Kalter Krieg auf der Couch
- Buchautor_innen
- Dagmar Herzog
- Buchtitel
- Cold War Freud
- Buchuntertitel
- Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen
Die Wissenschaft des Unbewussten war stets politisch, auch dort, wo sie sich als unpolitisch entwarf.
Regelmäßig zirkulieren Meldungen, nach denen noch die letzten psychoanalytisch orientierten Lehrstühle im Bereich klinischer Psychiatrie geschliffen werden sollen. Die Psychoanalyse verschwände damit weitgehend aus dem Psychologiestudium, obwohl es sich bei ihr um eine von den Krankenkassen anerkannte Therapieform handelt. Medikalisierung und Verhaltenstherapie haben ihr ohnehin längst den Rang abgelaufen. Na und?, ließe sich einwenden. Jede_r kennt das Klischee des Analytikers, der noch in der alltäglichsten Fantasie, die ihm seine privilegierten Analysand_innen dreimal die Woche gestehen, ausschließlich Penisse erblickt: Phallussymbole, wohin das Auge reicht. In ihrer Studie „Cold War Freud“ zeigt die New Yorker Historikerin Dagmar Herzog, dass in diesem Klischee ein wahrer Kern steckt. Der hat aber nicht so viel mit dem 1939 in London verstorbenen Begründer der Wissenschaft vom Unbewussten Sigmund Freud und dessen oft widersprüchlichen Ansichten zu Sexualität und Geschlecht zu tun. Vielmehr geht das vorherrschende Bild zurück auf die äußerst konservative Form, die amerikanische Psychoanalytiker_innen der Analyse in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gegeben haben. Sie standen im Zenit ihres Ruhms und dominierten auch international die Wahrnehmung. Doch zugleich entspricht dieses Bild nicht einmal der halben Wahrheit. Um die Geschichte der Psychoanalyse im Kalten Krieg zu schreiben, geht Herzog deshalb in zwei Schritten vor.
Im ersten Teil des Buchs, das Aaron Lahl in flüssiges Deutsch übersetzt hat, legt Herzog sich die Geschichte der amerikanischen Psychoanalyse erneut vor: Wie kam es dazu, dass sich Analytiker_innen genau zum Zeitpunkt ihres größten öffentlichen Ansehens eine derart strenge Beschränkung auf das innerpsychische Geschehen auferlegt hatten, dass es einer Verbannung der Welt aus dem Sitzungszimmer gleichkam? Psychische Störungen sollten alleine durch die Annahme universeller Triebdynamiken und den Blick auf die frühkindliche Entwicklung erklärt werden, während die Gegenwart der Patient_innen – und das heißt: Politik, Gesellschaft, Kultur – außen vor blieb. In der zweiten Hälfte des Buchs wendet sich Herzog dagegen Analytiker_innen außerhalb der USA, in Westdeutschland, der Schweiz und Frankreich zu. Diese erprobten insbesondere gegen Ende des Kalten Kriegs neue Konzepte und Behandlungsweisen und kombinierten dafür miteinander verfeindete Ansätze. Sie waren zudem intensiv in die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, in Dekolonisierungsprozesse oder den Kampf gegen Homophobie involviert. Kurz: Diesen Analytiker_innen war gerade das Verhältnis zwischen Psyche und Gesellschaft zentrales Thema. Ihr Beitrag zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse verschwand aber im Zuge der heftigen Auseinandersetzungen zunehmend hinter dem einprägsamen Zerrbild, dass die amerikanische Psychoanalyse inspiriert hatte. Als ein durchlaufendes Grundmotiv der Kalte-Krieg-Geschichte der Psychoanalyse identifiziert Herzog dabei das schwierige Verhältnis zum Erbe Freuds, das von eifersüchtiger Bewahrung bis zur polemischen Ablehnung reicht.
Sind Glaube und Psychoanalyse vereinbar?
