Deutsche Nazis morden nicht
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- Wolfgang Schorlau
- Buchtitel
- Die schützende Hand
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- Denglers achter Fall
Der NSU-Komplex als Kriminalroman ist ärgerlich und teilweise schwer auszuhalten.
Offenbar fällt es manchen Leuten schwer sich vorzustellen, dass deutsche Nazis Menschen ermorden. Das ist verblüffend, denn Nazis reden nicht nur ständig über ihre Mordphantasien und -absichten, es ist auch in der Praxis das, was sie besonders gut können. Wäre man Zyniker, könnte man sagen: Deutsche Nazis halten hier den Weltrekord. Ungeachtet dessen erklärte mit Bezug auf den NSU beispielsweise der Berliner Totalitarismus- und Extremismusforscher Klaus Schroeder in einem Interview gegenüber der Chemnitzer Freien Presse am 20. Januar 2012: „Dass gezielt gemordet wird, hätte ich nie für möglich gehalten“.
Den NSU-Komplex hat Wolfgang Schorlau bereits 2015 als achten Fall in der Reihe seiner Georg-Dengler-Krimis verarbeitet. Es ist das gute Recht eines Schriftstellers, ein reales historisches Geschehen zu gestalten, dabei von der Wirklichkeit abzuweichen und einen eigenen Erzählstrang zu konstruieren, der sich nicht daran messen lassen muss, ob er die „wahre“ Geschichte erzählt, sondern daran, ob er spannend und unterhaltsam ist (denn Krimis sind Unterhaltungsliteratur) beziehungsweise ob er künstlerisch als gelungen gelten kann. Und schon das Genre verlangt, dass am Ende des Romans eine Lösung steht oder zumindest angedeutet wird. Es ist nicht der Anspruch dieser Besprechung, eine Kritik der literarischen Qualität des Romans zu liefern. Wenn indes faktisch alle Figuren wie gestanzt wirken – wobei insbesondere die Frauen- und Männerbilder schwer auszuhalten sind –, wenn die Situationen und Interaktionen, die erzählt werden, eine Vielzahl abgedroschener Klischees reproduzieren, dann sagt das vermutlich etwas darüber aus, wie das Buch insgesamt gestrickt ist.
Literarische Fiktion oder Dokumentation?
Im Mittelpunkt der Krimihandlung steht die Auffindesituation der Leichen von Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos im gemieteten Wohnmobil im Anschluss an einen Banküberfall in Eisenach im November 2011; ein Ereignis, das auch als „Selbstenttarnung des NSU“ gilt. Schorlaus Held, der Stuttgarter Privatdetektiv und frühere Zielfahnder des BKA Georg Dengler, schlussfolgert aus dem diffusen Belegmaterial, dass Mundlos und Bönhardt sich unmöglich selbst getötet haben können. Es müsse sich vielmehr um einen als Suizid inszenierten Mord handeln, für den eine Verfassungsschutzbehörde verantwortlich sei und der von der Polizei vor Ort wirksam, aber nicht ganz fehlerfrei vertuscht worden wäre.
Die These ist bekannt und wiederholt vorgebracht worden. Die hypothetische Möglichkeit, dass es so gewesen sein kann, möchte ich nicht bestreiten, zumal der Kenntnisstand des Jahres 2015 viel schlechter war. Im Dengler-Krimi werden indes einzelne Elemente überbewertet und alternative Erklärungen für Unstimmigkeiten ausgeblendet, auf diesem Wege zwingende Schlussfolgerungen über den Handlungsablauf und die Hintergründe des Ereignisses konstruiert. Durch den Anmerkungsapparat, der sich stark auf dieses Einzelbeispiel bezieht, wird dabei die Grenze zwischen fiktionaler Erzählung und dokumentarischem Werk bewusst aufgelöst, so dass der Autor sich kaum noch überzeugend auf die schöpferische Freiheit des Schriftstellers berufen kann. Zudem ergeben die verschiedenen Facetten des Geschehens keineswegs ein so eindeutiges Bild vom Ende des NSU, wie der Roman suggeriert. Die verschiedenen Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern haben ja etliche Fragen in der Zwischenzeit aufgehellt. Gleichwohl lässt sich eine konstante Beweis- oder Indizienkette und schlüssige Interpretation immer noch nicht abschließend formulieren.
