Nicht aufhören zu fragen!
- Buchautor_innen
- Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.)
- Buchtitel
- NSU-Terror
- Buchuntertitel
- Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse
Die politische Auseinandersetzung mit dem NSU hat sich, auch unter linken Aktivist_innen, sehr schnell auf den Verfassungsschutz verengt. Wie eine gesellschaftliche Konfrontation mit den Morden des NSU aussehen kann, zeigt dieser Sammelband.
Auf den Büchertischen zum Thema NSU fehlt der 2013 erschienene Sammelband von Jasmin Siri und Imke Schmincke zumeist. Auch auf den Podien der Diskussionsrunden zum NSU sitzt, mit Ausnahme von Angelika Lex, so gut wie nie jemand der Beitragenden des Sammelbandes „NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontext, Diskurse“. Stattdessen liegt der Fokus zumeist auf dem Verfassungsschutz sowie den Netzwerken und Verstrickungen von militanten Neonazis und ihren verbeamteten Unterstützer_innen. So wie die Themensetzungen in der Debatte um den NSU begrenzt werden, gestaltet sich auch die politische Auseinandersetzung: Das Hauptaugenmerk liegt darauf, den Neonazis und staatlichen Behörden hinterher zu recherchieren und auf dieser Basis eine Kritik am Verfassungsschutz zu formulieren, die über Fragen einer Reformierung hinaus geht.
Dass diese Ermittlungen, Untersuchungen und Forderungen wichtig sind, steht nicht zur Debatte. Sind sie aber die einzige Form der Auseinandersetzung, beschränken sie den Kreis derjenigen, die an der so zugespitzten Auseinandersetzung mit dem NSU teilnehmen können. Investigative Journalist_innen und Recherchegruppen werden zu Protagonist_innen einer Auseinandersetzung, die für das Publikum erschreckend und aufwühlend ist, angesichts immer gleicher Namen und Gesichter von Neonazis und V-Personen jedoch ebenso verwirrend. Da man das unüberschaubare Geflecht, das den NSU-Komplex bildet, kaum noch überblicken kann, bringt sich auch zumeist niemand in die Auseinandersetzung mit ein – ein Spezialpublikum für kompetente Referent_innen entsteht, bei einem Thema, das dringend einer gesamtgesellschaftlichen Debatte bedarf.
Hier setzt der Band von Siri und Schmincke an und führt eine Auseinandersetzung mit dem NSU nicht aus der Position des Enthüllungsjournalismus, sondern unter gesellschaftstheoretischen Fragestellungen. Der Fokus liegt auf Kontextualisierung und Analyse; folgerichtig erschien der Band in der Verlagsreihe „XTEXTE“, die sich interdisziplinären Zeitdiagnosen widmet. Siri und Schmincke versammeln auf etwas mehr als 200 Seiten eine beeindruckend vielfältige Zahl an Autor_innen und Standpunkten zum NSU. Der Band ist ein Cross-Over-Format: Analytische Aufsätze wechseln sich mit Interviews, Redebeiträgen und Lyrik ab. Das ist unkonventionell und überraschend, angesichts des komplexen Themas NSU aber sehr passend. Da das beständige Schweigen staatlicher Institutionen eine lückenlose Aufklärung unmöglich macht, braucht es eine vielfältige Auseinandersetzung. Deshalb ist es auch so bitter nötig, dass nicht nur Ermittler_innen, sondern eine Pluralität an Akteuren das Feld der gesellschaftlichen Thematisierung betritt.
Genau dies vollbringen Siri und Schmincke mit den hier versammelten Autor_innen. Es sind Aktivist_innen, Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen, Anwält_innen, Journalist_innen und mit Herta Däubler-Gmelin auch eine ehemalige Justizministerin, die hier zu Wort kommen. Das Buch schafft Raum, um Rassismus und seine Bedeutung für die Genese von Gesellschaft zu diskutieren. Dies geschieht auf ganz unterschiedliche Weise: Einen analytischen Zugang bietet beispielsweise der Beitrag von Manuela Bojadžijev, während Autor_innen wie Imran Ayata, Nadia Shehadeh und Yvonne Boulgaridis sich dem Thema subjektiv annähern und die Lesenden an ihren ganz persönlichen Gedanken und Empfindungen zum NSU teilhaben lassen. Durch den Sammelband wird eine Vielzahl an Sprecher_innen mit ihren Positionen hörbar, die in der aktuellen Auseinandersetzung ignoriert werden oder unterrepräsentiert sind. Der NSU wird in analytische wie persönliche Kontexte gebracht, wodurch eine eine Vielfalt an Aushandlungsebenen geschaffen wird. Das bedeutet aber auch, dass nicht jeder Beitrag mit einem klaren Statement oder einer zentralen These zum NSU aufwartet. Es sind Beiträge, an die eine gesamtgesellschaftliche Debatte anschließen könnte.
