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Der Spuk der nationalen Souveränität

Der Spuk der nationalen Souveränität
Thema
Essay von Brigitte Bargetz

Am Phantasma der Souveränität richtet sich das politische Gefühlsgefüge der Gegenwart aus: in Form von Angst. Doch es wird nicht reichen, dieser Politik der Gefühle ein Fürchtet-euch-nicht zu entgegnen.

Essay von Brigitte Bargetz

„Schluss mit Globalismus, wir wollen unsere Länder, unsere Demokratie, Freiheit und Souveränität zurück“, forderte der FPÖ-EU-Mandatar Harald Vilimsky im Dezember 2023 bei einem Treffen europäischer Rechts-Parteien der EU-Fraktion „Identität und Demokratie“ in Florenz. Der Ruf nach einer Erneuerung von Souveränität ist spätestens seit der Covid-19-Krise nicht mehr zu überhören. „Frieden, Freiheit, Souveränität“ war das Motto der Corona-Leugner*innen und Querdenker-Szene. Aber auch auf Regierungsseite wurde Souveränität großgeschrieben, hatte doch die Bearbeitung der Corona-Krise einen nationalistischen Einschlag, wenn es um die Verteilung des Impfstoffs oder um den Schutz der „eigenen“ Bevölkerung vor den (rassifizierten und klassisierten) bedrohlichen infizierten „Anderen“ ging.

Dieser Ruf nach Resouveränisierung greift eine Tendenz und Stimmung auf, die sich bereits seit längerem auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne abzeichnet. Bereits vor knapp 15 Jahren diagnostizierte Wendy Brown in ihrem Buch „Walled States, Waning Sovereignty“ eine Erosion nationalstaatlicher Souveränität im Zuge vielfältiger Transnationalisierungs- und Globalisierungstendenzen. Zeitgleich wird die politische Gegenwart von einem spezifischen Verständnis von Souveränität heimgesucht, das sich sowohl im Nationalstaat als auch in einem neuen Subjektivierungsmodus artikuliert. Es ist eine „gespenstische Souveränität“, die in „neurotischen Subjekten“ (Bargetz 2017) ihre Form und ihre Adressat*innen findet.

Nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Autoritarisierung erscheint mir diese Einschätzung auch heute noch gültig. Ob in der aktuellen Sehnsucht nach Souveränität bereits ein autoritärer Kipppunkt überschritten ist, muss sich noch zeigen. Nicht zu übersehen ist hingegen, dass Browns Diagnose einer zunehmenden Verbarrikadierung weiterhin virulent ist. Deutlich wird dies unter anderem an den zahlreichen Grenzzäunen und Mauern, die in den letzten Jahren um die „Festung Europa“ (und darüber hinaus) errichtet wurden und noch immer werden: so etwa der 2022 fertig gestellte Zaun zwischen Polen und Belarus oder der kurz nach dem NATO-Beitritt Finnlands 2023 begonnene Bau eines Grenzzauns zu Russland.

Mauern bauen gegen die Erosion nationalstaatlicher Souveränität

Die sich Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem Westfälischen Frieden von 1648 herausgebildete Idee nationaler Souveränität war stets eine Fiktion. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beobachtet Brown jedoch einen spezifischen Wandel: ein Schwinden nationalstaatlicher Souveränität durch transnationale Bewegungen, neoliberale Rationalität, internationale Institutionen und postnationale Gesetze sowie die konterkarierende Tendenz neuer Grenzmauern und Zäune. Brown verweist hier auf die Grenzziehungen zwischen Iran und Pakistan, Brunei und Malaysia, China und Nord-Korea, die USA und Mexiko. Dabei handle es sich nicht um Zeichen nationaler Wehrhaftigkeit, sondern vielmehr um „Ikonen“ (Brown 2010, S. 24) für die Zwangslage nationalstaatlicher Souveränität. Die Mauern markieren den Versuch, den fortschreitenden Souveränitätsverlust zu kaschieren oder gar zu kompensieren. Allerdings verlieren Staat und Souveränität nicht einfach an Bedeutung, sie driften vielmehr auseinander. So finden sich einige Merkmale politischer Souveränität nun – und dabei „keineswegs zufällig“ (ebd. S. 23) – in zwei transnationalen Machtbereichen wieder, die einst durch den Westfälischen Frieden eingehegt werden sollten: zum einen in der politischen Ökonomie, zum anderen in religiös legitimierter Gewalt.

