„Es ist schockierend, dass so wenige Menschen wütend sind“
- Interviewpartner_innen
- Interview mit Pablo und Mari von der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) Tübingen
Emotionen spielen in der Kriegsberichterstattung eine große Rolle. Warum das so ist? Dort wie auch im Krieg selbst stehen hinter ihnen nationalistische Interessen.
kritisch-lesen.de: Ihr setzt euch in eurer Arbeit häufig mit der Medienberichterstattung zum Thema Krieg auseinander. Zum Beispiel in der Dezember-2023-Ausgabe eures Magazins Ausdruck. Was ist euch an diesem Thema wichtig?
MariGrundsätzlich sind Medien von der Gesellschaft nicht leicht zu trennen. Wie die Medien über Krieg berichten und diskutieren, entspricht eigentlich dem, wie die Gesellschaft über Krieg denkt. Und damit in der Konsequenz auch der Politik, die daraus hervorgeht. Die Berichterstattung ist also von der Außenpolitik und der Kriegsführung nicht klar zu trennen. Da wir die Außenpolitik und die Kriegsführung der Bundesregierung sehr kritisch sehen und denken, dass wir dringend von diesem Eskalations- und Aufrüstungskurs wegmüssen, heißt das auch, dass die Berichterstattung kritisch hinterfragt und geändert werden müsste. Welche Berichterstattung meinen wir da im Kern? Die sogenannten Leitmedien diskutieren anders über den Krieg als Medien im weiteren Sinne, zu dem auch Social Media zählt, und wo eher die Meinung der Bevölkerung abgebildet wird als in den Leitmedien, die eher einen Elitendiskurs reproduzieren.
Pablo Kriegsberichterstattung ist, wie jede Berichterstattung, essenziell in der Demokratie, weil die politische Meinungsbildung dort gemacht wird. Wenn man die sozialen Medien einbezieht, können unterschiedliche Medien jeweils Teile der Gesellschaft reflektieren. Aber die Medien einfach als Spiegel der Gesellschaft anzusehen, halte ich für schwierig. Das ist ja durchaus eine Debatte, dass die Kriegsberichterstattung der Leitmedien eben nicht den Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft entsprechen.
MariMittlerweile erfüllen die Leitmedien eine ganz klare Propagandarolle. Da gibt es natürlich auch Ausnahmen, kritische Berichte, die vom herrschenden Kurs, insbesondere der grünen Führungsspitze, abweichen. Aber es herrscht eine Einstimmung der Bevölkerung auf Krieg, auf Eskalation, auf Kriegstüchtigkeit, auf Aufrüstung und auf militärische und gewaltsame Lösungsansätze. Ich finde es relativ spektakulär, was alltäglich von den Leitmedien – ich verfolge insbesondere die öffentlich-rechtlichen – an Lösungsansätzen in der politischen internationalen Arena diskutiert wird. Es heißt immer wieder, Verhandlungen seien nicht möglich, nicht zielführend und die Rahmenbedingungen für Verhandlungen müssten militärisch gesetzt werden. Man muss sich mal vorstellen, was die Lösungsansätze, die von der internationalen Politik vorgeführt werden, eigentlich für den Alltag bedeuten würden. Wenn wir in unserem alltäglichen Umgang auch immer sagen würden, wir müssen jetzt erstmal gewaltsam die Rahmenbedingungen schaffen, um einen Kompromiss auszuhandeln, wohin kämen wir da? Das ist aber genau das, was die Leitmedien mittlerweile suggerieren: Das Militär ist das universelle Lösungsinstrument für jedes internationale Problem.
