Düstere Aussichten
- Buchautor_innen
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- Buchtitel
- Spiegel
Ein Science-Fiction-Roman, der von Turbotechnik und totaler Transparenz erzählt und dabei dem gegenwärtigen China den „Spiegel“ vorhält.
Die chinesische Gegenwartsliteratur tauge nichts, behauptete Wolfgang Kubin 2006 und 2007. Der bekannte Sinologe, Übersetzer und Schriftsteller beklagte neben einigen anderen Dingen vor allem einen erschreckenden Mangel an Ernsthaftigkeit. Verantwortlich machte Kubin die zunehmende Kapitalisierung der chinesischen Gesellschaft seit den 1990er Jahren und die Kommerzialisierung des Literaturmarktes.
Im deutschen Feuilleton waren Kubins Ausfälle gegen die als „Müll“ bezeichneten Romane einiger damals populärer, zum Teil international gefeierter chinesischer Gegenwartsautor_innen wie Zhou Wei Hui („Shanghai Baby“, 1999), Mian Mian („Candy“, 2000) und Jiang Rong („Wolfstotem“, 2004) nur eine Randnotiz. In der chinesischen Literaturszene hingegen hat die so genannte Kubin-Debatte laut der Journalistin Erning Zhu zu einer offenen und selbstkritischen Kontroverse geführt und damit nicht zuletzt die „sich neu herausbildende chinesische Öffentlichkeit beflügelt“ (Zhu 2008).
Und heute? Rund zehn Jahre nach Kubins Tirade hat die chinesische Literatur einen neuen Exportschlager und internationalen Superstar: Cixin Liu. Der ausgebildete Computertechniker und Kraftwerksingenieur ist ein Vertreter der so genannten Hard-Science-Fiction und kann so unterschiedliche Leute wie Denis Scheck, Dietmar Dath, Mark Zuckerberg und Barack Obama zu seinen Fans zählen. Seine Romane, die seit 2014 ins Englische und seit 2016 ins Deutsche übersetzt werden, sind Weltbestseller. Insbesondere die so genannte „Trisolaris“-Trilogie löst derzeit regelrechte Begeisterungsstürme in der internationalen Presse aus. Sie handelt von einer bevorstehenden außerirdischen Invasion und verquickt dabei auf über 2.000 Seiten verschiedene Zeiten, Räume, Stimmen und Dimensionen – ein literarischer Koloss, der sich allein in China fast 10 Millionen Mal verkauft hat und an dem sich Amazon bereits für eine Milliarde Dollar die Filmrechte gesichert hat.
Wem für Cixin Lius wuchtiges Alien-Epos die Geduld oder schlicht das Sitzfleisch fehlt, der kann sich mit „Spiegel“ (chin. 2004, dt. 2017) an das Werk des 1963 geborenen Autors herantasten und auf bescheidenen 100 Seiten einen ersten Eindruck bekommen. Und der ist: durchwachsen.
Spiegelsimulationen
Dabei ist die Idee ziemlich gut. Cixin Lius Mini-Roman, der eigentlich eher eine Erzählung ist und dessen deutsche Übersetzung mit einem anregenden Nachwort von Sebastian Pirling versehen ist, spielt in einem China in der nicht allzu fernen Zukunft. Erzählt wird die Geschichte des jungen aufrechten Beamten Song Cheng, der einen umfassenden Korruptionsskandal aufdeckt und dafür aus dem Verkehr gezogen wird. Unter unwürdigsten Bedingungen harrt er im Gefängnis der Dinge; mit seinem Leben hat er bereits abgeschlossen: „Selbst wenn er mit Glück der Todesstrafe entgehen sollte – seine geistige Hinrichtung war schon vollstreckt worden. Er war seelisch tot.“ (S. 18) Doch plötzlich taucht ein rätselhafter Mann namens Bai Bing bei ihm auf, der ebenfalls verfolgt wird und über eine ebenso faszinierende wie verstörende Fähigkeit verfügt: Er sieht und weiß alles. Das liegt an einer Hochleistungsrechenmaschine, die der Entwickler und Spezialist für Simulationssoftware erfunden hat. Sein „Superstringcomputer“, erklärt Bai Bing, verfügt „über eine fast grenzenlose Kapazität, das heißt, er kann den Zustand jedes Elementarteilchens im uns bekannten Universum speichern und berechnen.“ (S. 44) Das Verfahren, die so genannte „Spiegelsimulation“, ist eine „mathematische Spiegelung“ der Realität: eine Art wissenschaftlich fundierte Kaffeesatzleserei, die „den Schleier der Quantenmechanik lüften“ und „mit hundertprozentiger Exaktheit das makroskopische Verhalten ihres Objekts“ (S. 45) abbilden kann. Mit anderen Worten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden simulier- und berechenbar. Bai Bing weiß daher nicht nur, dass Song Cheng auf ganz miese Weise von seinem Vorgesetzten, dem ominösen „Kommandanten“, gelinkt worden ist, sondern auch, was dieser konsequent namenlos bleibende Kommandant und seine Schergen just in diesem Moment vorhaben und wie er sie unter Druck setzen kann.
