Im Fegefeuer der Konsumgeilheiten
- Buchautor_innen
- Markus Metz, Georg Seeßlen
- Buchtitel
- Kapitalistischer (Sur)realismus
- Buchuntertitel
- Neoliberalismus als Ästhetik
Niemand beschreibt die Hölle spätkapitalistischen Retro- und Individualkonsums besser als Metz und Seeßlen. Schade nur, dass sie keinen Ausweg aus ihr finden.
Stellt euch vor, Menschen im 21. Jahrhundert kaufen recyclete Plastiktütenkleider („Trashion“) und Pullis von ehemaligen Nazi-Labels, sie hören ABBA, suchen Vintage-Schnäppchen auf eBay, Gartenartikel, DVDs und Eventgadgets (Deutschlandfahnen) im 1€-Laden, sie sammeln auf Flohmärkten „Dinge, die die Spuren ihres Gebrauchs tragen, eine Geschichte, ein Leben“ (S. 275); Sie verzögern überteuerte Großbauprojekte, suchen ihre Sinnlichkeit bei Hornbach, verbinden Nationalismus mit Fairtrade, kochen im Thermomix, bilden sich durch Sneaker und ihre eigene Röstkaffeemischung Lebenswelten, berichten davon in Shopping-Hauls auf YouTube, machen Urlaub auf Kreuzfahrtschiffen, die mit den Looney Tunes besprüht sind; Sie schielen auf Proll-Ästhetik und Porsche, verbinden Luxus mit Askese, betreiben Distinktion durch Konsum, sie finden Geiz geil, sie glauben nicht an den ehrlichen Karriereaufstieg, sondern an den dreisten Coup, sie verkaufen Gastfreundschaft bei Airbnb und Uber, sie verhöhnen Verlierer in Castingshows, sie machen Demokratie zur fragmentarischen Nachricht, begegnen Hysterisierung und Gewöhnung „beinahe schon in Echtzeit“ (S. 165); sie wählen Trump, sie sind abgeklärt, sie leben die Widersprüche aus und verbinden jedes Zeichen mit jedem anderen.
Die aktuellen Kulturprodukte und ihre Ästhetik, so Markus Metz und Georg Seeßlen, sind die weithin sichtbare nihilistische Phase des Spätkapitalismus.
„So sieht es wohl aus: Der Neoliberalismus, der als ‚Heilslehre‘ des Kapitalismus begann, als große Erzählung von Erfolg, Glück und Frieden, hat, als er sich vielleicht radikaler verwirklichte als ursprünglich gedacht, alle seine Versprechungen gebrochen und die meisten von ihnen in ihr exaktes Gegenteil verkehrt. Aus der Utopie eines freien Marktes, der wirklich alles regelt, der der Menschheit [...] immerwährenden Fortschritt bringt, wurde ein apokalyptisches Desaster, in dem das Weitermachen sich nicht mehr durch Hoffnungen, sondern nur noch durch Ängste erklärt. [...] Aber dieser Neoliberalismus, der keine Zukunft mehr verspricht, sondern totale Gegenwart erzeugt, ist [...] so sehr mit Mythos, Lust und Ästhetik aufgeladen, dass er sich ‚ernsthafter‘ Kritik widersetzt. Eben dies ist der Augenblick, da der kapitalistische Realismus durch den kapitalistischen Surrealismus ersetzt wird“ (S. 54f.).
Der Schwindel des Spätkapitalismus
Um den Spätkapitalismus ins Bild zu setzen, ziehen Metz und Seeßlen so ziemlich alle Register der kulturkritischen Beschreibung. Schlag auf Schlag, von Seite zu Seite verbinden sie die unmöglichsten Zeichen und Phänomene. Sie betrachten Logos, Marken und politische Nachrichten als Events, die in Endlichkeit, Ent-Politisierung, Fetischisierung und Apokalypse untergehen, um nichts als „Müll und Ruine“ (S. 113) zu hinterlassen. Sie erkennen die ästhetische Angleichung der ökonomischen Upper-Class mit dem Prekariat in den TV-Shows der Geissens und Daniela Katzenbergers. Sie hinterfragen die Abkehr vom Anhäufen hin zum Tauschen und Teilen in der Sharing Economy. Sie deuten Konsument*innen in ihrem karrierebesorgten Wesen, in ihrer Kunden- und ihrer Klassenidentität als dreifach gebrochene Subjekte. Die Assoziations- und Verknüpfungsfähigkeit der Autoren ist schwindelerregend.