PabloEs kommen gewisse Assoziationen hoch von Propaganda als zielgerichteter Kommunikation der Herrschenden im Sinne staatlicher Steuerung. Bei den öffentlich-rechtlichen ist das natürlich durch die Personalbesetzung nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber deren Narrative ähneln sehr denen von Zeit, Spiegel und anderen unabhängigen Medien, bei denen wir nicht implizieren, dass das staatlich gesteuerte Kommunikation ist. In den internationalen Beziehungen nennt man das epistemische Gemeinschaften. Es sind gewisse Narrative, gewisse Überzeugungen, die diese Menschen, besonders die etablierten Journalisten und Chefredakteure mit Spitzenpolitikern der Ampelparteien und der CDU ideologisch einen. Solche Ideologien, wie zum Beispiel der Nationalismus, veranlassen diese Menschen dann, in vollster Überzeugung und ohne staatliche Lenkung, diese Narrative zu vermitteln. Und dadurch, dass es dann so breit und geschlossen vermittelt wird, nimmt man andere Sichtweisen in der Gesellschaft nicht so sehr wahr, obwohl die unter Umständen von einer großen Minderheit oder sogar einer kleinen Mehrheit vertreten sind.
MariAnstelle von Propaganda könnte man den Begriff Klassenkampf von oben nutzen. Wir haben uns mit dem letzten Ausdruck-Schwerpunkt ausführlicher damit beschäftigt, warum die Leitmedien, vor allem die Privaten, so dermaßen den Regierungskurs teilen und diesen Klassenkampf von oben führen und so einheitliche Positionen hervorbringen. Da haben wir nur Ansatzpunkte für Erklärungen gefunden.
Mari, du hast in jener Ausgabe die These aufgestellt, dass die Menschen über den Krieg in der Ukraine total schlecht informiert sind, obwohl eine wahnsinnige Menge an Informationen und Berichten zur Verfügung steht. Was meinst du damit? Hilft die These, den geeinten Klassenkampf von oben zu verstehen?
MariDas hat damit zu tun, dass die Leitmedien sich in ihrer Berichterstattung von einer Selbstverpflichtung zur Solidarität mit der Ukraine leiten lassen. Aus dieser Solidarität, die ja im Kern nationalistisch gedacht ist – also, dass Volk, Politik, Militär an einem Strang ziehen und die gleichen Interessen haben – folgt, dass man keine realistischen Schätzungen über die ukrainischen Verluste anstellt. Und selbst wenn es sie gibt, werden sie sehr zurückhaltend bis gar nicht berichtet. Was natürlich eine unvorstellbar große Leerstelle ist. Es wird ganz offen vom Abnutzungskrieg gesprochen. Es werden gerne die russischen Verluste überschätzt. Wie kann man dann zu einer realistischen Einschätzung kommen?
Andererseits werden ukrainische militärische Erfolge sehr intensiv kommuniziert, während russische Erfolge immer relativiert werden. Da wird dann ein vermeintlich strategisch unwichtiger Sieg aufgewogen mit riesigen Verlusten, die nicht belegt sind. Sowohl bei Bachmut als auch Awdijiwka wurde immer gesagt, sie seien strategisch unbedeutend für die russische Eroberung. Was zumindest im letzten Fall ganz klar falsch ist. Das ist eine Stadt, von der aus Donezk, die wichtigste ukrainische Stadt unter russischer Kontrolle, mehr als zehn Jahre von der Artillerie beschossen werden konnte.
