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Schlaglichter ins Dunkel der Berichterstattung

Schlaglichter ins Dunkel der Berichterstattung © Rasande Tyskar
Thema
Essay von Derya Gür-Şeker
Der NSU-Komplex im Spiegel des Attentats von Hanau. Eine (sprach-)kritische Medienreflexion deutscher und türkischer Veröffentlichungen zu rechter Gewalt.
Essay von Derya Gür-Şeker

Am 4. November 2011 enttarnte sich der extrem rechte ‚Nationalsozialistische Untergrund‘ (NSU) selbst, der über zehn Jahre lang bundesweit raubte, mordete und Anschläge verübte. In Folge des Bekanntwerdens gab es eine Reihe von Journalist:innen und Medienwissenschaftler:innen, die über die Morde berichteten und die Berichterstattung auf ihre inhärenten Rassismen untersuchten. Sie stellten eklatante Fehler heraus und machten deutlich, dass der Journalismus insgesamt und die Redaktionen in Deutschland vielfältiger werden – und auch mehr Ressourcen für die journalistische Recherche zur Verfügung stellen müssen. Bei einer Untersuchung türkischer Medienberichte zum NSU-Komplex zeigten sich ebenfalls deutliche Schwachstellen, die eine starke Orientierung an deutschen Institutionen und Medien sichtbar machte. Der Vergleich der deutschen und türkischen NSU-Berichterstattung vor Bekanntwerden zeigt unter anderem Gemeinsamkeiten im Sprachgebrauch und in der Wahl der Wörter, die über Medien von einer Sprache in die andere getragen werden und somit auch kulturübergreifend Vorstellungen über Opfer rechter Gewalt verfestigen.

Dieser Beitrag befasst sich mit dem medialen Kontext zum NSU-Komplex und knüpft den Bogen zu medialen Reaktionen zum Attentat von Hanau vom 19. Februar 2020, um auf die Parallelen in den Perspektiven auf Opfer rechtsterroristischer Gewalt und die Darstellung der Betroffenen aufmerksam zu machen.

Rechte Gewalt und diskursive Kontinuitäten der Verharmlosung

Von Beginn der NSU-Mordserie im Jahr 2000 bis zu ihrer Selbstenttarnung im November 2011 war über ein Jahrzehnt lang unklar, wer die Morde und Anschläge verübt hatte, die zehn Menschen das Leben kosteten. Staatliche Institutionen und Medien schienen im Dunkeln zu tappen, suchten im Umfeld der Opfer, anstatt rechte Gewalt als Tatmotor in den Blick zu nehmen. Den NSU-Komplex und den Anschlag von Hanau verknüpft nicht nur ein rechtsterroristisches Motiv, sondern auch die Frage nach diskursiven Kontinuitäten der Verharmlosung in der Berichterstattung über extrem rechte Gewalt. Der NSU-Komplex wurde erst durch den Suizid von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in besagtem November ans Tageslicht gezerrt. In Hanau hingegen fiel das Attentat und damit auch die Trauer sowohl in die Karnevalszeit als auch in den Zeitraum der beginnenden Covid-19-Pandemie, die Kontakte einschränkte, Demonstrationen nur begrenzt möglich machte und den Mediendiskurs dominierte. Eine thematische Auswertung der eigenen Berichterstattung durch Spiegel online für das Jahr 2020 belegt diesen Umstand der Dethematisierung eindrücklich: Die Berichterstattung über Hanau kam dort in Relation zur Pandemie seltener vor. Dass kurz nach den Morden in vielen Städten Karneval gefeiert wurde, führte zu zahlreichen Diskussionen und Kritik, insbesondere auch aus rassismuskritischer Perspektive. Diese verhallte jedoch weitestgehend – gefeiert wurde trotzdem. Damit wurde sowohl die Entfremdung der Betroffenen als auch die Entfremdung der migrantischen Community diskursiv und damit auch gesellschaftlich in Kauf genommen.

