In North Dakota etwa verhinderten republikanische Gesetzgeber einen Änderungsantrag, der Abtreibungen nach der Sechs-Wochen-Grenze in Fällen von Vergewaltigung von Kindern erlauben würde – wenn also beispielsweise eine Zehnjährige schwanger würde –, weil die North Dakota Catholic Conference, eine Vertretung der beiden katholischen Diözesen des Staates, angekündigt hatte, sich gegen den Antrag zu stellen (Surana 2024b). Die 28-jährige Amber Thurman starb in Atlanta, Georgia, weil nach einer Abtreibung, für die sie in einen anderen Bundesstaat gefahren war, fötales Gewebe in ihrem Uterus zurückblieb, der zu einer Sepsis führte. Aus Angst die Entfernung des Gewebes würde als Abtreibung gelten, warteten die Ärzt*innen so lange mit dem lebensrettenden Eingriff, dass die Patientin währenddessen verstarb (Surana 2024a). Ob das auch im Sinne Gottes ist?
Die „Fingerabdrücke des Vatikans“ (Datta 2019, S. 8) sind Berichten des Europäischen Parlamentarischen Forums für Bevölkerung und Entwicklung (EPF) zufolge in der „Anti-Choice“-Bewegung in Europa deutlich erkennbar. Ein zentraler transnationaler Player, der mittlerweile alle bedeutenden „Anti-Choice“-Gruppen in Europa vereint, ist das 2018 aufgedeckte Netzwerk „Agenda Europe“, initiiert unter anderem von Terrence McKeegan, damals Rechtsberater der Ständigen Beobachtermission des Heiligen Stuhls bei der UNO.
We’re in a holy war!
Gegründet als „christlich inspirierter Thinktank“, fordert die extremistische rechts-katholische Vereinigung „Agenda Europe“ in ihrem Positionspapier „Restoring the Natural Order“ („Die natürliche Ordnung wiederherstellen“ (DNOW)) eine Kulturrevolution gegen den Verfall des Westens. Die Mehrheit der Beteiligten ist katholisch, aber auch traditionalistische Protestant*innen sowie Vertreter*innen der Orthodoxen, manche von ihnen Politiker*innen, die in den nationalen Parlamenten Europas sitzen – zu den deutschen Hauptakteur*innen gehört Gabriele Kuby, Deutschlands leidenschaftlichste Kämpferin gegen die Gender-Ideologie. Das erklärte Ziel der Agenda sind Einschränkungen von Menschenrechten in Bezug auf Sexualität und Reproduktion. Bei Gipfeltreffen – Treffpunkt dafür war 2014 Schloss Fürstenried bei München, das Exerzitienhaus der katholischen Erzdiözese München und Freising – schließt sich etwa an die Feier der heiligen Messe als Tagesordnungspunkt an, „nationale anwaltschaftliche Arbeit gegen Gleichbehandlungsgesetze zu betreiben“. (ebd., S. 14) Man* kennt es: Abtreibung, Verhütung und Sexualbildung verbieten, LGBTQ-Rechte aberkennen, die traditionelle Familie stärken und so weiter und so fort. (Funfact: So sehr hier für eine „Kultur des Lebens“ gekämpft wird, die „Todesstrafe ist nicht an und für sich unrechtmäßig. Sie bildet somit eine Ausnahme zum Recht auf Leben.“ (aus dem Manifest DNOW, S. 63; zitiert nach Datta 2019, S. 19)
Der internationale Zusammenschluss der Verbände für Tradition, Familie, und Privateigentum (TFP) geht noch einen Schritt weiter: Gegründet in den 1960er Jahren in Brasilien, positionieren sie sich als Revoluzzer gegen die progressivere Ausrichtung der katholischen Kirche unter Papst Franziskus, insbesondere gegen progressive Bischöfe in Deutschland, und fordern eine Konterrevolution. Dabei wollen sie nicht zurück zur traditionellen Familie der 1950er Jahre, sondern – unter Führung des Adels – in die natürliche und in jeder Hinsicht ungleiche Ordnung des Mittelalters (Kemper 2022). Konsequenterweise entspricht ihre inhaltliche Ausrichtung einem wilden Mix aus „Sozialkonservatismus mit wirtschaftlichem Hyperliberalismus und einem Erbe der Komplizenschaft mit rechtsextremen Bewegungen“ (Datta 2020, S. 3). Aber scheinbar gilt: Je absurder die Fantasien, desto größer der politische Einfluss der Fundamentalist*innen. So hat etwa eine nationale Unterorganisation von TFP 2013 in Estland mit einer Petition gegen gleichgeschlechtliche Ehen den Legalisierungsprozess zum Stoppen gebracht. Und der polnische TFP-Ableger, der Jurist*innenverband Ordo Iuris, war 2016 mit seiner bürgerlichen Gesetzesinitiative „Universeller Schutz des Lebens“ maßgeblich verantwortlich für die massive Einschränkung reproduktiver Rechte in Polen und hat weiterhin enge Verbindungen zu der von 2016 bis 2024 regierenden Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), deutsch Recht und Gerechtigkeit.