Man sieht auch, dass seitdem Russland auf dem Vormarsch ist, ein falsches Bild über die Erfolgsaussichten der Ukraine vermittelt wird. Dieses Bild führt dazu, dass man unter falschen Prämissen Waffen liefert in der Vorstellung, die Ukraine könnte einen vollständigen Sieg erringen, ohne dass auch offen kommuniziert wird, was das bedeuten würde. Und dann werden Ängste der Bevölkerung vor einer möglichen nuklearen Eskalation lächerlich oder mundtot gemacht. Ein ganz zentraler Punkt ist, dass vermittelt wird, dass die Ukraine die Krim zurück erobern könnte und sollte. Das ist militärisch äußerst gefährlich und nur unter massivsten Verlusten irgendwie denkbar. Jede andere Position wird tabuisiert. Wenn jemand sagt, wahrscheinlich ist die Krim für die Ukraine verloren, wie es jetzt kürzlich der polnische Präsident tat, dann fallen alle wie die Insekten über diese Position her. Es wäre wahrscheinlich gerecht und völkerrechtlich korrekt, wenn die Krim in der Ukraine bleiben würde. Aber was gerecht ist und was realistisch ist, muss getrennt werden. Alles andere hat die fatale Dynamik zur Folge, dass man in einen Krieg investiert, der unrealistische Ziele verfolgt, wo der Bevölkerung gesagt wird, wir können diesen Sieg erreichen und dafür brauchen wir noch diese oder jene Waffe. Das ist gefährlich, weil am Schluss – und da muss man offen drüber reden – droht die nukleare Eskalation.
Pablo Einerseits wird nicht über die Verluste berichtet, andererseits wird kommuniziert, dass die Ukraine gerade große Rekrutierungsprobleme hat. Dieser Mangel war ja vorher nicht da, das heißt, es gab schon extreme Verluste. Wir wissen auch, dass ukrainische Männer eigentlich nicht ausreisen dürfen, dass sie es tun, unterminiert das nationale Interesse, welches hier kommuniziert wird. Die Ukraine will weiterkämpfen und nicht verhandeln. Die Ukraine wird so unilateral dargestellt, als wäre sie ein Subjekt, das einheitlich irgendwas wollen würde. Dabei gibt es in der Ukraine Menschen verschiedenster Überzeugungen. Und es gibt eine herrschende Politik. Und wenn wir wissen, dass Präsident Selenskyj nicht verhandeln und gleichzeitig auch keine Wahlen durchführen lassen will, obwohl die jetzt dran wären; dass er den Ober-Kommandeur der Streitkräfte, Saluschny, entfernt, weil der sagt, der Krieg ist unter diesen Bedingungen nicht zu gewinnen; dass Saluschny Selenskyj unter Umständen in den Umfragewerten überholen würde; dann sehen wir, dass dieses Narrativ „die Ukraine will“ sich nicht so ganz eindeutig bestimmen lässt. Alle würden sagen, „ihr könnt der Ukraine das doch nicht aufzwingen, dass die jetzt verhandeln muss, wenn die das nicht wollen“. Aber wer will da was nicht? Man muss schon sehr genau hingucken.
Könnte man schon von so etwas wie einer gezielten Desinformationskampagne sprechen? Wem nützt das?
Pablo Desinformation ist ein Begriff, der aus der strategischen Kommunikation kommt. Ich würde das Wort in einem sachlichen Diskurs meiden, weil es vor allem zur Delegitimierung der russischen Sicht auf die Dinge benutzt wird. Selbst der Versuch, Russlands Position nachzuvollziehen, wird schnell als Desinformation gelabelt. Sei es zum Beispiel, dass Russland sich durch die NATO-Ausweitung nach Osten bedroht fühlt, zusätzlich durch die Aufkündigung von Verträgen der gemeinsamen Sicherheit wie dem ABM-Vertrag oder dem INF-Vertrag, die verbieten, Mittelstreckenraketen in einer gewissen Distanz zum anderen Territorium aufzustellen. Oder, dass die ganze Zeit Manöver durchgeführt werden. Das könnte – ohne Wertung – nachvollziehbar machen, warum sich dieses Land unter Umständen bedroht fühlt. Aber wenn man das sagt, verbreitet man im hiesigen Diskurs schon Desinformation. Dabei ist es erstmal nur ein Narrativ. Es sind Informationen, die hier nicht geschätzt sind, weil sie nicht in die strategische Kommunikation passen. Narrative sind aber nun mal unterschiedlich.
Wenn wir uns jetzt den Krieg in Nahost angucken, gibt es ja auch sehr unterschiedliche Narrative. Aber die deutschen Leitmedien verhalten sich da differenzierter. Wie erklärt ihr das?
