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Erwachsenwerden Ausgabe Nr. 68, 11. Juli 2023

Erwachsenwerden © Nora Strübe

Unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Jahrzehnte lang schrieben sich junge Eltern dieses Credo auf die Fahne. Ihrem Nachwuchs eine gute Zukunft sichern, das wollen sie immer noch; doch die Chancen scheinen dafür heute viel schlechter zu stehen. Junge Menschen wachsen in einer Zeit voller Krisen und Unsicherheiten auf: Klimakrise, Pandemie, Krieg und Inflation setzen ihnen zu, entgrenzte Arbeit, Ungleichheit und Armut steigen deutlich an. In Deutschland allein sind heute rund ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 25 Jahren armutsbedroht. Junge Menschen sind global gesehen seit der Finanzkrise 2008 überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, sind in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen gefangen, aus denen sie perspektivisch nicht ausbrechen können. Eine ganze Generation trägt politische Altlasten mit sich herum, die eine Lebensrealität ohne Aufstiegschancen determiniert. Wie sollen sie sich überhaupt eine Zukunft vorstellen? Unbeschwerte Kindheit war einmal!

Gleichzeitig: Genießen junge Menschen heute nicht viel mehr Freiheiten als frühere Generationen? Während Erwachsene, insbesondere Männer, noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine (finanzielle) Versorgerrolle für sich und andere übernehmen sollten, herrscht heute ein immer stärkeres neoliberales Eigenverantwortungsparadigma vor. Entsprechend haben sich auch die Erziehungsmodelle gewandelt. Kinder sollen sich entfalten, ihre eigene Persönlichkeit entwickeln, am besten freie Subjekte werden. Doch das emanzipatorische Potenzial dieses Gedankens wird heutzutage dadurch unterlaufen, dass die sich frei selbstverwirklichenden Subjekte hervorragend in einen deregulierten kapitalistischen Arbeitsmarkt passen, der direkt in die Prekarität führt.

Wie lässt sich die Idee einer Erziehung zur Mündigkeit dennoch hochhalten? Vielleicht kommt man an dem Sprichwort, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft sei, nicht vorbei? Doch stellt sich die Frage, wie Familie dabei definiert wird und wie sich wirtschaftliche und politische Strukturen auf sie auswirken. Und es darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass die demographische Entwicklung dazu führt, dass Kinder und Eltern schon jetzt und in Zukunft eine längere Lebenszeit miteinander teilen – das hat Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung, auf Nähe-Distanz-Verhältnisse und Emanzipationsansprüche.

In Teilen sehen wir heute Veränderungen in der Alltagspraxis, zum Beispiel in Form alternativer Verantwortungsgemeinschaften, die die traditionelle Idee der Kernfamilie hinter sich lassen wollen und inzwischen auf rechtlicher Ebene mit entsprechenden Gesetzesentwürfen Rückhalt bekommen, die aber auch auf die aktuellen Lebensbedingungen reagieren. Wie bestimmen sich also diese Formen der Gemeinschaft, in denen junge Menschen groß werden, wenn nicht mehr nur genetische Verwandtschaft zählt, sondern auch emotionale Nähe und ganz allgemein andere Formen der Verantwortungsübernahme?

Wir fragen uns: Wie wird man heute eigentlich erwachsen? Was prägt eine Generation, die auf der einen Seite zwischen politischer Resignation und einer neuen No-Future-Haltung sowie durch die digitale Nähe mittels moderner Kommunikationstechniken um die eigene Persönlichkeit und Unsicherheiten kreist? Verschiedene Studien bestätigen, dass digitale Plattformen wie Facebook und Instagram Depression und Angststörungen bei jungen Menschen verstärken. Und wie kommt es, dass sich diese Jugend auf der anderen Seite wieder viel stärker politisiert und kämpferischer gibt als ihre Vorgänger*innen, wie es beispielsweise in der Klimabewegung zu sehen ist? Und was ist mit den jungen Menschen, die viel zu schnell erwachsen werden, die zu früh schon auf sich gestellt sind und dabei sehr viel Verantwortung übernehmen müssen, die beispielsweise in Armut, auf der Flucht oder in Kriegsgebieten aufwachsen? Was für eine Zukunft wünschen sich junge Menschen selbst?

Unsere nächste Ausgabe (#69) erscheint im Oktober. Dann wird es um Freiheit gehen und wie wir von links einer rechten und neoliberalen Aushöhlung des Begriffs entgegenwirken können.
Viel Spaß beim kritischen Lesen!

Dank

Für das Titelbild zu dieser Ausgabe möchten wir uns riesig bei Nora Strübe bedanken, die in ihrem Bild so präzise das Gefühl einer jungen Generation auf den Punkt bringt. Vielen Dank für diese wunderbare Bereicherung der Ausgabe – und alles Gute zum Schulabschluss von uns allen.

Nachruf

Am 28. April 2023 ist unsere Autorin Anne Allex gestorben. Sie war eine wichtige Stimme im Kampf gegen Armut, insbesondere gegen die Einführung des Hartz-IV-Systems. Peter Nowak erinnert in einem Nachruf im Neuen Deutschland an Anne Allex. Im Archiv-Bereich findet ihr ihre kritische Würdigung von Gisela Notz „Kritik des Familismus“.

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