Das gilt zumal mit Blick auf die Rolle der Nachrichtendienste, die in Schorlaus Roman zentral ist. Leider haben sich die Innenbehörden von Bund und Ländern bislang nicht dazu bewegen lassen, die Tätigkeiten der Verfassungsschutzbehörden mit der erforderlichen Sorgfalt und Offenheit aufzuklären. Angesichts der Dichte von Informanten im Umfeld des NSU ist die Vermutung, die Behörden hätten faktisch keine Kenntnisse gehabt, äußerst unwahrscheinlich. Andererseits sieht es so aus, als habe der NSU sich in der Zeit seiner terroristischen Aktionen, mindestens bis 2006, tatsächlich aus dem eigenen Umfeld heraus versorgt. Geld, Waffen, Material, Logistik, Unterkünfte, Ausweispapiere und falsche Identitäten wurden nachweislich durch Gesinnungsgenossen aus der Neonazi-Szene beschafft, jedenfalls nicht direkt durch Geheimdienste oder anderen Behörden zur Verfügung gestellt.
Valide Theorien – oder ein Verschwörungsnarrativ?
Wolfgang Schorlau ist bereits wiederholt vorgeworfen worden, er argumentiere verschwörungstheoretisch. Er setzt sich in seinem Roman mit diesem Vorwurf offensiv auseinander und weist ihn zurück. Tatsächlich werden unliebsame Nachfragen über nachrichtendienstliche Handlungen oft allzu leichtfertig als Verschwörungstheorien abgetan. Aber Verschwörungen, Konspiration, Geheimhaltung und Vertuschung finden in der Wirklichkeit statt. Bei Geheimdiensten, wie auch bei Untergrundgruppierungen und terroristischen Zellen, liegt es geradezu in der Natur der Sache, dass sie im Verborgenen agieren, und wer sich mit ihnen beschäftigt kommt nicht umhin, Zusammenhängen nachzugehen, die bewusst und absichtsvoll geheim gehalten und verschleiert werden.
Seinem Romanhelden Dengler legt Schorlau die Aussage in den Mund, eine Theorie, die „alle Fakten zusammenhängend erklären“ könne, sei
„valide, also gültig – bis sie widerlegt wird und es eine bessere Theorie gibt. Im Grunde genommen gibt es keine Verschwörungstheorien, es gibt nur valide und nicht valide Theorien […]. Doch wenn in einer validen Theorie eine Verschwörung auftaucht, sollte man in Betracht ziehen, dass es sie auch gibt“ (S. 172).
Schorlaus Dengler übersieht dabei, dass es sehr wohl verschwörungstheoretisches oder, präziser formuliert, verschwörungsmystisches Denken gibt. Typische Merkmale sind, dass erstens die Fakten so ausgewählt, hervorgehoben, gruppiert und interpretiert werden, dass sie sich zum Verschwörungskomplex fügen und den Anschein von Validität erzeugen. Zweitens werden widerstrebende Fakten und Zusammenhänge nicht einfach ausgeblendet, sondern vielmehr zum Teil der Verschwörung selbst gemacht. Schorlau lässt Dengler sagen:
„Überleg mal, wenn du ein Verschwörer wärst und jemand kommt dir auf die Schliche, dann brauchst du nur mit dem Finger auf denjenigen zu zeigen und ‚Verschwörungstheoretiker‘ zu rufen, und schon ist aller Verdacht von dir abgewaschen – das wäre doch eine feine Sache“ (ebd.).
Drittens, und dies ist der eigentliche Kernpunkt: Hinter der Konspiration im Kleinen wird verschwörungsmystisches Denken regelmäßig einen großen, übergeordneten Geheimplan erkennen wollen. Hinter dem, was der Öffentlichkeit als Geschichte verkauft wird, stehe eine wahre, eine „eigentliche“ Geschichte, die durch Manipulationen und perfide Manöver im Verborgenen geprägt sei. Und genau in diese Richtung entwickelt der Autor seinen Fall.
Internationale Konspirationen?
Denn die Interpretation des NSU-Komplexes, die „Die schützende Hand“ anbietet, sieht folgendermaßen aus: Die deutschen Neonazis sind Agenten der Inlandsgeheimdienste und wären ohne sie niemals handlungsfähig geworden. Auch ihre Morde und Gewalttaten sind Auftragshandlungen, die einem größeren politischen Ziel dienen. Die rassistische Gewaltwelle der frühen 1990er und die Etablierung einer Thüringer Neonaziszene werden auf diese Weise unterkomplex dargestellt und einseitig auf eine äußere Steuerung durch staatliche Agenturen zurück geführt. Aber dabei bleibt der Roman nicht stehen. Die deutschen Inlandsgeheimdienste, so versucht er nachzuweisen, sind ihrerseits Instrumente der Politik einer fremden, hegemonialen Macht.