Die Forschungslücke, welche „Cold War Freud“ schließt, formuliert Herzog so:
„Der profunde Einfluss historischer Bedingungen – im komplexen Zusammenspiel mit dem hartnäckigen Streben der Psychoanalytiker:innen nach anhaltender kultureller Relevanz – auf den konzeptionellen Inhalt der psychoanalytischen Theorie ist bis heute noch nicht ausreichend eruiert und verstanden.“ (S. 71)
Schon die ersten zwei Kapitel verdeutlichen Herzogs Fähigkeit, mit überraschenden Schwerpunktsetzungen die Gesamtperspektive zu verschieben. Neben dem konzisen Einblick in die durchaus verwirrenden Allianzen, Spaltungen und Verstrickungen innerhalb der amerikanischen psychoanalytischen Community, zwischen Neofreudianer_innen, Ich-Psychologie und anderen, lenkt Herzog den Blick auf eine aus heutiger Sicht überraschende, um 1950 herum aber offensichtlich hitzig geführte Debatte: den Streit um die Frage, ob Glaube und Psychoanalyse, Beichtstuhl und Analysecouch vereinbar sind. Neben der Verfolgungserfahrung vieler oft jüdischer Analytiker_innen im Nationalsozialismus sowie dem repressiven, antikommunistischen politischen Klima der Nachkriegsjahre entpuppt sich diese Diskussion als zentrale Stellschraube im konservativen Turn der amerikanischen Psychoanalyse. Als Reaktion gegen vehemente Angriffe durch prominente Geistliche bemühten sich einflussreiche Analytiker_innen und Psychiater_innen wie Karl Menninger ein Bündnis zwischen Kirche und Psychoanalyse zu schmieden. Dafür musste der Eindruck zerstreut werden, der Psychoanalyse gehe es vor allem um das sexuelle Begehren in all seinen Facetten. Das aber brachte die Psychoanalyse in eine schlechte Ausgangslage gegenüber der empirischen Sexualforschung, die sich in diesen Jahren mit dem großen Erfolg der beiden McKinsey-Reporte 1948 und 1953 auf der Überholspur befand und die enorme Bandbreite sexueller Praktiken sowie die weite Verbreitung homosexueller Orientierungen nachgewiesen hatte. Gegen die Sexualforschung beharrte man in der Zunft der Analytiker_innen deshalb nicht nur auf der Zuständigkeit für alle Dinge, die mit Sex zu tun hatten, sondern fasste diesen auch zunehmend normativ. Man sortierte Wünsche und Fantasien, Neigungen und Praktiken in richtig und falsch, normal und pervers. Damit war das subversive Potenzial der Psychoanalyse über Bord geworfen. Zurecht wurde sie zum Gegenstand harscher Kritik von Frauen- und Schwulenbewegung.
Neukonzeptionen von Trauma, Wunsch und Wut
Der Erkenntnisgewinn, den der Einbezug vergessener Aspekte der Psychoanalysegeschichte abwirft, wird auch in den übrigen Kapiteln des Buchs deutlich: So bringt Herzog die deutsche Debatte um eine Erwerbsminderungsrente für durch Lagerhaft oder Flucht im Nationalsozialismus dauerhaft psychisch Geschädigte in einen überraschenden Zusammenhang mit der Entstehung der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Für eine solche Entschädigung war 1956 in der Bundesrepublik zwar eine gesetzliche Grundlage geschaffen worden. Ansprüche scheiterten aber allzu oft an negativen Gutachterurteilen, die dabei unter anderem auf die psychoanalytische Annahme verweisen konnten, dass anhaltende psychische Erkrankungen alleine fehlgehenden frühkindlichen Entwicklungen entsprängen. Die PTBS-Diagnose entstand dagegen in den USA im Zuge der Heimkehr kriegsversehrter Soldaten aus Vietnam. Sie bot ein Modell, um verzögert einsetzende Reaktionen auf rezente traumatische Erfahrung zu erklären – wofür sich die amerikanischen Ärzte wiederum auch auf die deutsche Debatte um die KZ-Überlebenden bezogen. Herzog unterstreicht die weitreichenden medizinischen und politischen Auswirkungen dieses transatlantischen Brückenschlags, verweist aber auch auf Probleme der damit verbundenen Einebnung der Lagererfahrung. Sie betont zudem, dass die Entwicklung für die meisten ehemaligen Lagerinsass_innen zu spät kam.
Während in den ersten Kapiteln der Einfluss der politischen Lage auf die Psychoanalyse (und sei es in Form von Abwehr) im Zentrum steht und die mittleren Kapitel sich Deutungskämpfen innerhalb der politisierten 1960er Jahren widmen, erfolgt im letzten Teil des Buchs eine erneute Umkehr der Blickrichtung: Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Gemeinschaftswerk „Anti-Ödipus“ von 1972 wird heute vor allem als ein gegen die Psychoanalyse gerichteter Klassiker poststrukturalistischer Philosophie wahrgenommen. Das Buch gilt ob seines experimentellen Schreibstils zudem als äußerst schwierige Lektüre. Herzog insistiert jedoch darauf, es als genuinen und ernstzunehmenden Beitrag zur psychoanalytischen Theoriebildung zu betrachten. Sie zeigt, wie seine Autoren auf herausfordernde Weise Einsichten in die Psyche von Kindern durch die sich weithin als unpolitisch verstehenden Analytikerin Melanie Klein mit denen des radikal antikolonialen Psychiaters Frantz Fanon in die Psyche von Kolonisierten verbinden. Auch Guattaris Erfahrungen als praktizierender lacanianischer Analytiker sowie bei seiner Arbeit in der psychiatrischen Klinik La Borde, in der die Patient_innen an der Organisation der Klinikabläufe beteiligt waren, flossen in eine radikale Neukonzeption des Wunsches ein. Sie steht im Zentrum des „Anti-Ödipus“ und verwischt nachhaltig die Grenzziehung zwischen dem innerpsychischen Geschehen und der Welt, die die amerikanischen Analytiker_innen noch zehn Jahre zuvor mit Argusaugen bewacht hatten.
