Ohne den zärtlichen Schmelz des Duldens
- Buchautor_innen
- Christine Lavant
- Buchtitel
- Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus
- Buchuntertitel
- Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Amann
Was tun, wenn alles zum Speien ist? Eine Suche nach dem Verhältnis von äußerem und innerem Wahnsinn.
Es ist 1935 und Christine Lavant ist 20 Jahre alt. Die junge Frau lässt sich nach einem Suizidversuch in die Psychiatrie – ins „Irrenhaus“ – einweisen. So beginnt die Erzählung, die die österreichische Lyrikern 1946 schreibt. Das NS-Regime ist eben gerade erst überwunden und die Klinik, in der Lavant sechs Wochen verbracht hat, geht wegen der sogenannten „Euthanasiemorde“ durch die Presse. Ärzte, denen die Schriftstellerin begegnet sein muss, stehen vor Gericht und müssen sich ihrer Taten wegen verantworten. Der Chefarzt der psychiatrischen Frauenabteilung, der auch Lavant behandelte, gibt zu, von der systematischen Ermordung von Patient:innen gewusst zu haben. Lavant erwähnt die Prozesse und die politische Lage Österreichs mit keinem Wort, von ihnen wird im ausführlichen Nachwort des Herausgebers Klaus Amann berichtet, und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen liest sich ihre präzise und klare Beobachtung des Klinikalltags als so etwas wie die Banalität des institutionalisierten Wahnsinns, deren Logik Lavant in den Kriegsjahren vermutlich zum Opfer gefallen wäre. Sie beschreibt die Ordnungen und Hierarchien der Patientinnen und des Personals ohne ausdrückliche Wertung, sich selbst bewusst darüber, dass sie aus dem sozialen Register des Klientel fällt. Sie gehört nicht zu den bürgerlichen Patientinnen, auch ist sie nicht dem Wahnsinn verfallen, sondern hat sich freiwillig der Arsenkur hingegeben. Sie will etwas von dem Klinikaufenthalt. Aber was genau das ist, die Gründe für ihren Aufenthalt, erschließen sich den Lesenden erst am Ende der Aufzeichnungen.
Frühe Krankheit
Ihrem Klinikaufenthalt geht eine Kindheit in Krankheit und Armut voraus. Als neuntes und schwächstes Kind einer Bergarbeiter:innenfamilie wird Christine Thonhauser, geboren 1915, von Krankheiten gebeutelt: Tuberkulose, Lungenentzündung, Ohren- und Augenerkrankungen sind das Los ihres Leidens. Eine Röntgentherapie heilt sie als Jugendliche und lässt dabei die rechte Körperseite verbrannt zurück. Versehrt findet sie trotz kurzer Schuldbildung Zuflucht im Schreiben und wählt zu Beginn ihrer Karriere das Pseudonym Lavant, das sich auf das Lavanttal bezieht, in das sie geboren wurde. Es soll ihr Schutz vor der regionalen Öffentlichkeit bieten, vor deren Häme sie sich fürchtet.
Den frühen Erfahrungen von Krankheit, Armut und Demütigung folgt eine depressive Episode, die tragisch hätte enden können: Mit nur 20 Jahren nimmt sie ein Schlafpulver der Mutter zu sich, von dem Lavant sich Erlösung von ihren Leiden erhofft. „Dreißig Pulver, drei Tage und vier Nächte totenähnlichen Schlaf und dann wieder wach werden und alles ganz unverändert wieder um und vor sich haben […]“ (S. 26). Sie möchte, dass sich das Leben radikal ändert, auch wenn das Abbruch bedeutet. Aber nicht etwa, weil sie Ohren und Augen betrügen, nicht etwa, weil sie weiß, dass sie trotz ihres Könnens niemals zu den „Studierten“ gehören wird und man die Relevanz ihres Schreibens nicht anerkennt. Am Ende lässt sie die Liebe verzweifeln. So banal das sein mag, so sehr spricht es auch für die durchdringliche Menschlichkeit in ihren Texten. Das Pulver erlöst sie weder von Krankheit noch Kummer. Es kommt nicht der ersehnte ewige Schlaf, sondern dieser prägende wochenlange Aufenthalt in der Landesirrenanstalt in Klagenfurt, der sie dem geliebten Objekt auf absurde Weise näherbringen soll, denn es handelt sich dabei um einen Arzt des Krankenhauses.