Wie aber erklärt sich eine rassistische Anschlags- und Mordserie, wenn man den US-Geheimdienst dahinter vermutet? Schorlau entwickelt eine abenteuerliche Erzählung, deren Protagonist der Deutschlandexperte und US-Botschafter in Berlin James D. Spencer ist. Diese fiktive, unwahrscheinlich klischeehafte und unrealistische Figur, die sich mit dem römischen Statthalter in Judäa Pontius Pilatus identifiziert, reflektiert im Rahmen der Erzählung eine Geheimoperation: „Wieder einmal bewunderte er die komplexe Arbeit der CIA. Ihre Voraussicht. Und die Effektivität, mit der die agency in Deutschland operierte“ (S. 272). Durch den gezielten Aufbau einer deutschen Ku-Klux-Klan-Sektion gelingt es der CIA gemäß einem vorab entwickelten Plan, den vom deutschen Verfassungsschutz kontrollierten Thüringer Heimatschutz „in eine schwere Straftat zu verwickeln, diese exakt zu dokumentieren, um so ein besonderes Druckmittel gegen die deutsche Regierung in der Hand zu haben. Für alle Fälle“ (ebd.). Der Fall tritt ein, als die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister eine Besteuerung von US-Firmen planen. Spielend bringt Spencer sie davon ab, indem er sie mit den NSU-Taten erpresst. Deutsche Nazis morden nicht, es sei denn als Agenten einer fremden Besatzungsmacht.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Mit Ausnahme von vagen Hinweisen darauf, dass beim Mord an der jungen Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn „amerikanische Sicherheitsdienste am Tatort waren“ (S. 364), lässt sich keine Verbindung des NSU-Komplexes zur CIA oder anderen US-Diensten belegen. Überhaupt ist der Heilbronner Polizistenmord der undurchsichtigste und aufklärungsbedürftigste Teilaspekt des gesamten NSU-Komplexes. Was genau dort geschah, und welchen Einfluss es auf die weitere Entwicklung des Trios im Untergrund hatte, liegt weithin im Dunkeln. Schorlaus akribische und detailversessene Dokumentation des Eisenach-Komplexes korrespondiert mit der faktenfernen Spekulation über eine US-Steuerung und den waghalsigen Behauptungen über ihre vermeintliche Motivation. Dies bekräftigt das Gesamtbild eines verschwörungsmystisch argumentierenden Romanwerks.
NSU-Morde ohne Rassismus
Freilich müssen wir den Anspruch, den Wolfgang Schorlau an seinen Krimi stellt, ernst nehmen. Im Nachwort schreibt er: „… Lücken fülle ich mit Fiktion. Dieses Buch ist eine Erzählung. Es bietet eine Möglichkeit der Deutung tatsächlicher Ereignisse.“ (S. 364) Füllen die fiktiven Erzählungen wirklich nur Lücken – oder ermöglichen sie nicht eher, Zusammenhänge auszublenden? Wenn Schorlau im Nachwort behauptet, er habe sich – bei den Recherchen unterstützt durch den Journalisten Ekkehard Sieker – bemüht, die „Entstehung des Rechtsterrorismus in Thüringen … realistisch nachzuvollziehen“ (ebd.), so stimmt genau dies nicht. Der mörderische Rassismus der deutschen Neonazis ist offenkundig, dicht belegt und vielfach bezeugt. Im unmittelbaren politischen und sozialen Umfeld des NSU, in den Netzwerken der Rechts-Rock-Szene, wurden terroristische Gewalttaten offen kommuniziert, beworben und bejubelt; Gesinnungsgenossen in den USA, Großbritannien und Schweden hatten ähnliche Taten bereits begangen.
Diesen Bereich des NSU-Komplexes hat Schorlau überhaupt nicht ausrecherchiert. In der vorangestellten Liste der „Figuren“, also der fiktiven Handlungsträger des Romans, taucht kein einziger Neonazi auf. Dass auch faktisch die NSU-Mitglieder keine „Personen der Handlung“ sind, ist bezeichnend. Böhnhardt und Mundlos werden nur an einer marginalen Stelle und durch die Augen eines fiktiven thüringischen LKA-Beamten vorgestellt, gemeinsam mit Zschäpe, die noch einmal als „Die schweigende Frau“ im Münchner Prozess auftaucht. Andere Neonazis interessieren nur in ihrer Eigenschaft als V-Leute (etwa „Corelli“ und Tino Brandt). Dagegen werden die Biographien von Kriminaloberkommissar Brauer, Botschafter Spencer und Verfassungsschutz-Vize Welcker teils bis in die Schulzeit zurückverfolgt. Böhnhardt und Mundlos erscheinen in „Die schützende Hand“ nicht als Täter, sondern als Opfer eines Verbrechens: eines Staatsverbrechens. Wenn sie gemordet haben, dann nur als Agenten eines perfiden, übergeordneten Planes einer fremden Hegemonialmacht.