Souveränität und die politische Einhegung der Angst

Um die Bedeutung dieses Schwindens nationalstaatlicher Souveränität zu erschließen, lohnt ein Blick in die politische Ideengeschichte. Der Souveränitätsgedanke als friedenssicherndes Instrument ist staatstheoretisch ebenso zentral wie umstritten. Von Jean Bodin 1576 aufgebracht, findet sich die Idee der Souveränität auch in Thomas Hobbes berühmtem, 1651 veröffentlichen „Leviathan“. Mit der Figur des Gesellschaftsvertrags führt Hobbes hier den politiktheoretischen Grundgedanken westlich-moderner Staatlichkeit ein, nach dem alle ihre Macht an den Souverän abtreten, um im Gegenzug Schutz und Sicherheit zu erhalten. Der Gesellschaftsvertrag stellt so vor allem ein Mittel zur Einhegung der destruktiven Kräfte einer Angst aller vor allen dar, indem diese in die kollektiv geteilte Angst vor souveräner Staatsgewalt umgewandelt wird. Zugleich wird Angst damit politisch institutionalisiert und zur Grundlage staatlicher Souveränität; sie sichert die Aufrechterhaltung staatlicher Souveränität ab.

Die Angst vor staatlicher Souveränität hat bei Hobbes neben der kollektiven auch eine subjektive Dimension. Denn Angst schafft auch eine Voraussetzung für ein souveränes Selbst. Durch staatliche Souveränität wird ein eindeutiges Objekt der Angst geschaffen, auf das die Menschen ihre Ängste projizieren können. Staatliche Souveränität wird damit zu einem Mittel der Komplexitätsreduktion. Sie erlaubt es den Subjekten, sich in einem komplexen Feld zu bewegen und zu orientieren und folglich als souveränes Subjekt zu handeln. Staatliche Souveränität bedeutet also auch die Bedingung und Möglichkeit für ein souveränes Selbst.

Diese Auffassung politischer Souveränität, die gleichsam die produktive politische Kraft von Angst illustriert, muss allerdings als historisch spezifische kapitalistische, maskulinistische und rassistische Figur begriffen werden. Denn der Gesellschaftsvertrag schuf eine Form brüderlicher Demokratie, die weißen, über Besitz verfügenden Männern vorbehalten war. Der Gesellschaftsvertrag ist daher immer auch ein Geschlechtervertrag beziehungsweise ein heterosexueller ebenso wie ein rassistischer Vertrag, da er nicht nur eine (hetero-)sexuelle Differenz festschreibt, sondern auch auf rassistischen Ausschlüssen basiert und diese legitimiert.

Gespenstische Souveränität

Dieser ideengeschichtliche Blick kann nicht nur das Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität, souveränem Subjekt und politischer Angst erhellen. Er erlaubt es auch, das aktuelle Schwinden nationaler Souveränität als gespenstische Souveränität zu fassen. Gespenstisch ist diese Souveränität, weil sie etwas Überkommenes anzeigt, das zugleich hartnäckig fortdauert und herbeigesehnt wird. Gespenstische Souveränität meint dann zugleich ein Nachwirken oder Heimsuchen einer Politik der Souveränität und eine Sehnsucht nach verlorener Souveränität.