Der medial verhandelte NSU-Komplex: Kriminalisierung und Diskriminierung von Opfern rechter Gewalt

In beiden Berichterstattungen – über den NSU-Komplex sowie über das Attentat in Hanau – spielen Spekulationen und Mutmaßungen eine dominante Rolle. Eine weitere Parallele sind verwendete Bezeichnungen im Mediendiskurs. Bereits bei der Untersuchung der Berichterstattung vor Bekanntwerden des NSU zeigt sich, dass die Opfer systematisch sowohl institutionell als auch medial kriminalisiert und diskriminiert wurden. Man verwendete Ausdrücke wie „Döner-Morde“, „Kiosk-Morde“ oder formulierte Zeitungstitel, die über eine sogenannte „Wettmafia“ oder über die „Wettschulden“ der Opfer spekulierten. Mutmaßungen über die Tathintergründe durchzogen sowohl die deutsche als auch türkische Berichterstattung. In beiden war von „Wettmafia“ (tr.: bahis mafyası), „Wettschulden“ (tr.: bahis borçları) oder „Geldwäsche“ (tr.: kara para aklama) die Rede oder die Mordopfer mit „Drogen“ (tr.: uyuşturucu) in Verbindung gebracht. Mögliche rechtsextreme Motive wurden kaum genannt.

In den türkischsprachigen Artikeln zur NSU-Mordserie sind staatliche Akteur:innen des deutschen Staates der Referenzpunkt in der Berichterstattung. Somit sind diese Sprecher:innen von vornherein diskursprägend. Die türkische Presse bevorzugte dabei institutionsorientiert Aussagen der Ermittler:innen, Fahnder:innen oder öffentlich-staatliche Akteur:innen, etwa Pressesprecher:innen, als Informationsquelle. Gleichzeitig übernahmen die türkischen Medien die Berichterstattung zentraler deutscher Medien (Von Öffentlich-Rechtlichen Fernsehsendern, Spiegel bis zu Bild), ließen diese in die eigene einfließen und reproduzierten damit weitestgehend unreflektiert sowohl die hier medial verbreiteten Spekulationen als auch den Sprachgebrauch.

Auch im Fall des Hanau-Attentats griffen manche Medien auf pauschalisierende Begriffe zurück: Focus online verwendete zum Beispiel in einem Artikel die Bezeichnung „Shisha-Morde“. Die Wahl der Wörter konstruiert eine rassistische Perspektive auf die Morde, rückt die Opfer nicht nur in den Hintergrund, sondern entmenschlicht diese zu Essen oder Gegenständen, die mit ihnen assoziiert werden, nämlich „Döner“ oder „Shishas“. Damit liegen zur Kennzeichnung des betroffenen Personenkreises eindeutig rassistische Praktiken des Ausschließens und Ausgrenzens vor, die über Sprache und die Wahl der Wörter realisiert werden.

Sprache und Öffentlichkeit

Sprachgebrauch vereinfacht und verkürzt einerseits die Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeiten, da medial vermittelte Informationen auch bestimmten Rahmenbedingungen unterliegen (etwa Sendezeit, Aufmerksamkeit des Publikums, Nachrichtenwerte und so weiter). Andererseits bedient der hier sichtbar werdende mediale Mechanismus mit der Wahl der Wörter gezielt Schlagzeilen, die bestimmte soziale Gruppen herabsetzen und ausgrenzen, um unter anderem Aufmerksamkeit, Klickzahlen oder Zuschauer:innenzahlen zu generieren, aber auch ein bestimmtes Leser:innenklientel anzusprechen. Beide Male, also nach Bekanntwerden des NSU und im Kontext von Hanau, gab es Medien, die sich nach lautstarken Protesten einsichtig zeigten. So wurden etwa Titelüberschriften verändert; wie beim Focus online, der in einem Artikel das Wort „Shisha-Morde“ durch „Bluttat“ ersetzte. Trotz Revidierung wird an diesem Beispiel sehr deutlich, dass die Wahl der Wörter gezielt bestimmte Perspektiven fokussiert (die Tat) und andere in den Hintergrund rückt (das rechtsextreme Motiv). Es folgten auch Entschuldigungen aufgrund unpräziser Informationen oder verwendeter Bezeichnungen. Fakt ist jedoch, dass diskriminierende Benennungspraktiken, also eine gezielte Wortwahl, medial Verbreitung – und damit ein spezifischer Sprachgebrauch unwiderruflich seinen Weg in die Öffentlichkeit findet. Damit werden Spekulationen und stereotype Vorstellungen über die betroffene Bevölkerungsgruppe verfestigt.