Mari Ich würde vielleicht erstmal eine Gemeinsamkeit feststellen. In beiden Fällen haben wir schon eine ziemlich eindeutige Erzählweise, wer den Konflikt angefangen hat. Das ist im Fall der Ukraine der völkerrechtswidrige russische Einmarsch. Doch wer die Vorgeschichte thematisiert, wird ausgegrenzt. In Bezug auf Israel/Palästina stand am Anfang fest, dass es am 7. Oktober mit den fürchterlichen Massakern der Hamas begonnen hat und Israel sich seitdem auf sein Selbstverteidigungsrecht beruft. Lange Zeit gab es kaum Artikel, die nicht das Massaker thematisierten mit der konkreten Zahl an Getöteten. Die Vorgeschichte, den Umgang Israels mit Gaza, mit der Westbank, die Inhaftierungen, die Tötungen, die Übergriffe, die völkerrechtswidrige Besatzung, all die anderen Erzählungen, die auch zum Konflikt gehören, wurden aber nicht gänzlich ausgegrenzt. Hier ist mehr Empathie für die Opfer der eigenen Verbündeten vorhanden. Davon gibt es auch Bilder. Ich weiß nicht, ob ich in der Berichterstattung zur Ukraine jemals konkrete Namen oder Bilder gesehen habe von Zivilist:innen, die vermutlich durch die ukrainische Armee in den russisch besetzten Gebieten getötet wurden. Es ist eine ganz andere Empathie zu sehen mit den vielen palästinensischen Opfern.
Pablo Es gibt Gemeinsamkeiten in der Form des Konfliktes, die sich aber nicht in der Berichterstattung widerspiegeln. Die Gemeinsamkeit ist, dass die Bundesrepublik sowohl die Ukraine als auch Israel mit Waffen ausstattet. Wir liefern schon lange keine Waffen mehr an Russland und schon gar nicht an die Hamas oder die palästinensische Autonomiebehörde. Es fällt den Medien aber zunehmend schwer, eindeutig von einer Verteidigungssituation Israels zu sprechen. Wir sprechen von einem mittleren fünfstelligen Bereich an Opfern auf der Seite Gazas. Weshalb langsam die Verteidigungssituation, die in der Ukraine sehr klar kommuniziert wird – Russland als Aggressor – hier nicht mehr so richtig greifbar ist. Die Ukraine lässt sich viel einfacher emotionalisieren, in dem Sinne, dass den Angegriffenen geholfen werden muss, den Invasoren zurückdrängen. Und da mittlerweile auch den meisten in der Bevölkerung klar ist, dass in nächster Zeit von der Hamas kein größerer Angriff mehr erwartet werden kann und der Genozidvorwurf vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt wird, wird schon ein ganz anderes Licht auf diesen Konflikt geworfen. Es werden viel eher beide Narrative gleichzeitig bedient. Da sterben auf beiden Seiten Menschen, nicht wie in der Ukraine. Dort sterben russische Soldaten und ukrainische Kinder.
Und so versucht man in Bezug auf Israel/Palästina die ganze Zeit einen sehr neutralen Blick, als wäre das irgendwie ein normaler militärischer Konflikt, um nicht so viel Empörung reinzugeben. Denn die Empörung würde sich ja gegen unseren Verbündeten richten, den wir mit Waffen beliefern und der nun das rund 20-fache an zivilen Opfern bei der Gegenseite verursacht hat, während bei der Ukraine diese Emotionalisierung aufrechterhalten wird und sich nur sehr langsam in Richtung Sachlichkeit bewegt.
Mari Die Widersprüche zwischen Regierungsposition und Realität sind in der Ukraine wie in Israel/Palästina gegeben. Sie sind unterschiedlich, aber in der Ukraine werden sie mit aller Gewalt weggeglättet, während das bei Israel/Palästina nicht funktioniert. Aber warum das so ist, kann ich mir nicht erklären. Vielleicht spielt da Antisemitismus oder ein spezielles Verhältnis der deutschen Bevölkerung zu Israel eine Rolle.
