Alles über die eigene Mutter
- Buchautor_innen
- Didier Eribon
- Buchtitel
- Eine Arbeiterin
- Buchuntertitel
- Leben, Alter, Sterben
Nach der Rückkehr nach Reims setzt sich Eribon mit seiner Mutter auseinander und fragt, wie der Umgang mit dem Altern nahestehender Menschen und ihrer Geschichte in der Klassengesellschaft aussieht?
Mit der Übersetzung von Rückkehr nach Reims, die 2016 erschien, geriet der französische Philosoph Didier Eribon auch in der deutschen Öffentlichkeit in den Blick: Das Buch wurde ein Bestseller und insbesondere in der gesellschaftlichen Linken wurde es kontrovers diskutiert. Der Suhrkamp Verlag übertreibt nicht, wenn er auf dem Umschlag des neuen Buches schreibt, der Titel von 2016 sei „als literarisches Ereignis und als Schlüsseltext zum Aufstieg des Rechtspopulismus rezipiert“ worden. In der Soziologie wird er deshalb auch der soziologischen Gegenwartsdiagnose zugeschlagen. In der im Original im Jahr 2023 erschienenen Fortsetzung seiner autobiographischen Annäherung – das Buch „Eine Arbeiterin“ – verlagert Eribon den gesellschaftsanalytischen Anteil des Buches auf die Ebene der alten Menschen und ihrem gesellschaftlichen Schicksal, und betreibt wie im Vorgänger eine engmaschige, detaillierte Analyse seiner eigenen Biografie, hier entlang der sich wandelnden Beziehung zwischen Mutter und Sohn.
Über den gesellschaftliche Umgang mit Tod
Im Fokus des Buches steht also Eribons Mutter, mit der sich der Schriftsteller nach dem Tod des Vaters wieder angenähert hat. Er schildert wortgewandt und analytisch scharf ihr Altern bis hin zu ihrem Tod, der in der Plötzlichkeit dann doch überraschend kommt. Zugleich reflektiert Eribon in der Auseinandersetzung mit ihrem Leben seinen Klassenverrat und seine fortdauernden Konsequenzen; darüber, wie er seiner sozialen Herkunft – der Arbeiterklasse – als Intellektueller abtrünnig wurde und setzt hierin seine Arbeit von Rückkehr nach Reims fort.
Eribons Werk ist zugleich eine scharfe Kritik des gesellschaftlichen Umgangs mit alten Menschen und der (französische) Klassengesellschaft innerhalb der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse. Berührende Schilderungen der familiären Zustände mit allen ihren Fallstricken, der Analyse der Wirkmächtigkeit sozialer Klassenherkunft, Fragen von gegenseitiger Akzeptanz zwischen Mutter und Sohn. Alltägliche Beobachtungen, Auseinandersetzungen und tiefe Verletzungen, der Wechsel von Distanz, Entfremdung und Nähe und Vertrautheit wechseln sich ab mit analytischen Überlegungen zum Altern anhand der Auseinandersetzung mit thematisch einschlägigen Titeln von Simone de Beauvoir, „Das Alter“ und Norbert Elias‘ „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“.
„Ich muss gestehen, dass das gemeinsame Fernsehen, auch wenn es dabei zu unangenehmen Szenen kam, eine Möglichkeit war, Zeit miteinander zu verbringen, ohne krampfhaft nach Gesprächsthemen suchen zu müssen. […] Schließlich ist es einer der großen Vorzüge von Beziehungen zu uns nahestehenden Menschen […] dass man gemeinsam schweigen kann. […] Wir fühlten uns wohl in der Gegenwart des anderen“ (S. 192f.)
– so schildert Eribon die Momente der Vertrautheit und Ruhe in der Gegenwart, die aber dann doch immer wieder zerrissen werden: seine Mutter konfrontiert ihn immer wieder mit der Vergangenheit, seinem Heranwachsen und seinem Anderssein. Eribon bewertet dies als wenigstens gedankliche Rückkehr und Zurückversetzung „in die Vergangenheit, […] in jene Zeit vor meinem Auszug beziehungsweise vor der Entfremdung und inneren Abspaltung, die meinem Auszug vorausgegangen waren“ (S. 158).
Lektionen
Das Buch gerät zu einer Mahnung für linke Menschen. Denn was Eribon anhand seiner eigenen familiären Biografie beschreibt, ist das Ringen um die gelingende Art und Weise, mit dem Altern, schwerwiegenden Erkrankungen und schließlich dem Tod der eigenen Eltern (oder, so ließe sich problemlos übertragen, anderer, geliebter, nahestehender Personen) und letztlich auch mit dem eigenen Altwerden umzugehen. Beides, so lässt sich daraus ableiten, sollte nicht verdrängt, sondern im Gegenteil: gut organisiert werden.