Das alle Gruppierungen vereinende Ziel scheint zu sein: Die Göttliche Ordnung in einer Welt herstellen, die durch aufklärerische Menschenrechte in Unordnung gebracht wurde. Untergangsszenarien vor der Drohkulisse der sinkenden Geburtenrate schreien nach radikaler Veränderung – laut „Agenda Europe“ ist das auch dringend notwendig, denn die Zeit ist knapp: „Uns bleibt noch ein schmales Zeitfenster von 10 bis 20 Jahren. Wenn wir dieses Zeitfenster nicht nutzen, kann es gut sein, dass die westliche Zivilisation sich zerstört haben wird, weil sie sich eine perverse Ideologie zu eigen gemacht hat.“ (DNOW, S. 8; zitiert nach Datta 2019, S. 17)
Das Volk stirbt im Mutterleib
In ihrem Kampf gegen die Übel eines liberalen Universalismus trifft die religiöse „Lebensschutz“-/Anti-Choice-Bewegung nicht selten auf die Neue Rechte. Im Herzen beider Gruppierungen steht ein antifeministischer nationalistischer Natalismus, mit dem sie sich in einen globalen Trend des „less of them, but more of us“ (Population Matters, 2021, S. 22) einreihen: Gegen einen „Bevölkerungsaustausch” durch Migration oder einen bevorstehenden „Volkstod“ (Kemper 2024, S. 70ff.), ist eine „Willkommenskultur für Neugeborene“ (Blum 2020) das beste Gegenmittel. Den dafür nötigen Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte gebärender Personen legitimiert, so die polnische Philosophin Ewa Majewska, die Doktrin des „Ausnahmezustands“ nach Carl Schmitt, die besagt: In einer generellen Notlage kann und muss sich der Souverän über Gesetz und Institutionen hinwegsetzen, um das Land zu retten. Im Falle der PiS in Polen ermöglichte beispielsweise ein mit einer parteitreuen Mehrheit an Richter*innen umgebautes Verfassungstribunal den politischen Alleingang.
Entzieht sich die weiße Frau dem Willen des Souveräns, ist die Nation in Gefahr (man* erinnere sich an den Kreißsaal). Zur Zeit des Nationalsozialismus drückte sich dies wie folgt aus: Während weibliche Homosexualität anders als männliche nicht unter Strafe stand, erregten lesbische Frauen durch das Übertreten geschlechtlicher Grenzen Verdacht. „In dem Glauben, dass eine Ethnie Entartung und Sterilität riskierte, wenn ihre Frauen Androgynität oder Männlichkeit zeigten, wetterten die Nazi-Ideologen gegen die ‚Vermännlichung‘ der ‚arischen‘ Frauen.“ (Marhöfer 2016, S. 1176) Die Sorge galt also weniger dem Lesbischsein als der Angst, dass eine vermännlichte Frau keine Kinder kriegen würde. Dass alle nicht-‚arischen‘ Frauen dabei von vornherein aus der Kategorie „Frau“ mit ihren Rechten und (Fortpflanzungs-)Pflichten ausgeschlossen waren, reiht sich ein in eine lange Geschichte des Ungendering, also des Vorgangs, bei dem rassistisch markierten Personen – etwa Schwarzen Personen während der Sklaverei – jegliche Geschlechtlichkeit, Menschlichkeit und Familienzugehörigkeit abgesprochen wurde. In fortbestehender rassistischer Entmenschlichung von Eltern zeigt sich dessen Kontinuität – ihre Familien werden nicht als schützenswert gesehen, ihre Kinder sind staatlich nicht gewollt. Während davon die einen in Deutschland durch das Raster des Wohlfahrtsstaats fallen oder ihre Familien im Asylsystem auseinandergerissen werden, wird gleichzeitig der Tod der anderen durch deutsche Waffen oder an EU-Außengrenzen als Kollateralschaden hingenommen – ethnonationalistische Grenzen unterteilen Leben in ‚grievable‘ (betrauerbar) und ‚ungrievable‘ (nicht-betrauerbar). Für Letztere ist das gegenwärtige Leben bestimmt durch das Wissen „um mich würde nicht getrauert“ (Butler 2012, S. 10), an ihnen verübte Verbrechen bleiben straflos.
