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Die Spitze der Gewalt

Buchautor_innen
Autor*innen-Kollektiv BIWI KEFEMPOM
Buchtitel
Femi(ni)zide
Buchuntertitel
Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen
Die Sammlung kämpferischer feministischer Praxen und Erinnerungen an vergangene Kämpfe bietet einen Einstieg in den Diskus um femi(ni)zidale Gewalt.

Die Veröffentlichung von „Femi(ni)zide – Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ vom Autor*innenkollektiv BIWI KEFEMPOM fällt in eine Zeit, in der der Umgang mit geschlechtsbezogener Gewalt in der Linken wieder in den Fokus gerückt ist. Sie fällt aber auch in eine Zeit, in der viele Bücher zu Femi(ni)ziden publiziert wurden (beispielsweise „Femizid – Der Frauenkörper als Territorium des Kriegs“ von Rita Segato sowie aus journalistischer Sicht „Femizide: Frauenmorde in Deutschland“ von Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes). Von vielen dieser Bücher wollen sich die Autor*innen abgrenzen, sofern sie auf einzelne Taten und Täter fokussierten.

BIWI KEFEMPOM haben den Anspruch, nach den gesellschaftlichen Ursprüngen und der Normalität beziehungsweise Normalisierung alltäglicher Gewalt zu suchen, immer vor dem Hintergrund der Frage, wie diese bekämpft werden kann. Insgesamt bleiben sie jedoch hinter diesem zugegeben sehr hohen Anspruch etwas zurück. Das Buch entstand aus einem bewegungspolitischen Ansatz und trägt sozusagen das gesammelte Erfahrungswissen von „Claim the space“ zusammen, einem autonomen feministischen Bündnis in Wien, welches nach jedem Femi(ni)zid Kundgebungen organisiert. Dabei versuchen die Autor*innen das Wissen aus der Praxis mit theoretischen Ansätzen zu verweben, was mal mehr mal weniger gut gelingt.

Mit seinem kämpferischen Praxisbezug ist das Buch ein Aufruf, sich zu vernetzen und gemeinsam gegen die systemische Gewalt zu kämpfen. Zum anderen ist es eine Erinnerung an Geschehenes und ein Überblick, in welcher Form Feminist*innen seit Jahrzenten auf die Straße gehen.

Definition von Femi(ni)ziden

Die Autor*innen wenden sich gegen die häufig verwendete verkürzte Definition von Femi(ni)ziden als vergeschlechtlichte Morde – also Morde an „Frauen, weil sie Frauen sind“. Auf diese Weise würden Frauen* essentialisiert und nicht nach dem Spezifischen der Gewalt gesucht. Sie richten ihren Blick auf die strukturelle Dimension, die mit bestimmten Vorstellungen von „Weiblichkeit“ eine binär geprägte Hierarchisierung vornimmt, in der weiblich gelesene Personen „dem Mann“ in seiner Dominanzposition untergeordnet werden. Sie nehmen in ihrer Analyse die Geschlechterverhältnisse in den Blick und legen deren Macht- und Herrschaftsverhältnisse offen.

Die Autor*innen wehren sich vehement gegen das bürgerliche Framing, dass Gewalt in unseren Gesellschaften des globalen Nordens ein Randphänomen darstelle und es sich jeweils um einzelne tragische Taten handele. Sie beschreiben diese eher als Normalzustand, der durch Ideale wie die bürgerliche Kleinfamilie, einen rassistisch geprägten Staat und die hierarchische Trennung in binäre Geschlechterrollen hervorgebracht wird. Geschlechtsbasierte Gewalt beginnt nicht mit dem Femi(ni)zid. Dieser ist nur die Spitze eines Gewaltkontinuums, welches in Anlehnung an Rita Segato auch als femi(ni)zidale Gewalt bezeichnet werden kann. Femi(ni)zide sind immer

„‚both private and public’, sie sind also immer Teil staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen, die diese Taten ermöglichen, stützen, hervorbringen oder schützen. Femi(ni)zide sind keine Einzelfälle, sondern Teil systemischer Gewalt, d.h. Ausdruck sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Ungleichheiten.“ (S. 75)

Die Autor*innen zeigen, dass Frauen* nicht nur durch Morde sterben, sondern auch dadurch, dass der Staat die Verhältnisse zulässt und reproduziert, in denen diese Morde geschehen können. Sie sehen den Begriff Femi(ni)zid nicht als feste Kategorie, sondern immer als Mittel, um zu untersuchen, welche Muster und Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Gewalt zu finden sind. So ist der Begriff Femi(ni)zid ein politischer, der Verhältnisse verhandelbar und analysierbar macht.