In dieser Perspektive lässt sich das von Brown identifizierte Bauen von Mauern als Modus politischer Melancholie und als Sehnsucht nach Wiederherstellung nationalstaatlicher Souveränität und Sicherheit begreifen. Als weißes, maskulinistisches und nationalistisches Phantasma erweist sich diese gespenstische Souveränität zudem als Verunsicherung von und Sehnsucht nach hegemonialer Männlichkeit und maskulinistischer Nationalstaatlichkeit. In der Projektion der Gefahr auf „Andere“ werden „Fantasien der Undurchlässigkeit“ befeuert, die in den Grenzmauern „ultimativ“ (Brown 2010, S. 119) symbolisiert werden.

In dem Wunsch, sich immer stärker zu verbarrikadieren, manifestiert sich die Angst vor staatlichem Souveränitätsverlust und politischer Ohnmacht, die auch das im Souveränitätsgedanken eingelagerte Versprechen auf Sicherheit und Schutz für die Subjekte brüchig werden lässt. So schwindet auch ein Instrument der Komplexitätsreduktion und mit ihm subjektive Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten. Die Erosion nationalstaatlicher Souveränität zeigt folglich nicht nur die Destabilisierung nationalstaatlicher Ordnung an, sondern auch die Verletzbarkeit der Subjekte und die Verunsicherung eines souveränen Selbst. Dies sind Symptome für den Verlust politischer Handlungsmächtigkeit.

Das neurotische Subjekt

Der sich im Bau von Mauern artikulierende nationalstaatliche Souveränitätsverlust zeigt jedoch noch etwas anderes an. Wenn sich die Souveränität destabilisiert, legt dies auch die durch staatliche Souveränität eingehegte Angst frei. Das Schwinden nationaler Souveränität ist daher eng mit wachsender Ungewissheit und Unsicherheit verknüpft, die ich als Moment und Modus neurotischer Angst fasse.

Neurotische Ängste stellen für Engin F. Isin eine Grundlage des Neoliberalismus dar. Sie manifestieren sich in einem „neurotischen Subjekt“ (Isin 2004, S. 223), das zugleich Ausdruck und Reaktion auf aktuelle Ängste und Unsicherheiten ist. Im Mittelpunkt des neurotischen Agierens steht das affektive Beschwichtigen, Besänftigen und Beruhigen und vor allem das Managen von Ängsten und Unsicherheiten. Ob im Bereich der Ökonomie, des Körpers oder der Umwelt, ob in Netzwerken, im Zuhause oder nicht zuletzt – beziehungsweise zuallererst – in Grenzmanifestationen und Politiken des Othering: In all diesen Bereichen artikulieren sich ängstliche, gestresste und zunehmend verunsicherte neurotische Subjekte. Shopping als materiell-affektiver Beruhigungsmodus nach den Anschlägen auf das World Trade Center; Ängste, Stress und Leiden als emotionaler Bearbeitungsmodus angesichts des vorherrschenden Körperkults; nervöses Recycling in Umweltfragen; neurotische Diskurse über Netzwerksicherheit und der Boom der Versicherheitlichungsindustrie; Ängste um nationale Grenzen und ihre Durchlässigkeit. Sie alle symbolisieren eine Sehnsucht nach Beruhigung, in der sich das neurotische Subjekt letztlich das Unmögliche wünscht: absolute Sicherheit.

Ikonographie des Verlusts

Im Wunsch nach absoluter Sicherheit wird das neurotische Subjekt zu einer Figur der gespenstischen Souveränität. Angesichts einer Vielzahl umfassender Ängste zeigt dieser Spuk die aktuelle Reartikulation nationaler Souveränität ebenso an wie den Versuch der neurotischen Subjekte, diese zu besänftigen und zu beschwichtigen.

Die gespenstische Souveränität artikuliert sich sowohl auf staatlicher als auch auf subjektiver Ebene. Im Teufelskreis gegenwärtiger Versicherheitlichungstendenzen werden nicht nur reale Unsicherheiten durch moralische Paniken oder repressive Gesetzgebungen bekämpft, Sicherheit wird auch zum Substitut für die Sicherheit des Selbst.