In der Figur des kapitalistischen Surrealisten bündelt das Buch dann alle kultursoziologischen Stränge. Dabei verbinden Metz und Seeßlen die fatalistische Hyperrealität Jean Baudrillards mit Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“, weiter mit Mark Fishers „Kapitalistischem Realismus“ (kritisch-lesen.de #44) und mit dem von Andreas Reckwitz’ erkannten Imperativ zum kreativen Subjekt. Eigentlich sind die Aussagen darüber, dass der Kapitalismus sich über die Kreativität „noch stets seine Antipoden, seine kulturellen Abfallprodukte, seine Kritiker zurück ins Boot [holt]“ (S. 75), nichts Besonderes. Doch die Gesamtdiagnose über die zynische Denkweise im Neoliberalismus ist selten so pointiert aufgeschrieben worden:
„Die Erzählweise des kapitalistischen Surrealismus ist ‚noir‘. Sie handelt, wie der Hardboiled-Krimi oder der Film noir, von autonomen, sarkastischen und verletzten Menschen in einer unrettbaren Welt, in einer Welt, die, genauer gesagt, nur die Hölle sein kann. Das ist auch dem individuellen Vertreter des kapitalistischen Surrealismus vollkommen klar: dass er sich nicht in einem Paradies, nicht einmal im Jammertal einer weltlichen Realität (der aufgeschobenen Belohnung), sondern ganz direkt und buchstäblich in der Hölle befindet. Und wenn der Kapitalismus nicht die Natur, sondern die Hölle ist, werden Opposition und Alternative nicht weniger obsolet. Die Anzahl jener, die sich aus der Hölle befreit haben, ist sehr, sehr begrenzt. Das Höllen-Bild für den Kapitalismus ist mithin beinahe noch zwingender als das ‚Natur‘-Bild. Wenn wir alle in der Hölle sind, ist es nicht verkehrt, mit den Teufeln zu paktieren“ (S. 99).
Wo geht’s hier eigentlich raus?
Anhand dieses Höllen-Bildes erkennt man, warum die Lektüre ernüchtern muss. „Bis auf Weiteres“, dem bezeichnend orientierungslosen letzten Satz des Buchs, kommt es nicht über die brillante Zustandsbeschreibung hinaus (überhaupt hat man das Gefühl, die Autoren würden gerne noch viel mehr Artefakte aufzählen, müssten sie nicht fürchten, das bereits Aufgezählte wäre bis zur Buchveröffentlichung schon wieder outdated und nicht mehr der Rede wert). Indem sie allein die Fatalität und Ausweglosigkeit kultureller Subversion beschreiben, bleibt ihre Argumentation dem Blick des stets maskulin beschriebenen kapitalistischen Surrealisten verhaftet: Seine Höllen-Ideologie verkehrt sich zur gesellschaftstheoretischen Tatsache. Dabei müssten Metz und Seeßlen erkennen, dass ihre Figur selten ein wahrhaftig umherwandelnder Typ ist. Vom Hipster sagen sie explizit: „So leicht der Typus sich beschreiben (und hassen) lässt, so schwer ist es, einen konkreten Hipster zu nennen, der alle die ihm zugeschriebenen Eigenschaften bzw. das Fehlen von Eigenschaften auch wirklich aufweist“ (S. 251). Kein Wunder, dass die passendsten Beispiele für kapitalistische Surrealisten aus der Popkultur kommen: Neben Donald Trump immer wieder American Psycho, Gordon Gekko aus Wall Street, Heath Ledgers „Some people just want to watch the world burn“-Joker. Ob Trump oder Filmantagonist: es gibt ein Außen, selbst wenn es sich erst bilden muss. Um es mit Madame Gandhi zu sagen: The Future is Female.
Das Gespann Markus Metz/Georg Seeßlen sind Deutschlands beste Mythologen. Genau deshalb bleiben beide an die kapitalistische Hölle gekettet. „Der Mythologe“, wie Roland Barthes festhält, „ist dazu verurteilt, eine rein theoretische Gemeinsamkeit zu leben. […] Sein Verhältnis zur Welt ist sarkastisch“ (Barthes 1964: S. 149). Die Mythologen haben die Welt bisher unheimlich geil interpretiert, aber ach, es kömmt drauf an, sie… Ihr wisst schon. Nur wie, diese Frage kann das Buch nicht einmal stellen.
Zusätzlich verwendete Literatur
Roland Barthes (1964): Mythen des Alltags. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main.
Kapitalistischer (Sur)realismus. Neoliberalismus als Ästhetik.
Bertz + Fischer, Berlin.
300 Seiten. 18,00 Euro.