Der Sozialismus war keine Ökonomie
- Buchautor_innen
- Christian von Hirschausen
- Buchtitel
- Vom sozialistischen VEB zum kapitalistischen Unternehmen
- Buchuntertitel
- Eine Analyse der Industriereformen in Osteuropa (1989-1994)
Eine Analyse, wie die Produktion im ehemaligen Ostblock organisiert war und wie sie nach dessen Zusammenbruch umgestaltet wurde.
Bekanntlich fantasierte Helmut Kohl zu Beginn der 1990er Jahre im Einklang mit seinen osteuropäischen Amtskollegen von „blühenden Landschaften“. Doch der immense Produktionseinbruch und die galoppierenden Arbeitslosenzahlen überführten den anfänglichen Optimismus, die Nachfolgestaaten des Ostblocks würden sich quasi-instantan in marktwirtschaftliche Demokratien verwandeln, rasch der Illusion. Will man diese Ereignisse nicht bloß mit der Feststellung quittieren, dass die damaligen Akteure aus ideologischer Verblendung oder Zynismus die Lage falsch eingeschätzt haben (auch wenn beides zweifelsfrei zutrifft), stellen sich eine Reihe von Fragen: Mit was für Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsformen hatte man es damals im ehemaligen Ostblock zu tun? Handelte es sich, wie viele Ökonom:innen und Politikwissenschaftler:innen behaupteten, um Transformationsgesellschaften bzw. Transformationsökonomien? Ist also der auch heute noch in der Politikwissenschaft notorische Begriff vom Übergang angemessen, um zu beschreiben was sich in Osteuropa zugetragen hat? Handelte es sich um einen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, vom Einparteien- zum Mehrparteiensystem und also um eine ökonomische wie politische Transformationskrise?
Vom Postsozialismus zum Sozialismus – und zurück: Bruch statt Kontinuität
Diesen Fragen widmet sich Christian von Hirschhausens 1996 in Frankreich veröffentlichte Studie „Du combinat socialiste à l'entreprise capitaliste“, die nun auch auf Deutsch vorliegt. Der Autor geht darin zunächst einen Schritt zurück, indem er grundlegender fragt: Was ist mit dem Zusammenbruch des Sozialismus eigentlich zusammengebrochen? Denn, so die einfache wie bestechende Annahme des Buchs: Wer nicht versteht, was der Sozialismus war, versteht auch nicht, was auf ihn folgt. Positiv heißt das umgekehrt: Erst wenn man den Sozialismus versteht, kann man verstehen, was Postsozialismus heißt und wie sich beide zueinander verhalten. Das grundlegende Missverständnis, dem die Wirtschaftsreformer:innen und Ökonom:innen jener Jahre aufsaßen, sieht von Hirschhausen in ihrer Grundannahme, dass es sich beim Verhältnis von Sozialismus und Postsozialismus, um einen kontinuierlichen Übergang zwischen zwei Wirtschaftsformen handelt: Planwirtschaft auf der einen und Marktwirtschaft auf der anderen Seite. Dementgegen geht der Autor davon aus, dass Sozialismus und Postsozialismus ein irreversibler Bruch trennt. Was diesen Bruch kennzeichnet, ist erstens der Kollaps der sozialistischen Staatsform, die Hirschhausen als Partei-Staat charakterisiert. Das zweite Merkmal, das der Autor nennt, ist demgegenüber weitaus schwerwiegender: Was den Postsozialismus vom Sozialismus grundlegend unterscheidet, ist die Tatsache, dass er überhaupt ökonomisch verfasst ist. Was im Umkehrschluss heißt: der Sozialismus war keine (Plan-)Wirtschaft. Diese These besagt im Kern, dass sich der Sozialismus nicht über ökonomische Kategorien erfassen lässt, weil es keine eigenständige gesellschaftliche Sphäre gibt, in der die Akteure ihre Entscheidungen anhand von Kriterien treffen, die als wirtschaftlich bestimmt werden können. So irritierend diese These zunächst scheinen mag, gewinnt sie an Klarheit, sobald man sich verdeutlicht, dass man von Ökonomie, nach Hirschhausen, nur dann sprechen kann, wenn sie einer vom Staat getrennten und unabhängigen Eigenlogik folgt: Anders als die (öffentlichen oder privaten) Unternehmen im Kapitalismus fällt die Rationalität der Produktion im Sozialismus mit der des Staates zusammen.