Grenzzäune und Mauern sind allerdings nicht nur symbolische Kräfte. Wie Steffen Mau zurecht anmerkt, sind sie immer auch „kraftvolle Instrumente der territorialen Separierung“ sowie der „Filterung und Sortierung von Mobilität“ (Mau 2021, S. 64). Gerade für vulnerable und gefährdete Gruppen wurde dies in den letzten Jahren in der Rückkehr zum Nationalstaat durch das sich verschärfende europäische Grenzregime auf gewaltvolle Weise spürbar. Andere, wie jene „neue Klasse“ der „exzessiv Reichen“ des „multinationalen Finanzkapitalismus“ (Balibar 2014, S. 273, Übers. B.B.), profitieren hingegen von der Aufweichung nationalstaatlicher Grenzziehungen, indem sie den Wettbewerb zwischen Staaten für „Steuerprivilegien“ und den „Zugang zu ausbeutbaren Arbeitskräften“ (ebd.) für sich zu nutzen wissen.

Der Souveränitätsverlust erfasst also nicht alle auf gleiche Weise. Nicht alle werden gleichermaßen im Modus der Neurose adressiert und verspüren die gleiche Sehnsucht nach nationalstaatlicher Souveränität. Vielmehr spielen Kapitalismus, Extraktivismus, Neo-Kolonialismus, Rassismus, Heternormativität oder Transphobie eine bedeutsame Rolle im aktuellen Gefühlsgefüge der Angst. Ebenso gilt es, neben dem Souveränitätsverlust auch die Manifestationen einer Rückkehr zu nationalstaatlicher Souveränität in den Blick zu nehmen, die in der erstarkenden staatlichen Autoritarisierung, im Abbau von Sozialstaatlichkeit und der Zunahme einer Law & Order-Politik oder in einer damit verbundenen Kriminalisierung und Rassifizierung von Armut zum Ausdruck kommen. Gespenstisch bleibt diese Manifestation nationaler Souveränität gleichwohl, weil das Versprechen auf Sicherheit dabei nicht eingelöst wird. Neurotische Ängste werden allenfalls kurzfristig eingedämmt oder betäubt und damit in letzter Konsequenz weiter genährt.

Auch der Krieg in der Ukraine macht eine vielfältige gespenstische Souveränität sichtbar. So verweist die an den Krieg geknüpfte westliche Energie- und Agrarpolitik auf eine Resouveränisierung des „Westens“ gegen den „Rest“ (Hall 2019) der Welt. Ebenso zeichnet sich eine „martialische Blocksouveränisierung“ des „Westens“ (Lorey 2022) ab, die zugleich eine maskulinistische Resouveränisierung ist. Während Putin die Kriegsbegründung Russlands mit dem „Kult des harten heterosexuellen Mannes“ (ebd.) verwebt, wurde der ukrainische Präsident Selenskyj gerade in seiner kriegerischen Maskulinität zu dessen Gegenhelden gekürt. Einer solch vielschichtigen Sehnsucht nach Souveränität kann auch der Ruf nach feministischer Außenpolitik nur wenig entgegenhalten, wenn dabei, wie Claudia Brunner zurecht kritisiert, „unter dem Banner diversitätsorientierter Geschlechterpolitik für die Normalisierung von Militarisierung und Krieg“ (Brunner 2023, S. 16) mobilisiert wird.