Die Zukunft im Schoß der Hetero-Häuslichkeit
Träumen christliche „Tradwives“ im 1950er Jahre-Kleid heute auf Social Media von einem zurück zu den Wurzeln, dann imaginieren auch sie die weiße Ehefrau, die zu Hause den Laden schmeißt und die Moral der zukünftigen Fachkräfte aufrechterhält, während ihr Mann ins Feld zieht und alles weitere aus dem Oval Office regelt. Die Familie als Keimzelle der Nation unterfüttert Anti-Migrations-Rhetorik und soziale Hierarchien mit nativistischen Argumenten: Sie ist ein Spiegel der Nation im Kleinen. Die Hausfrau backt Brot aus selbst geernteten organischen Zutaten? Genauso rein und heimatlich sollte auch die Zusammensetzung der Bevölkerung sein. Hierarchische Beziehungen und ökonomische Abhängigkeit von Menschen, die auch mal Gewalt ausüben? Das muss so sein, kennt man* ja von zu Hause. Falls doch manchmal Zweifel an der Richtigkeit neoliberaler Ungleichheiten aufkommen sollten, keine Sorge: Vererbter Reichtum und Privilegien, so der brasilianische TFP-Gründer Plinio Corrêa de Oliveira, Großgrundbesitzer, sind nichts weniger als heilig: „Und mit Ordnung meinen wir den Frieden von Christus in der Herrschaft Christi, das heißt, die christliche Zivilisation, streng und hierarchisch, grundlegend sakral, anti-egalitär, und anti-liberal“ (Datta 2020, S. 8).
In ihrer Unhinterfragbarkeit ist die Familie das beste bevölkerungspolitische Instrument für das Fortbestehen und die Expansion der nationalen „natürlichen Ordnung“. So wie Eltern ihre Kinder schützen und ihnen Regeln aufzeigen, so, wird suggeriert, schützt uns der Staat, wenn wir uns an ein paar Regeln halten, darunter Naheliegendes wie: „Geschlechtsverkehr ist nicht zum Spaß haben, denn was ganz natürlich dabei entsteht, ist ein Kind“ (Leftvision 2024). Sex ohne Outcome ist in den Augen katholischer Regierungen wie der PiS so gefährlich, dass in dem einzig verbliebenen offiziellen Dokument für Sexualbildung an polnischen Schulen „Preparation for Family Living“ das Wort „Sex” nur zweimal vorkommt – „Familie“ dagegen über 170 Mal (Population Matters, 2021, S. 16).
Die Familie als solche ist eine futuristische Institution, insofern als der familistische Imperativ, sich um hypothetische zukünftige Generationen zu kümmern, nicht zuletzt durch eine Anhäufung von Vermögen, ein stärkeres Argument ist als die Sorge um bereits existierende, nicht verwandte Menschen. Abtreibende und queere Personen widersetzen sich dem „reproduktiven Futurismus“ der fundamentalistischen Familienvorstellung, in dem schon die Gegenwart durch die Figur des Kindes strukturiert wird – das ungeborene Babygesicht, das jedes Jahr die „Märsche für das Leben“ oder „Demos für alle“ anführt, ist darin Ausdruck einer wünschenswerten Zukunft, in der die heteronormative monogame Ehe zwischen Mann und Frau eine neue, aber unveränderte „reine“ Generation nach der anderen schafft (siehe Edelman 2020). Dieser Mission und dem Vatikan zur Treue verpflichtet, stellen sich die jungen Männer der TFP Deutschland auf ihrem „Europäischem Kreuzzug für die Familie“ (zu erkennen an den „majestätischen roten Standarten, auf denen ein goldener Löwe, das Symbol unseres Herrn prangt“ (TFP 2024) – seriously?!) tapfer dem größten Widersacher der göttlichen Schöpfung entgegen: der Gender-Ideologie in Regenbogenflagge.