Vorläufige Endgültigkeit
Im „Irrenhaus“ gibt sie sich dem wohlüberlegten Wahn der unerfüllten Liebe hin: „Vielleicht habe ich damit die Grenze, wo Liebe wirklich noch Liebe und sonst nichts ist, schon überschritten und gehe nun bloß mehr auf ein Experiment zu?“ (S. 79), überlegt Lavant. Ihr Experiment wird am Ende ihres Aufenthaltes mit einem väterlichen und umso schmerzhafteren Kuss auf die Stirn belohnt. Der um Jahrzehnte ältere Augenarzt, der sie Jahre zuvor behandelt hat und mit dem Lavant in Briefkontakt steht, setzt sich vor dem Kuss noch eine Schnupfenkappe auf. Alles endet in totaler Absurdität, die Lavant erst zum Lachen und dann in vorläufiger Endgültigkeit zum Weinen bringt.
Die Aufzeichnungen erzählen in einer tagebuchförmigen Weise von ihren Erfahrungen. Lavant bricht manchmal mitten im Satz ab, fängt neu an, bricht wieder ab, und beginnt dann wieder mit ihren Erlebnissen und Beobachtungen. So entsteht der Eindruck einer fortlaufenden Aufzeichnung ihrer unmittelbaren Eindrücke. Ob das Buch aber auf tatsächlichen Notizen ihres Klinikaufenthaltes beruht, kann auch der Herausgeber nicht klären. Das Buch wird zwar als autobiografische Erzählung verstanden, viel eher ist es aber als Zeitzeugnis der kalten (Vor)Kriegsjahre zu lesen. Die Autorin wendet sich ihren eigenen Gefühlsregungen mit einer aufmerksamen und beinah kindlichen Neugier zu und lässt Außenwelt und Innenwelt auf magische Weise ineinandergreifen. Die Eigenheiten des Personals, gegliedert in Schwestern und Ärzte, verweben sich mit den Verrücktheiten der Patientinnen, zu denen sich letztlich auch Lavant zählt. Dabei fehlt den Aufzeichnungen der „zärtliche Schmelz des Duldens“ (S. 122), wie Lavant es selbst in einem im Nachwort abgedruckten Brief an ihre Übersetzerin Nora Wydenbruck schreibt. Lavants Befürchtungen werden dabei zur Qualität ihrer Prosa. Dieses fehlende Dulden, ihre aufmerksamen, präzisen Betrachtungen von Außen und Innen, weisen den Schmerz und die Kraft einer Person auf, die sich nicht scheut in die Welt zu blicken. Das Äußere, ihre Armut, die soziale Ordnung und das politische Momentum der Kriegsjahrzehnte werden mit dem Inneren, ihrem Kummer und ihrer Krankheit eins.
Bitterkeit
Am Ende ist sich Lavant nicht sicher, was das Leid mit ihr macht. In unendlicher Mühe fragt sie, „Ist es tatsächlich schon bitter in mir?“ (S. 79). Lavant ist sich ihrer Leidenserprobung gewiss. Aber bitter? Ist sie auch bitter? Die Antwort wird nebensächlich, denn es ist ihre Frage, die schonungslose Auseinandersetzung mit sich selbst, die uns als Lesende angeht. Nicht allein im Genre des autobiografischen respektive autofiktionalen Schreibens und einer Kindheit in Armut steht das Werk Lavants in einem Verhältnis zu dem der nur zwölf Jahre jüngeren dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen (1917-1976). Es ist die schlichte Schonungslosigkeit mit der die Autorinnen ihre Erfahrungen beschreiben, die auf die Fragen unserer Zeit verweisen: Wie umgehen mit verschiedensten Krisen; wie nicht verzagen?
Das Buch wurde erstmals 2001 posthum veröffentlicht. Die vorliegende Neuveröffentlichung von 2016 umfasst ein umfangreiches Nachwort, das die Erzählung um ihren historischen Kontext erweitert. „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ lässt eine Frau des letzten Jahrhunderts zu Wort kommen, deren Stimme wir heute zuhören sollten. Der Herausgeber, Klaus Amann, spricht ihr eine „überwache soziale Sensibilität“ (S. 107) zu und auch diese Sensibilität rückt das Buch in unsere Gegenwart. Nicht nur der Duktus ihrer Sprache in seiner Unmittelbarkeit und Klarheit vermittelt Aktualität. Auch die zugleich nach innen und außen gerichtete Konzentration der Beobachtung einer Gesellschaft, die kurz vor oder bereits in der Krise ist, weist die Anstrengung auf, die es kostet, wenn man die Sprache nicht verlieren möchte.
Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Amann.
Wallstein Verlag, Göttingen.
ISBN: 978-3-8353-1967-7.
140 Seiten. 16,90 Euro.