Die Ruinen der Gegenwart
- Buchautor_innen
- László F. Földényi
- Buchtitel
- Lob der Melancholie
- Buchuntertitel
- Rätselhafte Botschaften
Dieser Streifzug durch die Kunstgeschichte entbehrt zwar politischen Gehalt – entpuppt sich aber doch als geeignete Grundlage für linke Haltungen.
Auf Giorgiones 1508 fertiggestelltem Gemälde „Das Gewitter“ ragen fast unscheinbar die ruinösen Reste einer Mauer hinter ein paar Büscheln Gras hervor. Bedeutend wird dieses Bildelement gerade durch seine Unbestimmtheit. Während sich Bildelemente der christlichen Kunst des Mittelalters in der Interpretation zumeist eindeutig in Bezug auf die Heilsgeschichte deuten und damit auch auflösen lassen, bleibt Giorgiones Ruinenmauer ein Rätsel: Ihr lassen sich unzählige Bedeutungen zusprechen.
Warum László F. Földényi ausgerechnet in dieser Ruinenmauer ein Symbol der Melancholie zu erkennen meint, erschließt sich nicht, solange man nur mit der alltäglichen Verwendung des Begriffs Melancholie vertraut ist. Als einen „von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität gekennzeichnete[n] Gemütszustand“ lernt man die Melancholie kennen, wenn man das Wort in die Google-Suche eingibt. Für Földényi ist das bereits eine Verwässerung des Begriffs. Die Gleichsetzung von Melancholie mit Depression oder Resignation ist für ihn schon eine Verfallsstufe des Melancholieverständnisses, die sich aber in der Gegenwart durchgesetzt hat: „Früher hatte die Depression als eine Unterart der Melancholie gegolten; seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kehrte sich das um, und die Melancholie wurde zu einer Unterart der Depression.“ (S. 21 f.) Földényis Melancholiebegriff umfasst also mehr.
Vergänglichkeit der Zukunft
Warum also verkörpert nun das ruinöse Gebilde auf Giorgiones Gemälde den Inbegriff der Melancholie? Am ehesten ist die Ruine hier ein Zeichen der Vergänglichkeit. Damit steht sie aber auch dafür, dass mit dem gegebenen Zustand der Gesellschaft nicht das letzte Wort gesprochen ist. Wenn sich Herrschaftssysteme totalisieren und als naturgegeben hingestellt werden, verweist die Ruine darauf, dass es auch immer anders sein kann. Auf mögliche und mitunter ideologisch brandgefährliche Kehrseiten einer solchen Ruinenmetaphorik geht Földényi indes nicht ein. Erwähnenswert wäre etwa die sogenannte Ruinenwerttheorie des NS-Architekten Albert Speer, nach der der Ruinenzustand von Gebäuden bereits bei ihrem Entwurf bedacht werden soll, um nach tausenden Jahren die Größe des „Dritten Reichs“ auf ähnliche Weise in den Gebäuden erscheinen zu lassen wie in den ruinösen Überresten von Bauten der von den Nazis idealisierten antiken Großmächte.
Földényi, der bereits 1984 eine umfangreiche Geschichte der Melancholie veröffentlichte, kann in seiner Überlegung an die ursprüngliche Begriffsbedeutung anknüpfen: Mit „schwarze Galle“ lässt sich Melancholie übersetzen, „[u]nd die schwarze Farbe lenkt das Augenmerk auf die Dunkelheit, auf die Tatsache, dass [in der Melancholie] stets der dunkle Schatten der jeweiligen Welt zum Vorschein kommt“ (S. 21). Melancholisch ist das Misstrauen daran, dass mit den ideologischen Rechtfertigungen der jeweilig herrschenden Verhältnisse das letzte Wort gesprochen ist.
Melancholie ist damit strenggenommen weder ganz Gefühl noch bloße Verstandeseinsicht. Am ehesten ließe sie sich fassen als eine bestimmte Art, auf die Welt zu blicken. Diejenigen, die einen melancholischen Blick haben, zweifeln an den jeweils herrschenden Verhältnissen. Das löst Földényi zufolge stets das Misstrauen derjenigen aus, die die herrschenden Verhältnisse aufrechterhalten (wollen). Auch deswegen sei immer wieder daran gearbeitet worden, den Begriff zu verwässern und seiner kritischen Schärfe zu berauben.
