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Vom Ende erzählen: Dystopien in der Gegenwartsliteratur Ausgabe Nr. 52, 09. Juli 2019

Vom Ende erzählen: Dystopien in der Gegenwartsliteratur © Oscar Keys

Das Internet wurde vor Jahrzehnten abgeschaltet, Beziehungen werden von Algorithmen berechnet, Frauen dürfen nur noch 100 Wörter pro Tag sprechen, Japan hat sich aus der Weltpolitik verabschiedet und nach dem Brexit ist Großbritannien ein postdemokratischer Überwachungsstaat. Natur existiert nur noch als Schwundstufe, Europa ist tot und Demokratie eine blasse Fußnote in den Geschichtsbüchern. Das ist das Ende. Zumindest in der Gegenwartsliteratur.

Dystopische Romane haben auf dem aktuellen Buchmarkt Konjunktur. Sie zeigen, wie prägend ein apokalyptisches Denken und das Gefühl, am Rande der großen Katastrophe zu stehen, geworden sind. Interessant sind sie aber aus anderen Gründen. Die zeitgenössischen Dystopien entwerfen Untergangsszenarien in einer nicht allzu fernen Zukunft, die zugleich sehr viel mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Das seismographische Gespür, das Literatur immer wieder unterstellt wird, kommt in Dystopien besonders konsequent zum Tragen. Die nicht allzu ferne Zukunft des literarischen Textes ist zugleich ein Spiegel der Gegenwart. Auf fiktionale Weise werden Tendenzen auserzählt, die schon heute akut sind: Sie reichen von nationalen Abschottungsbestrebungen über Populismus, Sexismus und Rassismus bis hin zu biopolitischer Totalkontrolle und den Verheerungen durch die Klimakatastrophe.

Dystopien sind Anti-Utopien. Damit sind sie aber nicht einfach das Gegenteil von Utopien, also den fiktionalen Entwürfen idealer Gesellschaften, sondern vielmehr ihre kritische Ergänzung. Sie sind die Bewährungsprobe der utopischen Verheißungen von Globalisierung, Kapitalisierung und Technisierung und das schlechte Gewissen des Fortschrittsoptimismus, dessen Schlagschatten sie erhellen. Das gilt für Texte bekannter Autoren wie George Orwell, Aldous Huxley und David Foster Wallace ebenso wie für die feministischen Dystopien Margaret Atwoods oder die afrofuturistischen Romane von George Schuyler und Octavia Butler. In dieser kritischen Reflexion liegt die politische Brisanz dystopischer Texte. Sie gewinnen genau dann an Bedeutung, wenn utopische Ideale brüchig oder fragwürdig werden.

Zugleich lassen sich gegen Dystopien einige Vorbehalte äußern. Der erste ist, dass sie Katastrophe als Unterhaltung verfügbar machen – und zwar als eine besonders lukrative und nicht selten als eine ziemlich seichte, wovon sich jede_r überzeugen kann, der „Dystopie“ in die Amazon-Suchleiste eintippt. Das Spektrum reicht von Hollywood-Blockbustern wie den „Hunger Games“ über das „Walking Dead Koch-und Überlebenshandbuch“ bis hin zu diversen Bestsellern, aus deren vollmundigen Titeln Verhängnisvolles raunt. Der Markt ist voll von Untergangsszenarien, die bekannte Plot-Muster (Gut gegen Böse, David gegen Goliath) und Schmonzetten-Strukturen (die unvermeidliche, überwiegend heteronormative Liebesgeschichte) mit ein bisschen Weltuntergangsschauder garnieren.

Der andere Vorbehalt resultiert aus der eigentümlichen Zeitstruktur der dystopischen Fiktion. Sie verlängert unsere Gegenwart in eine ausweglose Zukunft, entwirft die denkbar schlechteste aller möglichen Welten und stellt den geschichtlichen Prozess auf Null. Verträgt sich das mit aktivistischem Potenzial? Und überdeckt das nicht die katastrophalen Lebenswelten, die für viele Menschen schon jetzt Realität sind?

Wohl nur dann, wenn man dystopische Texte eben nicht als alternativlos liest, sondern als ein Katastrophendenken im Konjunktiv begreift: Es könnte so kommen – es muss aber nicht. Und auch nur dann, wenn man dystopische Texte nicht als unterhaltsame Ablenkung von der Gegenwart, sondern als ihre kritische Kommentierung liest.

Diese Ambivalenz spiegelt unsere aktuelle Ausgabe wider. Wir nähern uns dem gegenwärtigen Boom an Endzeitfiktionen in der Literatur von zwei Seiten: einmal mit Rezensionen aktueller dystopischer Romane und einmal mit kritischen Auseinandersetzungen mit dem gegenwärtigen dystopischen Denken in Essay und Interview.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

In der Herbstausgabe #53 bleiben wir bei literarischen Texten und wenden uns einem besonderen Jubiläum zu: 70 Jahre DDR, 30 Jahre Mauerfall und, ein paar Monate später, 30 Jahre offizieller Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland. Wir widmen uns literarischen Innenansichten der DDR und fragen: Was können Linke, was kann ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts lernen aus der DDR, aus den Siegen und Erfolgen, aus den Niederlagen und dem Scheitern?

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