Die Kritik an der Berichterstattung führte bei einigen Journalist:innen aber auch zu einem Hinterfragen der professionellen Haltung der Branche insgesamt. So schreibt die TAZ-Redakteurin Carolina Schwarz am 20. Februar 2020 unter dem Titel „Ein langer Lernprozess“, Journalist:innen hätten in Bezug auf die Berichterstattung über rechte Gewalt „dazugelernt“, aber einige würden auch weiterhin „gefährliche Klischees“ bedienen. Explizit wird als Beispiel („[w]ie man es nicht machen sollte“) die Bild-Live-Berichterstattung zur Tatnacht in Hanau aufgegriffen, wonach Bild-Reporter zum Tathergang zahlreiche Spekulationen verbreitet hätten, die sich dann als falsch herausstellten (zum Beispiel „Täterumfeld um Russen“; „dass es zu früh sei, um eine Tat aus einem ‚rechtsradikalen Milieu‘ zu vermuten“; „organisierte Kriminalität“). Auch ein ZAPP-Beitrag von Inga Mathwig vom 26. Februar 2020 berichtet von Spekulationen eines Welt-Reporters, der hinter dem Attentat die „Spielautomatenmafia“ vermutet hätte.

Während beide Beiträge im Hinblick auf die Berichte um das Attentat von Hanau auf kritische Reflexionen durch bestimmte Medien hinweisen, zeigen sie zeitgleich auf, dass im Kontext des Hanauer Attentats trotzdem zahlreiche Behauptungen von Bild online, Focus online bis hin zur Tagesschau geäußert wurden, die stereotype Vorstellungen über bestimmte Bevölkerungsgruppen medial verbreiten und damit gesellschaftlich verstetigen.

Social Media: Katapult für Hinterbliebene und Opfer rechter Gewalt

Es zeigt sich aber auch eine andere Perspektive: Insbesondere Soziale Medien und unabhängige Plattformen ermöglichen den oftmals Nicht-Gehörten eine Stimme und sichtbare Orte in der Öffentlichkeit. Unter Hashtags wie #hanaustehtzusammen wurden in Folge des 19. Februar 2020 Solidarität und Trauer bekundet. Verbreitet wurden auch Hashtags wie #saytheirnames, um, auch in Anlehnung an Forderungen der Black Lives Matter – Bewegung, die Opfer im öffentlichen Diskurs mit Namen und Gesicht sichtbar zu machen. Durch Social-Media-Kanäle vernetzen sich Betroffene, können sich öffentlich Gehör verschaffen, Themen setzen und Anliegen verbreiten. Parallel entstanden verschiedene Initiativen wie die ‚Initiative 19. Februar Hanau‘ oder auch die ‚Bildungsinitiative Ferhat Unvar‘, die Serpil Unvar für ihren ermordeten Sohn am 14. November 2020 gründete. In einem Interview mit kritisch-lesen.de beschreibt die Medienwissenschaftlerin Tanja Thomas diese aktiv handelnde Gegenöffentlichkeit:

„Aktuell kann man sehen, dass an vielen unterschiedlichen Orten, an denen rechte Verbrechen begangen wurden, das Sprechen darüber stärker wird. Das sieht man mit Blick auf Hanau: Dort wurden relativ schnell die Namen der Opfer in der Öffentlichkeit genannt und Unterstützungsstrukturen durch Aktivist:innen in Gang gesetzt.“ (Strübe/Madjlessi-Roudi 2021 )

