Barbarei der Verwandtschaft
- Buchautor_innen
- Sophie Lewis
- Buchtitel
- Die Familie abschaffen
- Buchuntertitel
- Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden
Wer radikale gesellschaftliche Veränderung will, darf auch vor dem Sturz der Familie nicht Halt machen.
„Der Traum der Familie ist unser Traum von einem Zufluchtsort“ (S. 20), ein Ort, an den wir gehören, wo wir als Person geliebt und umsorgt werden. Für den Staat ist Familie etwas Schützenswertes – rechtlich, finanziell, ideologisch. Aktuell wird der Schutz der Familie immer dann als Argument vorgebracht, wenn es darum geht, Schwangeren das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, queere Menschen zu drangsalieren oder Kinder vor einer vermeintlichen Frühsexualisierung durch Sexualkundeunterricht in der Schule und Vorlesestunden mit Drag Queens zu „bewahren“. Auch versuchen Chefs, ihre unterbezahlten und ausgebeuteten Angestellten emotional zu erpressen, in dem sie die Zugehörigkeit zu einer Familie und damit verbundene Verantwortlichkeiten heraufbeschwören. Lewis will das als Drohung verstanden wissen, denn Familie bedeutet für die allermeisten Menschen psychische und/oder körperliche Gewalt.
Die Familie als kapitalistisch-patriarchaler Mikrokosmos
Als gesellschaftliche Institution ist Familie der Ort, der Fürsorgearbeit privatisiert. Kinder werden wie in einem „grausamen Glücksspiel“ (S. 15) den Eltern ausgeliefert, sind Privateigentum und ökonomisch nahezu vollständig abhängig von ihren Eltern. Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege sind nicht nur unsichtbar, sondern auch gesellschaftlich entwertet. Diese Arbeit wird von Frauen kostenlos oder zu skandalös niedrigem Lohn verrichtet. Die so entstehenden Abhängigkeiten und die Privatisierung der sozialen Reproduktion machen die Familie für Lewis zum entscheidenden Faktor für die Aufrechterhaltung der kapitalistisch-patriarchalen Ordnung, woran sie ihre Kritik in materialistisch-feministischer Tradition ansetzt.
Viele Menschen können sich dennoch eine Welt ohne die Familie nicht vorstellen. Lewis geht sogar so weit zu sagen, dass „es einfacher sein mag, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen, als das Ende der Familie“ (S. 16). Folgt man ihrer Argumentation ist beides ohnehin nur zusammen möglich. Konfrontiert mit Überlegungen zur Familienabschaffung reagieren Menschen häufig reflexartig, in dem sie die Liebe und das Glück in ihrer eigenen Familie betonen oder sie als weiteren Teil einer heraufbeschworenen linken Verbotskultur abtun. Sätze wie „Aber ich liebe doch meine Familie!“ oder „Jetzt versuchen die Linken auch noch, uns unsere Oma wegzunehmen und Kinder zu beschlagnahmen, und das soll fortschrittlich sein?“ (S. 9) hört Lewis häufig und erkennt die Ängste, die Überlegungen zur Familienabschaffung in anderen auslöst, an. Veränderungen passieren jedoch nicht, indem man so weiter macht wie bisher. Lewis ist sich sicher, dass „dieses Beängstigende jeder echten revolutionären Politik innewohnt“ (S. 10).
Ursula Le Guin, feministische Science-Fiction Autorin, wird zitiert, dass auch glückliche Familien auf „Aufopferung, Unterdrückung, Verdrängung, Wahlen, die getroffen oder aufgegeben wurden, Chancen, die genutzt oder vertan wurden, Abwägen vom größeren und kleineren Übel“ (S. 21) beruhen und diese Ungerechtigkeiten häufig vergessen werden. Obwohl Lewis mit Rückbezug auf Theoretikerinnen wie Hazel Carby oder Tiffany Lethabo King für eine Wertschätzung der Schwarzen, marginalisierten Familie als widerständigen Ort und Überlebenssicherung einsteht, beantwortet sie die Frage, wessen Familie abgeschafft werden soll, dennoch damit, „dass aus historischen Gründen keine andere als die Familie existiert“ (S. 45), denn allen liegt die „Privatisierung der Sorgearbeit“ (S. 46) zugrunde und so „muss die Familie abgeschafft werden, auch wenn sie von Menschen angestrebt, mythologisiert, wertgeschätzt und verkörpert wird, die weder weiß noch heterosexuell sind, weder bürgerlich noch Kolonisator:innen“ (ebd.). Es gibt keine Familie, die von der Abolition verschont bliebe.
Feministische Zukunft ohne Familie
„Die Familie abschaffen“ ist ein polemischer Text, der eine Diskussion darüber herausfordert, wie wir Kindererziehung, Fürsorge, Pflege und zwischenmenschliche Beziehungen kollektivieren, wie wir „soziale Reproduktion organisieren, die nicht bloß ökonomische Verträge mit dem Staat oder versteckte Ausbildungsprogramme für Arbeiter:innen sind.“ (S. 31) Lewis nutzt den Begriff der Abolition, stellt sich in dessen Tradition und verbindet darüber auch die Forderung der Familienabschaffung mit der Abschaffung von Polizei und Gefängnis. Ihre Blick ist dabei, wie sie selbst sagt, anglozentrisch und geht zurück bis zur Abschaffung der Sklaverei, die eng mit dem Begriff der Abolition verbunden ist und „jenen tapferen Idealen [des Humanismus] zum ersten Mal die Chance [gab], mehr als Worte zu werden“ (S.107). Mit Bezugnahme auf Hegels Interpretation als „Zerstörung–Bewahrung–Verwandlung–Realisierung“ (S. 108) und Ruth Wilson Gilmore erklärt Lewis, dass es bei Abolition nicht um die reine Beseitigung von etwas geht, sondern um einen grundlegenden Transformationsprozess. Es geht um den „Versuch, Welten zu schaffen“ und beschreibt „eine kollektive kreative Tätigkeit, die nie endet und die wirkliche Gerechtigkeit hervorbringt“ (ebd.). Lewis zitiert Gilmores berühmten Satz „Um Abolition zu praktizieren, müssen wir ‚eine Sache ändern: alles‘“(ebd.), der den inhärenten Gegensatz von Abolitionismus zum Reformismus ausdrückt.
Auch wenn es der Untertitel verspricht, bleibt Lewis den Lesenden Strategien und Vorschläge, „wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden“, schuldig. Sie umreißt stattdessen das „Nichts“ (S. 112), das im besten Falle an die Stelle der Familie treten soll und regt an, radikal erweiterte Verwandschaftskonzepte, Genoss_innenschaften und kollektive Strukturen vorstellbar zu machen und aufzubauen. Es ist die Idee, Liebe und Fürsorge außerhalb familiärer Verwandtschaften zu organisieren, Kinder in den Mittelpunkt zu stellen und kollektiv, ohne Eigentumsanspruch, für ihre Entwicklung Verantwortung zu übernehmen. Lewis‘ Kritik der Familie und die Forderung nach ihrer Abschaffung ist nicht neu, aber dennoch eine lesenswerte Einführung, die gerade in Zeiten des konservativen Rollbacks zeigt, dass wir uns nicht dazu verleiten lassen sollten, nur das Bestehende zu verteidigen, sondern für revolutionäre Politik und eine gemeinschaftlichere soziale Organisation zu streiten.
Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden. Übersetzt von: Lucy Duggan.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
ISBN: 978-3-10-397504-8.
160 Seiten. 22,00 Euro.