Fehlende Opferperspektiven
Olga, die Freundin Denglers, hätte hier ein Gegengewicht bilden und die hermetisch-einseitige Argumentationskette zumindest brechen können. Dieser bedauernswerten Figur mutet Schorlau einiges zu: Sie muss gleichzeitig schön, sexy, gut im Bett, blitzgescheit, geschickt, technisch versiert, selbstbewusst, emanzipiert, liebevoll und fürsorglich sein und erfüllt als „Zigeunerin“ (O-Ton) noch eine Minderheitenquote. Zu Anfang des Romans lehnt sie Denglers Hintergrundermittlungen vehement ab, lässt sich dann aber doch von Dengler überzeugen.
Durch die Ausgestaltung der Figur der Olga – oder die Einführung einer anderes gearteten Opferperspektive – hätte sich die Gelegenheit geboten, rassistische Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Gewalterfahrungen in die Romanhandlung einzubeziehen. In der Tradition des nicht bloß unterhaltenden Kriminalromans, der sich als Medium der Gesellschaftskritik versteht, war es stets Anspruch, Randzonen und Problembereich der sozialen Wirklichkeit auszuloten und einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Ein sozialkritischer Kriminalroman hätte die Schmerzen der Opfer gestalten müssen, die Angst, Hilflosigkeit und Verunsicherung der Hinterbliebenen, die verstörende und verletzende Erfahrung, einer vorurteilsgeprägten polizeilichen Ermittlungsarbeit ausgesetzt zu sein. Aber diese Menschen tauchen im Buch kaum auf.
Auch der fiktive Buchhändler Tufan in der Keupstraße ist für die Handlung instrumentell, weil er zwei Bewaffnete in Zivil am Tatort erblickt, welche – so suggeriert der Roman in Anspielung auf reale Aussagen eines Zeugen der Ereignisse – Tat und Täter seitlich abgesichert hätten. Die im Verlauf der Erzählung gegen Tufan gerichteten polizeilichen Ermittlungen und Einschüchterungsversuche sind insofern nicht Ausdruck eines strukturellen Rassismus bei den Ermittlungsbehörden, der die Opfer als Täter verdächtigt, sondern Teil einer Vertuschungsstrategie, die sich gezielt gegen einen gefährlichen Augenzeugen richtet, der nur zufällig selbst Migrant ist. Dies ist einer der ärgerlichsten Aspekte des Buches, dessen Widmung an die Familien der NSU-Opfer und die Erinnerung an die Todesopfer rechtsradikaler Gewalt seit 1990 völlig deplatziert wirkt, da sie mit der Romanhandlung in keinem Zusammenhang steht.
Der mörderische Rassismus von Böhnhardt und Mundlos ist schließlich nicht durch Geheimdienste konstruiert worden. Er ist vielfach bezeugt und prägt das neonazistische Umfeld, dem die beiden entstammten, bis heute. Weit verbreitete rassistische Einstellungen und struktureller Rassismus in Institutionen von Staat und Gesellschaft bilden seinen Resonanzboden. Massenbewegungen, die tausende von Menschen erfassen – wie die ausländerfeindlichen Mobilisierungen der frühen 1990er, die Neonazi-Szene der Bundesrepublik oder die Kampagnen gegen Flüchtlinge in den letzten Jahren – lassen sich nicht einfach nach Belieben steuern. Dies aber suggeriert Schorlau wiederholt und noch auf den letzten Seiten des Romans. Im Fernsehen sehen Dengler und Olga Bilder eines rassistischen Mobs im sächsischen Heidenau. Am Rande steht einer der Protagonisten des Romans, Harry Nopper, der finstere Drahtzieher aus dem Geheimdienstapparat, und besieht sich „mit einem leichten Lächeln die Szene, so wie ein Schreiner einen fertigen Tisch betrachtet, mit dem er zufrieden ist“ (S. 361). Deutsche Nazis morden nicht.
Die schützende Hand. Denglers achter Fall.
Kiepenheuer & Witsch, Köln.
ISBN: 9783462046663.
381 Seiten. 14,99 Euro.