Pablo Ich glaube, dass diese Emotionalisierung in der Ukraine und das Aufrechterhalten des Narratives besser funktioniert, da die Ukraine de facto gegen einen gemeinsamen Feind kämpft und sich verteidigt. Und das ist viel besser vermittelbar als die Verteidigungsposition Israels, die nach dem 7. Oktober zwar sehr gut vermittelbar war, aber es jetzt nicht mehr ist. Dieses Narrativ trauen sich die Medien, private aber auch öffentlich-rechtliche, nicht mehr so eindeutig zu vermitteln.
Spielen also Emotionen in der Kriegsberichterstattung eine zweckmäßige Rolle? Manchmal mehr, manchmal weniger? Welche Gefühle haben Kriegsnutzen?
Pablo Zuerst würde ich die Empörung und die Betroffenheit nennen, die die Solidarität zu den als solchen auserkorenen Opfern erzeugen und auch die Ablehnung gegen den als diesen auserkorenen Aggressor und das Gefühl, ihn besiegen zu wollen.
Mari Es wird – weniger in der Nachrichten-Berichterstattung als in der durchgehenden Medienberieselung – Hass und Wut auf Putin und das Russische erzeugt. Ein ganz typisches Motiv ist, dass der Feind der eigenen Verbündeten personifiziert wird. Da wird nicht differenziert zwischen den Russ:innen und dem Militär. Es wird berichtet, als würde Putin persönlich hinter jedem einzelnen Angriff stehen, etwa wenn gesagt wird, er ist verantwortlich für den Tod Nawalnys. Das ist auf eine Art sicher richtig. Ob aber Putin so vollständig das Justizsystem kontrolliert?
Ansonsten muss ich sagen, dass in der Berichterstattung vor allem eine Ausschaltung von Emotionen stattfindet, die eine Solidarisierung mit den Opfern auf Seiten der eigenen Gegner herstellen könnte. Und zwar sehr konsequent. Das ist ein unglaublich starkes Phänomen, das vor allem immer, wenn die NATO im Spiel ist, zu beobachten ist. In dem Moment, in dem die NATO in den Krieg eintritt, sieht man so gut wie keine Opfer der Gegenseite mehr. Das war im Jugoslawienkrieg so, vorher hatte man Opfer auf beiden Seiten gesehen. Dann starteten die Nato-Jets und man sah nur noch die eigene Militärtechnik. Das wiederholt sich überall. Syrien und Libyen finde ich ganz spektakulär. Jeden Tag hat man über einen Bürgerkrieg gehört. In dem Moment, wo sich die NATO eingeschaltet hat, gab es nur noch nackte Zahlen und eigene Militärtechnik. Das ist im Fall der Ukraine auch so.
Wir haben vorhin gesagt, es gebe im Grunde keine staatlich gelenkte Propaganda. Aber wir dürfen nicht unterschätzen, welche Gedanken sich vor allem das US-Militär nach Vietnam zum Umgang mit der Presse gemacht hat, zu embedded journalism. Da gibt es Konzepte und jahrzehntelange Erfahrung. Trotzdem, dass das so gut funktioniert und dass wirklich so gut wie keine Bilder durchdringen trotz Social Media, kann ich in diesem Umfang nicht erklären.
Pablo Es gibt jedoch natürlich halbwegs einflussreiche Medien, die tatsächlich zu einer Emotionalisierung und Empörung über die palästinensischen Opfer tendieren und die das nicht so kalt lässt, wie die meisten Leitmedien. Und Medien, die den Ukrainekonflikt, den Angriff Russlands und die Opfer nicht ganz so emotionalisiert darstellen, sondern auch da versuchen, eher strukturelle, lösungsorientierte Ansätze zu formulieren.