Kompromisslos-kritisches Denken
Földényi unternimmt in seinen Essays einen Streifzug durch die – im Übrigen bei Földényi durchweg männliche – Kunstgeschichte, um an ihr seinen Melancholiebegriff zu entwickeln, wobei er zuweilen etwas vom Hauptgegenstand abschweift. Doch das eigentliche Problem des Textes ist der fehlende Schritt hin zu einer politischen Bedeutung.
Damit ist nicht gemeint, dass von Földényis Buch praktische Schlussfolgerungen zu fordern wären – einer unmittelbaren Übersetzung in politische Praxis entzieht sich die Melancholie als skeptische Haltung. Melancholiker*innen sehen, dass es anders sein kann. Sie müssen aber auch illusionslos bleiben gegenüber den Möglichkeiten der Verwirklichung einer besseren, da grundlegend anderen Welt. Denn die Erfahrung bestätigt, dass die Welt sich oft in die Richtung der Katastrophe entwickelt. Damit verflüchtigt sich aber nicht das Bedürfnis nach Veränderung. Melancholiker*innen sind diejenigen, die es schaffen, die Spannung zwischen diesem Bedürfnis und der Unwahrscheinlichkeit seiner Verwirklichung auszuhalten. Sie nehmen keine praktischen Scheinlösungen des Problems, keine vorschnellen Lösungsangebote an, auch wenn die Spannung sich zerreißend anfühlen mag. Angesichts der Übermacht des Kapitalismus können sich Ohnmachtsgefühle ausbreiten. Aber auch diesen dürfen sich Melancholiker*innen nicht hingeben, sie dürfen nicht resignieren und jegliche Aktivität einstellen.
Diesen Vorwurf hat man Adorno einmal gemacht, als das Frankfurter Institut für Sozialforschung sich Ende der 1960er Jahre weigerte, Solidarität mit der Praxis der Studentenbewegung zu zeigen. In einem mit „Resignation“ betitelten Radiovortrag hat Adorno diesen Vorwurf aber von sich gewiesen und die für ihn theoretisch nicht genügend fundierte Praxis der Studentenbewegung als „Pseudo-Aktivität“ bezeichnet. Zurecht gilt Adorno für Földényi daher als Melancholiker. Für Adorno galt es, zunächst im Spannungszustand zu verharren, um nicht in blinden Aktionismus zu verfallen. Eine solche Praxis ist immer Resultat eines Versuchs, vorschnell die aus den Bedürfnissen entstehenden Sehnsüchte zu verwirklichen, auch wenn die realen Möglichkeiten dafür noch gar nicht gegeben sein mögen.
Die Ruinen des Kapitalismus
Földényi hat zwar erkannt, dass Adorno als Melancholiker einzuordnen ist. Und er wirft seinen melancholischen Blick gekonnt auf die Kunst. Schwieriger wird es allerdings, wenn konkrete gesellschaftliche Entwicklungen in den Fokus genommen werden. Der melancholische Blick mag ausreichen, um Probleme zu entdecken. Um ihre sozio-ökonomischen Ursachen zu erforschen, bedarf es jedoch konkreterer analytischer Werkzeuge. Im „Abgesang aufs Kino“ etwa scheint der melancholische Blick stellenweise verlorenzugehen zugunsten reiner Nostalgie.
Dabei enthält Földényis Melancholiebegriff nicht nur alles, was es bräuchte, um Kritik an der sich alternativlos darstellenden kapitalistischen Produktionsweise und den sich aus ihr ergebenden sozialen, politischen und nicht zuletzt ökologischen Krisen zu äußern – er definiert sich gerade durch kritisches Zweifeln an der Naturgegebenheit des Bestehenden. Die Stärke des Buches liegt darin, dass es den melancholischen Blick der Lesenden schärft – einen Blick, mit dem zuletzt über das Buch hinauszugehen ist. Es gilt, geschult an Földényis Melancholiebegriff, den melancholischen Blickwinkel zu ändern und ihn auf die sozio-ökonomischen und politischen Missstände der Gegenwart zu werfen.
Der Kulturphilosoph Mark Fisher hat in seinem populären Essay „Kapitalistischer Realismus “ einmal geschrieben, die ideologische Verblendung des gegenwärtigen Kapitalismus bestehe darin, dass der Kapitalismus alternativlos erscheine. Der melancholische Blick ist Widerstand dagegen: Nicht, weil er unmittelbar den konkreten anderen Zustand zeigen kann, sondern weil mit ihm erst denkbar wird, dass es überhaupt anders sein kann.
Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften. Übersetzt von: Akos Doma. 3. Auflage.
Matthes & Seitz, Berlin.
ISBN: 978-3-95757-708-5.
280 Seiten. 30,00 Euro.