Neurotische Ängste und rechtsautoritäre Souveränitätsversprechen

Neurotische Ängste und die gespenstische Souveränität sind dabei keineswegs zwangsläufig mit rechtsautoritären oder rechtspopulistischen Kräften verknüpft. Sie können jedoch einen Nährboden für autoritäre Tendenzen bereiten. Neurotische Ängste und die gespenstische Souveränität beschreiben ein Bedingungsgefüge von Souveränitätsverlust und Handlungsohnmacht, in das rechtsautoritäre Politiken und Bewegungen erfolgreich intervenieren können. In einem Tweet vom 11. März 2018 beklagt Marine Le Pen die „Welt von Macron“ als „Welt der physischen Unsicherheit“, die mit einer „Explosion von Kriminalität“ einhergeht, mit „kultureller Unsicherheit“ durch die „Überflutung unseres Landes durch große, unkontrollierte Migration“ und den „Import von Werten, die unseren Werten widersprechen“.

Mit dieser rassistischen und nationalistischen Rhetorik folgt Le Pen – neben zahlreichen anderen wie Trump, Bolsonaro, Erdoğan, Milei oder Meloni – dem Ruf nach starken Männern, aber auch Frauen, die in Zeiten verlorener Gewissheiten und neuer Unübersichtlichkeiten laut werden. Diese rassistischen und nationalistischen Ausgrenzungspolitiken verweben sich dabei mit heteronormativen Geschlechter- und Sexualitätspolitiken, indem der nationalstaatliche Souveränitätsverlust mit einer Krise der Männlichkeit verknüpft wird. So kann beispielsweise Björn Höcke in seiner viel zitierten Erfurter Rede 2015 die allgemeine Verunsicherung des gegenwärtigen (deutschen) Mannes mit dem Schwinden der (deutschen) Nation verschränken. Dieses „affektive Narrativ“ (Bargetz/Eggers 2023, S. 221) offenbart eine gespenstische Souveränität, indem es eine Rückkehr zu Wehrhaftigkeit und damit gleichzeitig eine Rückkehr zu Männlichkeit beschwört. Es ist ein paradoxes maskulinistisches Souveränitätsverspechen: Im paternalistischen Versprechen auf den Schutz der „eigenen“ Frauen wird ein potenzieller Feind herbeigeredet, der einen solchen Schutz überhaupt erst legitimiert.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die rechtsautoritäre und rechtspopulistische Sehnsucht nach Souveränität auf einen Diskurs über eine Sehnsucht nach weißer heldenhafter Männlichkeit zu beschränken. Wenn Isabel Brown, Social Media-Aktivistin und Influencerin der rechtskonservativen NGO Turning Point USA, proklamiert „be a rebel. fall in love. get married. you deserve it“, macht sie sich nicht nur für eine Reetablierung traditioneller (Zwei-)Geschlechterverhältnisse, sondern auch für einen „Handlungs(rück)gewinn für Frauen und mithin eine Form weiblicher Resouveränisierung“ (Krey/Bargetz i. E.) stark. In der Umdeutung der traditionellen Frauenrolle als rebellische Befreiung wird gerade keine Rückkehr zu weiblicher Passivität aufgerufen, sondern vielmehr weibliche Handlungsmächtigkeit und Souveränität versprochen.

Was folgt daraus für eine Politik der Gefühle?

Der Spuk nationaler Souveränität verweist auf die aktuelle Reartikulation politischer Souveränität angesichts umfassender Ängste und gleichzeitig auf deren Besänftigung und Beschwichtigung. Im Modus der gespenstischen Souveränität offenbaren sich ein aktuelles Krisengefüge und zugleich daran geknüpfte materielle, affektive und narrative Krisenbearbeitungsweisen. Rechtsautoritäre Kräfte intervenieren in diesen Moment gespenstischer Souveränität und neurotischer Ängste, indem sie spezifische, häufig rassistische, nationalistische, antifeministische, heteronormative und transphobe Angebote für die Wiederherstellung von Souveränität machen.

Der Modus der gespenstischen Souveränität verdeutlicht damit auch, dass das liberal-demokratische Versprechen auf souveräne Handlungsmächtigkeit, Sicherheit und Einhegung der Angst brüchig wird. Zugleich entpuppt sich dieses liberale Versprechen als „cruel optimism“ (Berlant 2011), war es doch immer schon ein maskulinistisches, bürgerliches und weißes Versprechen.