LGBTotalitarismus und die Rainbow Mafia
„Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib“ (Genesis 1.27), deklariert Sharla, Mutter von Ren, einer High School-Schülerin in Grapevine, Texas. Sie geht dazu über, ihr trans Kind und dessen Geschichte öffentlich auf dem Altar der Evangelikalen zu opfern, deren Wortführer*innen auf Podien stehen und vor versammelter Menge schreien: „My pronouns are bible believer gun carrier jesus warrior and mama bear!“ (NBC News Studios 2022) Aus Angst vor der eigenen Mutter läuft Ren schließlich von zuhause weg und sucht Schutz bei ihrem Vater und seiner neuen Partnerin – und trotzdem: Sharla, die weiße christliche vorstädtische Mutter ist das perfekte Bild, um Mitleid zu erwecken – Mütter wissen schließlich, was das Beste für ihre Kinder ist! Rechtsextreme und christlich-fundamentalistische Gruppen könnten sich kaum ein besseres Aushängeschild für ihre autoritären Projekte wünschen, ein Alibi der Harmlosigkeit.
Als Diskursbeiträge verkaufte Hetzreden (vergebens wartet man* auf den Tag, an dem bürgerliche Medien die Existenz von trans Personen nicht mehr als Frage freier Meinungsäußerung handhaben) geben den besorgten Müttern recht: Nicht ihre Kinder, sondern sie sind zu Emotionalität und Außer-sich-sein berechtigt. Das Transsein ihrer Kinder widerfährt ihnen als fatales Schicksal, nicht zuletzt, weil es die „ganz normalen“ Großmutterträume durchkreuzt. Moralische Panik – die künstlich erzeugte Angst, eine noch so kleine Minderheit bedrohe das Gleichgewicht der gesamten Gesellschaft – macht Gewalt gegen trans Personen „menschlich“ und erzeugt einen neuen Feind: Wir müssen uns vor den Eindringlingen in die cisgender Staatsbürgerschaft schützen! Dazu bedienen sich fundamentalistische Gruppen eines wichtigen Instruments (das Strategiepapier der Agenda Europe nennt es „die Waffen des Feindes nutzen“), der metaphor of inverted fascism (Metapher des umgedrehten Faschismus; Tebaldi 2023, S. 6) – Narrative werden so gebaut, dass diejenigen, die nach Toleranz streben, die wahren Faschist*innen sind, „tolerance is authoritarian intolerance (of racism and homophobia)“ (ebd.). Also: Das T in LGBT steht für Totalitarismus, egal ob sich fünf- oder 50-Jährige dahinter verbergen. Jegliche Form von Gleichstellungspolitik ist diskriminierend gegenüber religiösen Menschen oder verdeckt die Verfolgung von Christen in Europa (Datta 2019, S. 15), und der Wunsch von Schüler*innen mit richtigem Pronomen angesprochen zu werden, kommt einer Gewalttat gegen Lehrer*innen gleich. Die rechtsradikale Tradwife Dissident Mama expliziert das Bild weiter in gewaltvollen queerfeindlichen Bildern: In den Augen von Dissident Mama ist ihr 12 Jahre alter (!) trans Neffe ein „mafioso“ der feindlichen Rainbow Mafia. Andere so akzeptieren zu sollen, wie sie sind, komme „sozialer Vergewaltigung“ gleich und die Infragestellung von Tradition vergleicht sie mit erzwungener „analer Penetration“ (Tebaldi 2023, S. 6, 8).