Neben Empörung und Betroffenheit gibt es in Bezug auf die Ukraine auch die andere Seite, das Gefühl der Einigkeit, der Stärke, so habe ich es noch nie wahrgenommen in einem Krieg. Diese Demonstration, Europa ist stark und geeint solidarisch mit der Ukraine, dieses Gefühl wird ganz groß gefeiert. Weil „wir“ alle Opfer bringen müssen: Wir müssen die Inflation zahlen, wir müssen das Sondervermögen zahlen, mit dem sich der Militärhaushalt nahezu verdoppelt. „Wir sind stark, wir drängen den Angreifer zurück. Wir sind die moralischen Guten, die zusammenhalten.“ Ein ganz typisches Gefühl der Kriegsberichterstattung in diesem Konflikt.
Mari Ich würde am Beispiel der Ukraine noch ein generalisierbares Phänomen ansprechen, das wir alltäglich sehen, uns aber nicht mehr auffällt. Aufbauend auf dem methodischen Nationalismus, also der Personifizierung der Ukraine, werden viele Begrifflichkeiten, die eigentlich in die zwischenmenschliche Sphäre gehören, auf den Staat angewandt. Aktuell haben wir in der Taurus-Debatte einen immer wieder vehement vorgetragenen Vorwurf an den Kanzler, der keine Marschflugkörper schicken will, er hätte kein „Vertrauen“ in die Ukraine. Vertrauen ist ein völlig unpassender Begriff für einen kriegsführenden Staat. Oder andere Metaphern, wenn es um Waffenlieferungen geht: die Ukraine ausbluten lassen, am langen Arm verhungern lassen. Da gibt es ganz viele Begrifflichkeiten, die eine einheitlich gedachte Nation personifizieren. Das hatten wir vom ersten Tag an mit dem Begriff der Solidarität. Solidarität muss unter Menschen stattfinden, nicht zwischen Nationen und ihrem Militär.
Es gibt ja auch Unterschiede in den Darstellungen verschiedener Emotionen, die bestimmten Beteiligten in Konfliktsituationen zugesprochen werden. Zum Beispiel eine soldatische Männlichkeit, heroische Gefühle wie Mut, Entscheidungsfestigkeit. Auf der Opferseite finden wir eher die weichen Emotionen, die weiblich gegendert sind, die Trauer, den Schmerz. Wenn wir Ukraine und Nahost vergleichen sehen wir, dass aus einer Geschlechterperspektive den Frauen und der Zivilbevölkerung in der Ukraine eine Art von heroischer Stärke zugeschrieben wird. Im Nahostkonflikt sieht man eher eine Mutter, die weint. Warum werden hier geschlechtercodierte Emotionen unterschiedlich verwendet?
Pablo Ich finde auch, dass die Opfer in Gaza viel weiblicher und weicher und viel mehr Verzweiflung gezeigt wird. Gestern habe ich in der Zeit gelesen über Menschen in Geflüchteten-Camps in Rafah oder Gaza Stadt. Ihr Leben besteht daraus, für Wasser anzustehen, fürs Handyladen anzustehen, für eine Toilette anzustehen und wenn man Glück hat, irgendwo beim Anstehen etwas zu Essen zu kriegen. Diese Härte wird zunehmend gezeigt. Aber diese heroischen Gefühle, wie sie für die Ukraine produziert werden, sieht man dort nicht. Wenn man sich die Machtverteilung faktisch anschaut, dann ist es schon auch wahrheitsgemäß, in Palästina einfach nur Verzweiflung zu zeigen.
Über die Ukraine sehen wir eher die heroischen Portraits: „Wir halten das durch. Wir bringen uns alle ein.“ Frauen, die in der Waffenproduktion oder als Sanitäterinnen arbeiten, Frauen als starke Kämpferinnen. Das soll natürlich das Bild vermitteln, dass die ganze Ukraine geschlossen hinter diesem Krieg steht. Und die Frauen sagen „Ja, es ist gut, dass mein Mann kämpft und das Land verteidigt. Deswegen stehe ich hier und versorge die Verwundeten.“ Aber solche Berichte haben abgenommen seit Ende 2022, es ist fraglich, inwieweit die Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung noch so eindeutig ist wie damals.