Der Sozialismus: Suspendiertes Wertgesetz, Partei-Staat und VEB
Die beiden Hauptthesen des Buches „Der Sozialismus war keine Ökonomie“ und „Zwischen Sozialismus und Postsozialismus besteht ein radikaler Bruch“ werden in zwei Teilen entfaltet. Schrittweise spezifiziert Hirschhausen das Hauptargument des ersten Teils: Der Sozialismus war keine Ökonomie, weil es ihm gelungen ist, das Geld, im Sinne eines allgemeinen Äquivalents, abzuschaffen. Die im Geld als allgemeinem Äquivalent vereinten Geldfunktionen wurden im Sozialismus in drei getrennte und nicht ineinander überführbare Geldkreisläufe aufgebrochen. Durch eine solche Aufspaltung der Geldfunktionen geht der Sozialismus dem Entscheidungskriterium verlustig, das die Ökonomie im Kapitalismus als solche kennzeichnet. Kurz: der Sozialismus war nicht-ökonomisch, weil er nicht-monetär war.
Diese These erhöht natürlich die Beweislast des Buchs: Wenn sich die sozialistische Produktion nicht durch ökonomische Kategorien erfassen lässt, wie lässt sie sich dann positiv beschreiben? Diese Frage führt den Autor zum Kernstück des ersten Teils: Die sozialistische Produktionsorganisation lässt sich nur auf Ebene der Volkseigenen Betriebe (VEB), als deren elementare Produktionseinheiten, erfassen. Auf Grundlage eines umfangreichen empirischen Materials zeigt Hirschhausen, dass die VEB als „Stücke“ des Partei-Staats aufzufassen sind, in denen dessen grundlegende Polyfunktionalität zum Tragen kommt. Polyfunktionalität ist das, was im Sozialismus die Ökonomie ersetzt: Ein sozialistischer Betrieb verfolgt, anders als ein kapitalistisches Unternehmen, immer zugleich drei Ziele, die einander prinzipiell gleichwertig sind: die Gewährleistung und Sicherung der Produktion, der Sozialleistung und der (sozialen und politischen) Kontrolle. Konkret bedeutet das, dass die VEB, anders als die (privaten wie öffentlichen) Unternehmen im Kapitalismus nicht ausschließlich der Produktion dienten: So befanden sich etwa in den sozialistischen Eisenhüttenbetrieben neben Stahl- und Walzwerk genauso Kindergärten, Kultur- und Krankenhäuser sowie Gefängnisse und Institutionen von Partei, Militär und Polizei. All diese Einrichtungen wurden vom VEB gleichermaßen erhalten und vermeintlich unökonomische Entscheidungen wie die Bevorzugung sozialer Einrichtungen gegenüber der Produktion werden, so der Autor, erst verständlich, wenn wir sie nicht ausgehend von einer (als ineffizient erachteten) Ökonomie, sondern von dieser polyfunktionalen Struktur her verstehen.
