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Politische Gefühle Ausgabe Nr. 71, 09. April 2024

Politische Gefühle

Wir leben in anstrengenden Zeiten. Die Welt brennt – Krieg in Nahost, im Sudan, in der Ukraine; Menschenrechtsverletzungen, wohin man blickt. Und weltweit stärken autoritäre, faschistoide, ultralibertäre, menschenfeindliche Arschlöcher ihre Einflusssphären. In ihrem Populismus nutzen sie die Macht der Emotionen, um Menschen hinter sich zu versammeln. Sei es die Angst vor dem Terror oder die Angst vor dem Fremden, vor der Staatenkonkurrenz oder vor dem globalen Kollaps – Angst ist eine der stärksten Emotionen, mit denen sich reaktionäre und repressive Politik machen lässt. Es wird viel über Wutbürger, über Gefühle von rechts gesprochen, die AfD und andere Reaktionäre wollen die „Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen“. Und natürlich sind Gefühle gut fürs Geschäft: (Auf)Rüstung, Sicherheitstechnologien, Big Data – weit weniger würde sich davon verkaufen lassen, trügen nicht alle ständig so viel Angst und Sorge mit sich herum. Die Produktion von Gefühlen läuft ebenso auf Hochtouren wie die der Mittel dagegen.

Wir sehen natürlich einerseits, dass alle möglichen Gefühle in sind – wie es auch an der Konjunktur der feel good/selfcare/Achtsamkeits-Appelle und dazu passender Produktpalette zu beobachten ist. Andererseits ist das Social Engineering über Gefühle und, noch viel unmittelbarer, über Affekte ein immer wirksameres politisches Mittel geworden – Stichwort feministische Außenpolitik oder die erwähnten rechten Einflussnahmen.

Das Interessante daran ist, dass bestimmte Gefühle sich automatisch einstellen, sobald sie angetriggert werden – als würden einzelne Signalworte ausreichen, um eine politische Haltung herzustellen. Über die eigene Haltung wird weniger nachgedacht, das Gefühl oder der Affekt, werden direkt in eine ideologische Übersetzung gelenkt. So ist der Manipulation von Gefühlen Tür und Tor geöffnet. Das sehen wir beispielsweise an der Art emotionalisierter Berichterstattung, die Gefühle lenkt und gewaltvolle, autoritäre Reaktionen normalisiert. Man könnte davon ausgehend meinen, rechte Politik und (präkognitive) Affekte sind das Paar der Stunde. Aber auch Linke sind davon nicht frei. Was machen wir also mit unseren Gefühlen, und den Gefühlen der Menschen um uns herum?

Was uns bleibt, ist einen Umgang damit zu finden. Linke Forderungen danach, Emotionen und Affekten Raum in der politischen Arena zu geben, sind ja nicht neu: Sie sind seit Jahrzehnten ein Moment der feministischen Bewegungen, auch, weil sie gegen die Vorstellung gerichtet sind, es gäbe eine „neutrale“ Politik jenseits von Gefühlen, eine wirkliche Trennung von Ratio und Emotionen. Nur bei den Gefühlen darf es natürlich nicht bleiben, sie müssen stets zu emanzipatorischen politischen Forderungen führen. Ähnliche Ansätze sehen wir auch in antirassistischen Kämpfen, etwa in der Arbeit von Selbstorganisationen wie der Initiative 19. Februar. Sie weisen auf die Existenzberechtigung, ja mehr noch, auf das untrennbare Vorhandensein von Gefühlen in der politischen Arbeit hin und verstehen diese ausdrücklich als Motor für emanzipatorische Kämpfe. Sie anzuerkennen, kann Grundlagen von Organisierung schaffen: Es intensiviert solidarische Strukturen, ermöglicht Rückzug und Verantwortung für Sorgearbeit und schweißt Kollektive zusammen. Politisch verstandene Emotionen sind ein Gegenmittel zu neoliberal auf die Spitze getriebener Individualisierung, Aufmerksamkeitsökonomie und Interessenspolitik.

Diese Ausgabe wirft zahlreiche Schlaglichter auf umkämpfte Gefühle. Zwischen nicht dermaßen regiert werden und der Anerkennung politischer oder politisierbarer Gefühle schauen wir in menschliche Abgründe und loten emanzipative Potentiale aus. Zwischen individualistischem Trend und einer Rückeroberung der Gefühlswelten stecken so einige Widersprüche, die es sich anzuschauen lohnt!

Einem persönlichen und durchaus auch politischen Gefühl möchten wir an dieser Stelle nochmal Raum geben: der Trauer. Wir trauern um unseren langjährigen Genossen Biplab Basu, der sehr überraschend gestorben ist. Unsere Wege haben sich an mehreren Stellen gekreuzt, er schrieb Rezensionen für uns und war bei unserem ersten Polizei-Schwerpunkt ein wichtiger Stichwortgeber. In der politischen Zusammenarbeit und vor allem als Freund wird Biplab uns sehr fehlen!

In der Ausgabe #72 im Juli 2024 wird es um die große Welt des Gaming gehen.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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