Was bedeuten diese Ausführungen zum aktuellen Gefühlsgefüge nun für eine Politik der Gefühle? Deutet die gespenstische Souveränität und der Modus neurotischer Ängste, nicht zuletzt auf Grund der rechtsautoritären Mobilisierung, darauf hin, dass es Zeit wird, sich von der Konjunktur einer Politik der Gefühle zu verabschieden, die in unterschiedlichen politischen Schattierungen den aktuellen politischen Moment strukturiert? Oder gilt es, Gefühle vielmehr als emanzipative politische Kräfte aufzugreifen und sie wider das neurotische Gefühlsgefüge zu mobilisieren?

Eine solche Gegenüberstellung zwischen einem Verständnis von Gefühlen als entweder emanzipatorisch oder unterdrückend greift jedoch zu kurz. Das Phänomen der gespenstischen Souveränität und der neurotischen Subjekte verdeutlicht vielmehr, dass es gegenwärtig darum gehen sollte, über emotionale Eindeutigkeiten hinaus nach den affektiven Deutungszusammenhängen politischer Prozesse, institutionalisierter Politiken und Politiken des Alltags zu fragen und auf diese Weise Affekte in ihrer ambivalenten politischen Wirkmächtigkeit in den Blick zu nehmen. Eine solche politische Grammatik der Gefühle ermöglicht es dann, politische Gefühle und ihre diskursiven Mobilisierungen in ihrer Einbettung in kapitalistische, nationalistische, rassistische und heteronormative Machtverhältnisse fassbar zu machen, um so gerade auf der Basis dieser affekttheoretisch erweiterten Gegenwartskritik nach den Möglichkeiten emanzipativer Veränderung zu fragen.

Zusätzlich verwendete Literatur

Balibar, Étienne (2014): Equaliberty: Political Essays. Duke University Press, Durham. Bargetz, Brigitte (2017): Gespenstische Souveränität und das neurotische Subjekt. Auf den Spuren einer Politik der Angst. In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Winter, 90–94. Bargetz, Brigitte/Eggers, Nina Elena (2023): Affektive Narrative: Theorie und Kritik politischer Vermittlungsweisen. In: Politische Vierteljahresschrift (PVS), 64 (2), 221–246. Berlant, Lauren (2011): Cruel Optimism. Duke University Press, Durham. Brown, Wendy (2010): Walled States, Waning Sovereignty. Zone Books, New York. Brunner, Claudia (2023): Feministische Militarisierung. Zur Aktualisierung eines (scheinbar) paradoxen Phänomens. In: Ausdruck (IMI-Magazin), 2, 15-17, (19.3.2024). Hall, Stuart (2019): The West and the Rest: Discourse and Power [1992]. In: Hall, Stuart: Essential Essays, Volume 2: Identity and Diaspora. Hg. von David Morley. Duke University Press, Durham, 141–184. Isin, Engin F. (2004): The Neurotic Citizen. In: Citizenship Studies (8) 3, 217-235. Krey, Johanna / Bargetz, Brigitte (2024): „be a rebel. fall in love. get married. you deserve it“. Zum Versprechen auf Glück und Rebellion in der rechtskonservativen Mobilisierung von Frauen. In: Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 33 (1) (i.E.). Lorey, Isabell (2022): Kriegerische Männlichkeit und autoritärer Populismus. In: transversal, (19.3.2024). Mau, Steffen (2021): Mauern der Ungleichheit. Die Rückkehr der befestigten Grenzen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik , 8 (21), 61–70, (19.3.2024).

Zitathinweis: Brigitte Bargetz: Der Spuk der nationalen Souveränität. Erschienen in: Politische Gefühle. 71/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/RUd52. Abgerufen am: 07. 12. 2024 10:23.