Etablierte Nachrichtenmedien oder traditionell einflussreiche Gate Keeper wie Journalist:innen, die darüber entscheiden, ob ein Thema gesellschaftliche Relevanz hat und wie darüber schlussendlich berichtet wird, verlieren an Bedeutung. Der öffentliche Resonanzraum wird generell durchlässiger, vielfältiger und dynamischer. Mittels Social Media können niederschwellig (und kostengünstig) Kanäle geschaffen werden, um die geliebten Personen, die unerwartet aus dem Leben gerissen wurden, sichtbar zu machen, Einblicke in das persönliche Lebensumfeld zu geben, die Opfer nahbar zu machen und den anderweitig verbreiteten Stereotypen entgegenzuwirken. Diese Stimmen können so Deutungshoheit über die Opfer und damit sich selbst gewinnen. Unter #hanaustehtzusammen und anderen Hashtags auf Instagram finden sich zahlreiche Posts, die die ermordeten Hanauer:innen abgebildet als Graffiti im öffentlichen Raum zeigen oder Cartoon-ähnlich verewigen, samt Namen, die richtig geschrieben sind. Hier findet sich also ein Raum, der die Opfer würdigt und dauerhaft an diese erinnert. Es ermöglicht Reaktionen und zeigt, wie wichtig die Perspektiven der Familienangehörigen, der Freundeskreise und Initiativen sind, die sich dank neuer Kommunikationskanäle hörbar im Diskurs platzieren und eigenmächtig darüber entscheiden, wie über sie gesprochen wird. Hierbei muss auch die unermüdliche Arbeit benannt werden der Vorangegangenen; der Aktivist:innen und Initiativen wie etwa ‚Kein Schlussstrich‘, ‚NSU-Watch‘, ‚Initiative 6. April‘ oder ‚Offener Prozess‘. Sie engagieren sich seit Jahren antirassistisch, sprechen kontinuierlich über institutionellen Rassismus, über fehlende Anerkennung sowie politische Ausgrenzung in Deutschland – auch und vor allem außerhalb wissenschaftlicher Kontexte. Auch dieses Engagement trug dazu bei, dass sich in Hanau schnell Initiativen gründeten, über Hanau berichtet werden musste, Hanau im Gedächtnis blieb. Weil historische Vorarbeit geleistet wurde. Weil es eine diverse Landschaft von Akteur:innen gibt, die sich für die Betroffenen und Hinterbliebenen rechter Gewalt einsetzen, die neue bundesweite oder lokale Strukturen in Form von Vereinen oder Initiativen schaffen, die gesellschaftliche und politische Teilhabe verankern und etablieren. Sie erinnern die NSU-Morde oder das Attentat von Hanau und tragen maßgeblich dazu bei, dass die Medien selbstkritischer mit der eigenen Berichterstattung umgehen, ihren Sprachgebrauch revidieren oder sich für die Wahl der Wörter entschuldigen (müssen). Ihre politischen Anliegen müssen jedoch immer wieder formuliert – und umgesetzt – werden.

Zusätzlich verwendete Literatur

Grittmann, Elke/Thomas, Tanja/Virchow, Fabian (unter Mitarbeit von Derya Gür-Şeker und Ronja Röckemann) (2015): „Das Unwort erklärt die Untat.“ Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine Medienkritik. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung, AH 79. Frankfurt a.M.

Spiegel online, Jahresrückblick 2020

TAZ (20.02.2020): Schwarz, Carolina: Ein langer Lernprozess. Berichterstattung zum Anschlag in Hanau

ZAPP (26.02.2020): Mathwing, Inga: Nach Haus: Was Medien besser machen sollten.

Interview mit Tanja Thomas durchgeführt von Andrea Strübe und Sara Madjlessi-Roudi: Gegenöffentlichkeit im Plural , kritisch-lesen.de, Ausgabe 60, Juli 2021.

Zitathinweis: Derya Gür-Şeker: Schlaglichter ins Dunkel der Berichterstattung. Erschienen in: NSU - Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung. 61/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1719. Abgerufen am: 25. 04. 2024 16:54.