Mari Ich kann mich noch erinnern, wie schockiert ich in den ersten Monaten nach dem russischen Einmarsch war. Es war wie ein schlechtes Omen, dass diese als weiblich beschriebene Konnotation der ukrainischen Nation, für die man Solidarisierung herstellen wollte, so wenig stattgefunden hat. Von Anfang an wurde ein männlich-martialisch-militaristischer Nationalismus in den deutschen Medien reproduziert. Das war schwer nachvollziehbar. Da wurde unmittelbar das Narrativ bemüht vom Mann, der kämpfen muss, um seine Frau und seine Kinder zu beschützen, damit die nicht vom Russen vergewaltigt werden. Die ukrainische Nation ist sehr männlich gedacht, ein interessantes Phänomen. Ich glaube, sieben Prozent der ukrainischen Armee sind Frauen. Trotzdem werden ukrainische Soldat:innen so gut wie nie gegendert. Das müsste man mal genauer untersuchen: In welchen Situationen wird eigentlich viel Wert aufs Gendern gelegt und wann nicht?
Mit Emotionen wird also eine Handlungsfähigkeit zu- oder abgeschrieben und gegebenenfalls strategisch überbetont. Sind Emotionen in der Berichterstattung immer irgendwie fake? Wie kann man Emotionen positiv nutzen für Antikriegsberichterstattung?
Mari Für die IMI kann ich sagen, dass wir zwar keine Policy haben, aber ein sehr distanziertes Verhältnis. Wir haben uns seit vielen Jahren an keinen Publikationsprojekten beteiligt, die zum Beispiel mit Bildern getöteter Kinder agieren. Grundsätzlich finde ich, dass die Darstellung von Kriegsopfern eine strukturelle Nähe zu Nationalismus und einem Freund-Feind-Denken hat und geeignet ist, Hass gegen eine Seite zu schüren und damit einen Konflikt zu perpetuieren, zu eskalieren oder militärische Gewalt zu rechtfertigen. Aber Wut ist grundsätzlich eine wichtige Emotion für die politische Auseinandersetzung, wenn sie sich nicht gegen eine Nation richtet oder verbunden ist mit der Hoffnung, dass die eigene Regierung das Militär schickt oder ein anderes Militär ausrüstet. Wir haben gute Gründe, wütend zu sein. Es ist schockierend, dass so wenige Menschen wütend sind und die Aufrüstung, das Sterben und das Verlängern von Kriegen hinnehmen.
Pablo Ich bin nicht generell gegen Emotionalisierung, um Solidarität mit den Opfern aufzubauen. Gerade werden im Gaza-Konflikt die Emotionen von vielen Medien eher runtergekocht, bevor die Solidarität mit den Opfern der israelischen Bombardierung zu groß wird und man sich zum Beispiel gegen Waffenverkäufe der Bundesregierung an Israel stellen würde, wo mehr Empörung gut täte. Aber trotzdem stehe ich hinter dem, was wir mit der IMI machen, denn sowohl der Konflikt zwischen den Palästinensern und Israelis wie auch der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine braucht strukturelle Antworten. Es braucht ein vom Konflikthergang und den Opfern losgekoppeltes Denken, um zu sagen, welche institutionelle Lösungen man erarbeiten könnte: Power Sharing, Übergangszeiten, Referenden, Beobachtungen, entmilitarisiertes Zonen und so weiter. Um über unsere in uns brennende Moral hinweg auch zum Realismus zu kommen, hilft es oft nicht, die Emotionen aufkochen zu lassen.
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Das Interview führten Johanna Bröse und Andrea Strübe