Wie bei der „Rückkehr nach Reims“ geht es thematisch um die Befreiung aus den eigenen familiären Verhältnissen und den souveränen Umgang mit den Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Dass Eribons Mutter Arbeiterin war, spielt erst gegen Ende des Buches eine größere Rolle (und wird in Rückkehr nach Reims sehr viel intensiver geschildert; es empfiehlt sich, beide direkt hintereinander zu lesen). Man kann es als eine Geschichte des Scheiterns lesen: Dem linken, akademischen Intellektuellen – der seiner Klasse erfolgreich, aber nicht ohne Narben, entflohen ist, der seine eigene Freiheit gewonnen hat, selbstbestimmt der zu sein, der er will – gelingt es nicht, mit seiner Mutter und mit seinen Brüdern, die allesamt im Proletariat verblieben, eine gelingende (politische oder persönliche) Konversation und Diskussion zu führen, an deren Ende das gemeinsame Ziel einer offenen, besseren Gesellschaft stünde. Im Gegenteil: Seine Mutter vertritt offen rechte Positionen – was Eribon insbesondere in ihrer rassistischen Sprache bis ins Mark trifft, die ihn an die eigenen erlittenen Beleidigungen und Beschimpfungen erinnern – und hat sich längst von linken Parteien und linker Politik verabschiedet. Eribon versucht dies zu ignorieren und die verbliebene gemeinsame Zeit ohne Diskussionen und Streits zu verbringen.
Es verläuft ein tiefer Riss zwischen den familiär gebundenen Menschen – und zumindest die rechte Seite, im Buch verkörpert durch seine Brüder, hat kein Verständnis dafür, was die andere so tut und wofür sie steht. An keiner Stelle wird angedeutet, dass Eribon als Intellektueller für seine Schaffen Anerkennung erhält oder es Verständnis für seine Lebensentscheidungen gibt. Es gibt keine positiven Verbindungen und es gibt auch niemanden, der gewillt wäre, diese zu schaffen. Auch Eribon selbst nicht, der auch kein Interesse am Leben seiner engsten Verwandtschaft zeigt. Es ist schließlich eine entfernte, junge Verwandte, „Großcousine – Großnichte?“ (S. 151f.), mit der er Kontakt hat, zustande gekommen über das Theaterstück zu Rückkehr nach Reims, das sie zur Lektüre des Buches animierte und den Kontakt suchen ließ.
Mit Eribons Reflexionen zugespitzt formuliert: Um die Beziehungen zwischen den linken intellektuellen Denker:innen und der Arbeiter:innen-Klassen steht es, milde formuliert, nicht gut, und wie daraus etwas Gemeinsames erwachsen soll, ist vollkommen unklar. Vielleicht ließe sich dies angesichts gegenwärtiger Krisen verändern: mit Blick auf deutsche Verhältnisse etwa mit breiten Bündnissen in der Wohnungsfrage oder dem prekären Dasein akademischer Intellektueller, die systematisch an den hiesigen Universitäten keine dauerhafte Perspektive haben. Der Zwang zur Lohnarbeit betrifft den akademischen Raum eben auch heftig und hier ergeben sich Anknüpfungspunkte für ein gemeinsames Bewusstsein gegen die kapitalistischen Verhältnisse. Eine fast schon utopisch anmutende Idee, die auch gar nicht mehr Gegenstand der Darstellungen Eribons sind.
„Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr [der Mutter] mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben“ (S. 227), schreibt Eribon im letzten Absatz der Alltagsszenen, die dem vierten und letzten Kapitel vorangehen. Aber um seiner selbst willen ist der Kampf um die Weltaneignung und um das eigene Sein gepflastert mit Zorn und Schmerz; aber es gibt Situationen und Verhältnisse, in denen dieser geführt werden muss, um die Freiheit zur Entfaltung zu erlangen. Und gegen Eribon: Nicht zuletzt anhand dieser Schilderungen wird deutlich, dass man der Herkunftsfamilie kaum bis nichts schuldig ist – nur muss man erst eine Position erkämpfen, aus der heraus man das erkennen kann. Das bedeutet nicht zu negieren, was Eribon am Ende erkennt: „Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin“ (S. 227). Aber wie hätte er anders als geschildert einigermaßen unbeschädigt seinen Weg und seine eigene Identität finden sollen?
Ein anregendes, enorm facettenreiches, berührendes, wichtiges Buch.
Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben. Übersetzt von: Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3518431757.
271 Seiten. 25,00 Euro.