Die unübersichtliche Landschaft der Psychoanalyse im Kalten Krieg verkompliziert Herzogs sorgfältiges Aufdröseln also weiter. Doch gerade das schließt ihre Potenziale für die Gegenwart auf. So gibt es ein instruktives Kapitel zum Streit zwischen Psychoanalyse, Verhaltensforschung und der Neuen Linken um die Annahme eines angeborenen Aggressionstriebs: Wut und Hass wären dann unvermeidbare menschliches Gefühlsregungen, gegebenenfalls sogar unverzichtbar für die gesellschaftliche Entwicklung. Dagegen glaubte die Studierendenbewegung im Anschluss an den Psychoanalytiker Wilhelm Reich und den Philosophen Herbert Marcuse in der sexuellen Befreiung eine Möglichkeit zur Überwindung zerstörerischer Impulse zu erkennen. Die erregte Debatte jedenfalls verhalf der Spekulation über die Existenz eines Todestriebs, die Freud selbst erst spät in seinem Leben aufgegriffen hatte, in diesen Jahren zu großer Prominenz. Ein anderes Kapitel ist den fruchtbaren Verbindungen gewidmet, die Psychoanalyse und ethnografische Feldforschung ab den 1970er Jahren eingegangen sind. Sie wurden zum Anlass, den uneingestandenen Eurozentrismus vieler psychoanalytischer Annahmen kritisch zu befragen.
Psychoanalyse mit Ödipuskomplex
Trotz dieses Augenmerks auf der Vielfalt der zeitgenössischen psychoanalytischen Diskussionen ist das Buch gut lesbar. Positionen werden pointiert rekonstruiert, Theorien nicht nur kontextualisiert, sondern auch befragt. Herzogs eigene Argumente lassen sich immer nachvollziehen. Vielen Referenzen möchte man von den Zitaten in die Endnoten und von dort in die nächstgelegene Bibliothek folgen. Es sei eines der Ziele der Studie, schreibt Herzog im Nachwort, unterbelichtete Momente der Geschichte der Psychoanalyse zu rekapitulieren. Das Buch zeichnet ein leiser Witz sowie klare politische Urteile aus. Deren Begründung bleibt jedoch implizit, sodass die Studie insgesamt mehr material- und kenntnisreiche historische Darstellung ist, als dass sie einen eigenen Vorschlag zu einer erneuerten Konzeption des Verhältnisses von Psychoanalyse und Politik unterbreitet.
Als Zankapfel der unterschiedlichen Freud-Lektüren kristallisiert sich in Herzogs Darstellungen letztlich Freuds Annahme eines Ödipus-Komplexes heraus. Dabei handelt es sich um ein für die klassische Psychoanalyse entscheidendes und von ihr lange als universell betrachtetes Entwicklungsstadium des Kleinkindes: Nach Freud begehrt das Kind zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr den gegengeschlechtlichen Elternteil und hegt deshalb einen Todeswunsch gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. In der (aus Freuds Sicht) positiven Bearbeitung dieses Konflikts beginnt das Kind sich schließlich am gleichgeschlechtlichen Elternteil zu orientieren. Gelingt das Durchschreiten der ödipalen Phase hingegen nicht, blühen die Neurosen. Die problematischen sozialen (Reduktion auf die Kernfamilie), sexuellen (Heterosexualität als Norm) sowie vergeschlechtlichten Dimensionen (Orientierung am gleichgeschlechtlichen Elternteil) dieser Annahme sind offensichtlich. Die Verteidigung oder Ablehnung, Kritik und Verwandlungen dieses Theorems durchziehen wie ein roter Faden die in „Cold War Freud“ dargestellten Debatten. Vor dem Hintergrund von Herzogs Buch könnte man der Psychoanalyse im Kalten Krieg wohl selbst einen unbewältigten Ödipus-Komplex diagnostizieren, der sich deshalb regelmäßig am Verhältnis zum Stammvater Freud entzündet.
Herzogs Studie zeigt jedoch auch, dass die Auseinandersetzung mit dieser konflikthaften Geschichte jenseits ihres Zerrbilds erhellende Einsichten liefert. Für eine realistische, der Komplexität ihrer Gegenstände angemessene Konzeption des psychischen Innenlebens, der Gesellschaft sowie der Beziehung zwischen ihnen – also auch für ein Verständnis der Macht von Wünschen und Ängsten, Fantasien und Wahnvorstellung, die unser Leben allzu oft hinter unserem Rücken beherrschen – ist eine derart angereicherte Psychoanalyse weiterhin unverzichtbar. Davon überzeugt die Lektüre des Buches nachhaltig. In der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse liegt vielleicht auch ihre beste Chance, sich neben Medikalisierung und anderen Behandlungsarten zu behaupten.
Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-29993-7.
380 Seiten. 28,00 Euro.