Der Postsozialismus: Einführung des allgemeinen Äquivalents, Kollaps des Partei-Staats und Ex-VEB
Darauf aufbauend entwickelt der zweite Teil des Buchs die These vom irreversiblen Bruch zwischen Sozialismus und Postsozialismus. Weil es im Sozialismus keine Ökonomie gibt und die VEB keine Unternehmen sind, kann es nicht um den Übergang von einer Wirtschaftsform zur anderen gehen. Der Postsozialismus stellt einen gewaltsamen Bruch dar, der erst erschaffen muss, was gemeinhin als gegeben vorausgesetzt wird: Unternehmen. Damit wird die gängige Perspektive auf diesen Prozess grundlegend verrückt: Die Unternehmen können nicht saniert werden, weil es schlicht und ergreifend keine gibt. Der Bruch vollzieht sich genauer in zwei miteinander verzahnten Prozessen: Im Zuge der Monetarisierung als Einführung des Geldes als eines allgemeinen Äquivalents wird der VEB zum Ex-VEB. Damit wird zugleich die sozialistische Form des Partei-Staats hinfällig: Der nunmehr entstandene Staat bestimmt nicht länger über die Produktion, sondern schafft die Bedingungen für eine von ihm getrennte Sphäre der Ökonomie. Der Staat ist also alles andere als unbeteiligt an dem Prozess, in dem aus den VEB Ex-VEB werden. Die Polyfunktionalität, der VEB wird auseinandergebrochen, ohne dass aus ihnen dadurch schon kapitalistische Unternehmen würden. Erst in einem zweiten Prozess, dem der Kapitalisierung, wird den Bestandteilen des VEB ein juristischer Eigentumsstatus verliehen (öffentlich oder privat) und schließlich nach Eruierung ihrer Rentabilität aus ihnen neue Unternehmen erzeugt. Der ehemals sozialistische VEB wird so zum kapitalistischen Unternehmen.
Anderswo und anders suchen: Kritik, Ausblick und Konsequenzen
Das von den Herausgebern auf die Innenseite des Buchumschlags abgedruckte Zitat des französischen Anthropologen und politischen Aktivisten Sylvain Lazarus liest sich nach beendeter Lektüre zugleich wie ein Kondensat seiner Hauptthesen und als programmatischer Aufruf zu einer noch ausstehenden Aufgabe: „Wenn es im Sozialismus keine Ökonomie gibt, kann man die sozialistische Ökonomie nicht für den Zusammenbruch des Sozialismus verantwortlich machen. Es gilt anderswo und anders zu suchen.“ Wie marxistisch geschulten Leser:innen aufgefallen sein wird, sind die Implikationen von Hirschhausens Studie gravierend. Nimmt man seine Thesen ernst, so folgt daraus: Erstens reicht es nicht aus, den Zusammenbruch des Ostblocks unter Verweis auf die Wirtschaftskrise der 1980er Jahre erklären zu wollen. Mit Hirschhausen muss gefolgert werden: Weil der Sozialismus nicht-ökonomisch ist, ist sein Zusammenbruch nicht ökonomisch, sondern politisch. Zweitens stellt das Buch eine Grundannahme des Marxismus infrage, nach der die Abschaffung des Wertgesetzes auf kurz oder lang zum Absterben des Staates führt. Hirschhausens Begriff vom Partei-Staat soll demgegenüber zeigen, dass die Abschaffung der Ökonomie den Staat in seiner Verfasstheit grundlegend verändert und dabei eher stärkt als schwächt.
So streitbar und kontrovers die Thesen des Buchs und genannte Konsequenzen im Einzelnen auch sein mögen, so lohnt seine Lektüre schon seiner Materialfülle wegen: neben zwei Detailstudien zur Produktion in den sozialistischen Betrieben finden sich ausführliche Falluntersuchungen und eine Vielzahl von Querschnittsanalysen, die den Wandel nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eindrücklich beschreiben. Erwähnt werden muss abschließend auch das aktuelle Nachwort des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Pierre-Noël Giraud, der der gegenwärtig sehr wichtigen Frage nachgeht, wie die Entwicklung und Situation Chinas vor dem Hintergrund von Hirschhausens Überlegungen zu bewerten sind.
Vom sozialistischen VEB zum kapitalistischen Unternehmen. Eine Analyse der Industriereformen in Osteuropa (1989-1994). Übersetzt von: Jan Philipp Weise.
Neue Deutsch-Französische Jahrbücher, Frankfurt a.M..
ISBN: 978-3-949153-00-6.
352 Seiten. 35,00 Euro.