Tradierte Plotmuster werden von Cixin Liu ebenso aktualisiert wie pulverisiert. Die typische David-gegen-Goliath-Konstellation wird in „Spiegel“ nachgerade umgedreht, insofern es plötzlich der „kleine Mann“ ist, der zum „Big Brother“ wird. Auch die Grenzen zwischen „Gut“ und „Böse“ werden im Verlauf des Romans deutlich verunsichert, wobei sich besonders der Wissenschaftler Bai Bing sowie der undurchsichtige Kommandant als interessante Figuren erweisen.
Kurzweilig langweilig
Das klingt spannend, liest sich aber leider nicht durchweg so. Denn was auf der Ebene des Inhalts originell ist und als Idee überzeugt, wird in formaler Hinsicht überraschend einfallslos heruntererzählt. Relevante Elemente der Geschichte werden über weite Teile nicht als Handlung entfaltet oder ausgeführt, sondern per Figurenrede gleichsam nachgeliefert. Das betrifft vor allem den Beginn des Textes, der mitunter eher wie eine Aufzählung denn wie eine Erzählung wirkt und die gesamte Vorgeschichte – Korruption, Konflikt, Intrige – in Bai Bings Bericht auslagert. Dass das vermutlich Teil des Konzeptes ist, insofern die Ausführungen zugleich die Allwissenheit der Supermaschine demonstrieren, macht Bai Bings langatmige Ausführungen nicht weniger, nun ja, langatmig. Der Effekt ist paradox: Denn ein Text, in dem eigentlich viel passiert, erzeugt so bei der Lektüre zunächst den Eindruck, merkwürdig handlungsarm zu sein.
Nach dem etwas schleppenden Einstieg nimmt „Spiegel“ aber an Fahrt auf und steuert auf ein Finale zu, das – so viel sei verraten – einige überraschende Wendungen parat hält und nicht gerade hoffnungsvoll stimmt. Genau hier liegt wiederum die große Stärke des kleinen Buches. Denn wie jede gute Dystopie erschöpft sich auch Cixin Lius düstere Technikvision nicht in literarischer Selbstgenügsamkeit, sondern verbindet Fantastisches und Realistisches und nutzt das Mittel der Science-Fiction, um auf ganz lebensweltliche Problemkonstellationen hinzuweisen.
Cixin Liu erzählt von politischer Kontrolle und männlichen Allmachtfantasien, von Technikfetischismus, totaler Transparenz und dem Willen zum Wissen. Deshalb ist „Spiegel“ letztlich ein unbequemer Text, dessen Titel man programmatisch verstehen darf. Cixin Lius Roman entfaltet eine Zukunftsvision, die zugleich viel über unsere Gegenwart aussagt. Dass Cixin Liu damit auch (und vor allem) im eigenen Land überaus erfolgreich ist („Spiegel“ wurde 2004 mit Chinas wichtigstem Science-Fiction-Preis, dem renommierten Galaxy-Award, ausgezeichnet), kann man für sich sprechen und einfach mal so stehen lassen. Festzuhalten ist, dass man ihm – um zum Abschluss noch einmal auf Wolfgang Kubin zurückzukommen – eines sicher nicht vorwerfen kann: mangelnde Ernsthaftigkeit.
Zusätzlich verwendete Literatur
Erning Zhu: Selbstkritische Literatur-Debatte. Eine aufschlussreiche Erfahrung. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4 (2008), S. 49–51. Online hier.
Spiegel. Übersetzt von: Marc Hermann.
Wilhelm Heyne Verlag, München.
ISBN: 978-3-453-31912-7.
192 Seiten. 9,99 Euro.