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NSU - Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung Ausgabe Nr. 61, 12. Oktober 2021

NSU - Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung © Henning Schlottmann

In den Jahren 2000 bis 2007 ermordete der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) zehn Menschen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Bei weiteren Anschlägen wurden zahlreiche Menschen teilweise schwer verletzt.

Am 4. November 2011 wurden die beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem brennenden Wohnmobil in Eisenach entdeckt. Ein weiteres Mitglied, Beate Zschäpe, stellte sich kurz darauf der Polizei. Die Selbstenttarnung des NSU wurde – zumindest vorläufig – zum Kristallisationspunkt des neuen deutschen Faschismus.

Zuvor hatten die Behörden jahrelang im Umfeld der Betroffenen nach den Täter*innen gesucht und dabei Opfer und Angehörige kriminalisiert. Der NSU-Komplex offenbarte damit nicht nur den strukturellen Rassismus deutscher Behörden, der noch von den Leitmedien und der Boulevard-Presse kräftig angeheizt wurde, sondern machte auch deutlich, wie realitätsfern die Rede von den „Einzeltäter*innen“ ist. Die Ermittlungsbehörden stellten den NSU verharmlosend und grundfalsch als ein rechtsradikales Trio dar, obwohl es sich hier nie um eine isolierte Terrorzelle handelte, die autonome Entscheidungen traf: Ein Netzwerk an Unterstützer*innen organisierte Waffen, mietete Wohnungen an, besorgte Papiere und Unterlagen, kümmerte sich um finanzielle Unterstützung und kundschaftete das Umfeld der Opfer aus. Dieses äußerst aktive und brandgefährliche Netzwerk der extremen Rechten existiert seit Jahrzehnten und erstreckt sich international über Landesgrenzen hinweg. Auch der Verfassungsschutz spielte dabei eine unrühmliche Rolle und zeigte sich einmal mehr als Teil des Problems. Über Jahre hinweg unterstützte er durch den Einsatz von V-Leuten den Aufbau dieser rechten Netzwerke und verschaffte somit auch dem NSU die Basis für dessen Morde. Nicht nur diese Verstrickungen der deutschen Behörden, sondern auch die Verhandlungen und Urteile des NSU-Prozesses in München zeigten wiederholt, dass konsequente Aufarbeitung rechter und neonazistischer Taten in Deutschland nicht gewollt ist.

In den Folgejahren verübten Rechtsterroristen weitere Terroranschläge, unter anderem 2016 im Münchner OEZ, 2018 in Halle an der Saale und 2020 in Hanau. In der Berichterstattung wiederholen sich rassistische Muster, von abwertenden Vergleichen über eine Formulierung der „Fremdheit“ der Opfer. Und jedes Mal sprechen Politiker*innen und die bürgerliche Presse von einer neuen Qualität der Gewalt, ohne sehen zu wollen, dass es sich hier um ein strukturelles Problem handelt. Zudem werden immer wieder rechte Netzwerke in der Polizei und der Bundeswehr aufgedeckt. Doch viel zu oft fällt diese investigative Aufgabe antifaschistischen Aktivist*innen oder Journalist*innenkollektiven zu.

In unserer aktuellen Ausgabe geht es um die Fragen: Was hat sich seit der Selbstenttarnung des NSU vor zehn Jahren bis heute getan, auf politischer, institutioneller und aktivistischer Seite? Was muss geschehen, um eine wirkliche Aufarbeitung der vielen terroristischen Akte zu bewirken? Welche Konsequenzen zog die Mitverantwortung des Verfassungsschutzes und weiterer Staatsbehörden nach sich? Wie können wir gegen die Kontinuitäten rechter Netzwerke angehen? Und auch: Wo gibt es Selbstorganisierung, Öffentlichkeit und Widerstand gegen die rassistischen Zumutungen und strukturellen Versäumnisse, die seitdem ans Tageslicht geholt wurden?

Im Zuge dessen möchten wir auf die aktuell stattfindende Wanderausstellung Offener Prozess (derzeit in Berlin und in Chemnitz, mit weiteren Stationen in den kommenden Monaten) sowie das interdisziplinäre und dezentrale Theaterprojekt Kein Schlussstrich! hinweisen. Schickt uns gerne weitere Veranstaltungsankündigungen oder Hinweise zu aktuellen Veröffentlichungen zu, wir werden diese in unseren Kanälen weiterleiten.

Wir wünschen wütendes, lehrreiches und empowerndes kritisches Lesen!

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