Im Namen der Elternrechte
Als ein Schweizer Gericht im Juli diesen Jahres den Eltern eines inzwischen 16-jährigen trans Sohnes (vor Gericht durch die christliche Organisation ADF International vertreten) das Sorgerecht entzog, weil diese ihrem „psychisch vulnerablen“ Kind seit dem 13. Lebensjahr Unterstützung bei sozialer sowie medizinischer Transition vorenthielten, kommentierte der führende Silicon-Valley-Pronatalist Elon Musk auf X: „This is insane. This suicidal mind virus is spreading throughout Western Civilization.“ Die Gleichsetzung von Transgeschlechtlichkeit mit einem Virus, der besonders bei jungen Leuten zu „sozialer Ansteckung“ führe, sowie der daraufhin von Anti-Trans-Netzwerken und besorgten Eltern vorgeschobene „Schutz unserer Kinder“ – welcher?! –, führen dazu, dass trans Teenagern im Namen proprietärer Elternrechte abgesprochen wird, über ihre eigene Identität Aussagen zu treffen. Das Bild kindlicher Unschuld rechtfertigt Bevormundung von Kindern durch ihre Eltern hin zur Angstmache vor „Frühsexualisierung“ (Kemper 2024, S. 18). Unschuld ist dabei höchst selektiv: Die einen Kinder sollen vor der Beschmutzung durch andere in Sicherheit gebracht werden. Den anderen Kindern (aka „mafiosos“) dagegen soll jegliche Unterstützung, die ihr Geschlecht anerkennt und der Reduktion von konkretem Leid bis hin zur Suizidprävention dienen könnte, entzogen werden. Turns out: Der von „mama bear“ imaginierte Schutz ihres geliebten Eigentums nimmt es nicht nur in Kauf, sondern zielt darauf ab, tödlich zu enden, im Zweifel auch für das eigene Kind. In den Worten der brillanten Historikerin Jules Gill-Peterson handelt es sich dabei um die genozidale „rationalization of ‚letting die‘ as a form of social hygiene for the nation [Rationalisierung des „Sterbenlassens“ als einer Form nationaler Sozialhygiene]“ (2024, S. 207, Übers. al).
Klassenfrage und Widerstand
Der Angriff auf reproduktive und sexuelle Rechte steht im Zentrum jeder faschistischen Bewegung, jede noch so liberale Regierung spricht aktuell ohne Problembewusstsein laut darüber, die Geburtenrate zu steigern und trotzdem wird der Schutz dieser Rechte nicht als zentrales Element jeder Demokratie besprochen, sondern maximal als „frauenpolitische“ Identitätspolitik. Warum? Die Gleichzeitigkeit der Unterdrückung von Frauen, trans Personen sowie prekarisierten und rassifizierten Menschen in diesem Kontext ist kein Zufall. In der marxistisch-feministischen Analyse sind sie alle Objekte von Feminisierung, das heißt – völlig unabhängig von essentialistischen Geschlechtsvorstellungen – sie sind überdurchschnittlich betroffen von der materiellen Abwertung reproduktiver Arbeit, wie der Pflege von Kindern und Angehörigen, aber auch Gebären an sich. Diese Abwertung, die auch in der Verschiebung reproduktiver Tätigkeiten in den ökonomisch unregulierten privaten Bereich besteht, übersetzt sich wiederum in gewaltvolle soziale und sexuelle Unterdrückung, und ist integraler Bestandteil jedes kapitalistischen Systems. Männlichkeit als soziale Kategorie entspricht dem dominanten Gegenstück; sie ist keine Sammlung an Eigenschaften, sondern eine auf der Ausbeutung reproduktiver Arbeit basierende Herrschaftsform, deren ultimativer Ausdruck darin liegt, über feminisierte Körper als nationale Ressourcen zu verfügen und staatlich gewollte von ungewollten Kindern zu unterscheiden.