Gleich eingangs wird von Lotta Mayer klargestellt: Das Erstaunen über den NSU ist das eigentlich Erstaunliche. Denn der NSU ist nicht eine rechtsterroristische Randgruppierung, sondern bewegte sich innerhalb eines gesellschaftlichen Klimas, das Migrant_innen und dabei insbesondere Muslime, als kulturell entgegengesetzt begreift und damit eine Fortschreibung des Rassismus auf der Ebene der Kulturalisierung betreibt. Dass sich der NSU in gesellschaftlichen Zusammenhängen bewegte, zeigen insbesondere Armin Nassehi und Lutz Hachmeister.
An die kurze Bestandsaufnahme zu Beginn schließen Beiträge zur Kontextualisierung der Ereignisse an. Das Besondere dabei ist, dass im Gegensatz zu den anderen erschienenen Publikationen eben nicht nur der Verfassungsschutz und Neonazikader im Mittelpunkt stehen. Andere Fragen und Reflexionen zu Gesellschaft und Politik scheinen hierbei mit auf, nicht nur, weil der Kreis der Sprecher_innen über die Politologen und investigativen Journalist_innen erweitert wird, sondern auch, weil mit den Beiträgen von Moritz Assal und Mathias Falter der Verfassungsschutz im Kontext politischer Praktiken und Ideologien, wie dem Extremismuskonzept, untersucht wird. So werden nicht einzelne Institutionen und Akteure, sondern politische Verhältnisse wieder zum Thema der Auseinandersetzung. Falk Neuberts nüchterne politische Chronologie Sachsens ist dabei eine harte Konfrontation mit den politischen Konstanten. Die beiden Beiträge zur bayerischen Asylbewerber_innenunterkunft Böbrach spannen die Kontextualisierung noch weiter auf, allerdings werden dabei die Gesamtzusammenhänge undeutlich.
Der dritte Abschnitt konzentriert sich auf die Diskursivierung des NSU in vier unterschiedlichen und ebenso spannenden Aspekten: Der Verknüpfung von Rechtsextremismus und Ostdeutschland, der Art und Weise, wie Rassismus thematisiert wird, der Konstruktion von Geschlecht in der hegemonialen Rezeption des NSU sowie einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle von Journalist_innen und Medien während und nach der Morde.
Die thematisch fokussierten Texte werden mit vier übergreifenden reflexiven Beiträgen zu Bedeutung und Verschiebungen durch und seit dem NSU abgeschlossen. Insgesamt bleibt es jedoch bei einem Antasten der gesellschaftlichen Thematisierung, die Beiträge sind mitunter überraschend kurz, als wären sie Gedankenprotokolle der einzelnen Autor_innen zum NSU. Sie sind weniger distanzierte Abhandlungen, sondern vielmehr das Eröffnen einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
Wie Fabian Virchow in seinem Beitrag zur prismatischen Bedeutung des NSU anmerkt, handelt es sich um skizzenhafte Überlegungen zur Analyse des NSU und der deutschen Gesellschaft. Die Gründe dafür sind auch in der Zeit und den Entstehungsumständen des Sammelbandes zu sehen: Es handelt sich um das Folgeprojekt einer Ad-Hoc-Gruppe auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2012. Der Band muss als erster Entwurf, als Beginn einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NSU, verstanden werden. Einige der Analysen wirken daher auch im freien Raum stehend, manche Verbindungen fehlen, und die theoretische Basis ist mit der starken Bezugnahme auf kritische Theorie zu stringent ausgefallen. So ist der Rekurs auf Elias Canettis Konzept der „Hetzmeute“ zwar in jedem Fall besser als die landläufige Figur des „Terror Trios“, jedoch ist es gerade für ein so komplexes Feld wie die gesellschaftstheoretische Analyse des NSU auch nur ein begrenzter analytischer Schritt. Entscheidend ist aber, dass sich angesichts der marginalen und oft einseitigen Auseinandersetzungen im Land des NSU entschlossen wurde, Ansätze, Ideen und erste analytische Überlegungen zu unternehmen, sich zu positionieren, Fragen aufzuwerfen und damit der Sprachlosigkeit entgegenzuwirken.
NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2394-9.
224 Seiten. 22,99 Euro.