Um die männliche Herrschaft zu brechen, muss die materielle Privilegierung verschiedener Werte über andere, zum Beispiel von Dominanz über Fürsorge, bekämpft werden. Ansonsten gilt: Je mehr ein Wohlfahrtsstaat von Jahren neoliberaler Politik ausgehöhlt ist, desto mehr bietet er Angriffsfläche für staatlich organisierten religiösen Pronatalismus. Das Einfallstor für die pronatalistische Agenda der PiS-Regierung in Polen und letztlich den Abbau sexueller und reproduktiver Rechte war das von ihnen durchgesetzte außerordentlich großzügige Kindergeld „Familie 500+“, das die Unterstützung der Bevölkerung sicherte und von Anfang an als „revolutionäres sozial-demographisches Projekt“ angekündigt war – auf dem Weg zum christlich-katholischen „polnischen Wohlfahrtsstaat“ (Walker 2020). Abtreibung und Kinderkriegen sind Klassenfragen, weder das eine noch das andere darf von finanziellen oder sozialen Zwängen abhängen – mit liberalem Choice-Feminismus kommt man* da nicht weit, es würde hingegen nicht schaden, sich an den Feminismus-Fantasien des Feindes zu orientieren. In ihrem Video „Yes all Feminists“ argumentiert die rechte Tradwife Lacey Lynn in einem Rant über die Ursprünge des Feminismus: „Die rechtliche Anerkennung der Frau fiel zusammen mit der Veröffentlichung des kommunistischen Manifests (Marx 1848) und war daher eine elitäre kulturmarxistische Verschwörung zur Zerstörung der Familie und der weißen Gemeinschaft.“ (Tebaldi 2023, S. 7) Wäre ein Anfang.
zusätzlich verwendete Quellen
Blum, Rebekka (2020): Geschlechterrolle rückwärts. Zum Antifeminismus bei der AfD in Baden-Württemberg. Gunda-Werner-Institut. Online hier.
Butler, Judith (2012): „Can one lead a good life in a bad life? Adorno Prize Lecture.” Radical philosophy, #176.
Datta, Neil (2019): „Die „Agenda Europe“ Strategien und Ziele eines Netzwerks gegen sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte in Europa“, profamilia.
Datta, Neil (2020): Modern-day Crusaders in Europe. Tradition, Family and Property: Analysis of a Transnational, Ultra-conservative, Catholic-inspired Influence Network. In: European Parliamentary Forum on Population and Development (EPF). European Parliamentary Forum on Population and Development (EPF).
Edelman, Lee (2020): No Future: Queer Theory and the Death Drive. Duke University Press, Durham/NC.
Fundis LOL (2024): Neues Zine der Antisexistischen Aktion München. Antisexistische Aktion München. Online hier.
Gill-Peterson (2024): Caring for trans kids, transnationally, or, against “gender-critical” moms. In Emma Heaney (Ed.): Feminism Against Cisness. Duke University Press, Durham/NC.
NBC News Studios (2022): Grapevine Podcast. NBC News. Online hier.
Kemper, Andreas (2024): Antifeministische Narrative. Ein Diskursatlas. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.
Leftvision (23.9.2024): „What the…? Fundis in Berlin.“ Online hier.
Majewska, Ewa (2021): Feminist Antifascism. Counterpublics of the Common. Verso, London.
Marhöfer, Laurie (2016): Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State: A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939-1943. The American Historical Review, 121, no 4, 1167-1195.
Population Matters (2021): Welcome to Gilead Report. Pronatalism and the Thread to Reproductive Rights. Population Matters. Online hier.
Sanders, Eike; Jentsch, Ulli; Hansen, Felix (2014): „Deutschland treibt sich ab“. Organisierter „Lebensschutz“, christlicher Fundamentalismus, Antifeminismus. Münster, Unrast-Verlag.
Surana, Kavitha (2024a): Abortion Bans Have Delayed Emergency Medical Care. In Georgia, Experts Say This Mother’s Death Was Preventable. ProPublica. Online hier.
Surana, Kavitha (2024b): Some Republicans Were Willing to Compromise on Abortion Ban Exceptions. Activists Made Sure They Didn’t. ProPublica. hier.
Tebaldi, C. (2023). Tradwives and truth warriors: Gender and nationalism in US white nationalist women's blogs. In: Gender & Language, #17(1).
TFP (2024): Aktivitäten.
Walker, S.: „Baby machines“: Eastern Europe’s answer to depopulation. The Guardian, 4. März 2020. Online hier.