„Femi(ni)zide sind […] immer auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse, zugleich tragen sie aber unmittelbar zur Stabilisierung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und eines Selbstverständnisses der Beherrsch- und Verfügbarkeit bestimmter abgewerteter Körper bei. Im Zuge dieser Gewalt werden bestimmte Körper nicht nur immer wieder objektifiziert (und zum Eigentum gemacht), sie sollen vor allem auch beherrschbar sein und bleiben.“ (S. 111)

Die Autor*innen wenden sich gegen karzerale Forderungen, also den Wunsch nach höheren Strafen für Täter, welcher auf der Vorstellung beruht, es gäbe einen gerechten Staat oder gerechte Strafen. Auf diese Weise könne sich nichts an den Ursachen ändern, der Staat dürfe nicht als Verbündeter angesehen werden. Es geht nicht darum, individuelle Täter einzusperren, sondern die bestehenden Strukturen und die eigene Involviertheit in diese Strukturen zu reflektieren, die das patriarchale System aufrechterhalten. An dieser Stelle greift das Buch jedoch zu kurz. Es hätte beispielsweise etwas zu Täterarbeit geschrieben werden können – die Strukturen hinter den Taten erscheinen vielleicht offensichtlich, aber was sind neben Bestrafung mögliche, auch präventive Lösungen? Was kann neben der Politisierung der Taten getan werden? Wie kann in der eigenen Community gearbeitet werden? Das sind Fragen, die ungestellt und unbeantwortet bleiben.

Übersetzung eines Konzeptes?

Man merkt dem Debattenbeitrag, als den die Autor*innen ihr Buch verstehen, deutlich an, dass es auch um eigene Aushandlungen und den Versuch geht, sich zu positionieren und zu definieren. Dabei werden immer wieder Kritikstränge postmoderner Debatten aufgegriffen. Sei es der Streit um die Benennung geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen*, das Übernehmen und Aneignen von Begriffen als neokoloniale Praxis, die Schwierigkeit von Definitionen und Zahlen, da diese immer auch andere Erfahrungen und Leidenswege unsichtbar machen und ausschließen, aber auch die Positionalität in der Wissensgenerierung und die Machtverhältnisse, die diesen innewohnen.

Die Autor*innen versuchen, viele Perspektiven miteinzubeziehen und dabei Brücken zu schlagen, Gemeinsames in unterschiedlichen Ansichten zu finden, um solidarisch mit Differenzen umzugehen und unterschiedliche Erfahrungen nebeneinander sichtbar zu machen und nicht gegeneinander auszuspielen. So zeigt schon das „Femi(ni)zid“ im Titel den Anspruch, unterschiedliche Konzepte zusammenzubringen und das Gemeinsame, aber auch die Unterschiede in ihnen deutlich zu machen – so wurde der Begriff Femizid etabliert, um dem Phänomen von Gewalt gegen Frauen einen Begriff zu geben, welcher dann im lateinamerikanischen Raum zu Feminizid erweitert wurde, um auch die sozialen Bedingungen der Taten sowie die staatliche Involviertheit und Mitschuld zu betonen.

Feministische Raumnahme

Die Autor*innen messen dem „Raum“ einen hohen Stellenwert bei. In der liberalen und bürgerlichen Gesellschaft werden die Familie und das Zuhause als sicherer Rückzugsort dargestellt und der öffentliche Raum als bedrohlich. Diese Darstellung verkennt jedoch, dass für weiblich gelesene Personen das eigene Zuhause oft einer der gefährlichsten Orte ist: „Diese bürgerlich-patriarchale Vorstellung, das ‚Private‘ sei ein abgeschlossener Raum, an dem ‚andere‘ Regeln gelten und in den sich staatliche Politiken nicht einzumischen hätten, rechtfertigt und sichert patriarchale, männliche Besitz- und Vormachtvorstellungen.“ (S. 100)

Die Ambivalenz des Raums in feministischen Kämpfen wird ebenfalls thematisiert. Zum einen ist die Öffentlichkeit für weiblich gelesene Personen meist ein Raum, aus dem sie verdrängt werden und dem Privaten zugeschrieben werden. Zum anderen kann das Private ein Rückzugsort vor dem Staat sein, jedoch nicht vor jenen Menschen, mit denen man sich diese Räume teilen muss. Daher ist die feministische Praxis der Raumnahme, also das öffentliche Thematisieren der Gewalt im Privaten sowie die Einnahme des Raumes durch diese vermeintlich privatisierten Körper bereits eine wichtige politische Praxis: „Raumnahme als Form feministischer Praxis ermöglicht uns, das patriarchale Geschlechterverhältnis in seiner Komplexität in Frage zu stellen“ (S. 130). So treffen sich Aktivist*innen und Gruppen, welche sich wie Claim the Space in Wien zusammengeschlossen haben, um keinen Femi(ni)zid mehr unbeantwortet zu lassen. Dafür werden und wurden in vielen Städten Plätze in Widerstandsplätze oder Ni-una-Menos-Plätze umbenannt, um „Femi(ni)zide in die Öffentlichkeit zu rücken und Räume der Erinnerung aber auch des kollektiven Austauschs zu schaffen“ (S. 174).

In Wien ist dieser Ort der ehemalige Karlsplatz, dort versammeln sich nach jedem Femi(ni)zid Menschen, um der Wut und Trauer Ausdruck zu verleihen und der Vereinzelung entgegenzuwirken.

„Die Versammlung geht also über sich hinaus und lebt in den geschaffenen Vernetzungen und zahlreichen Interaktionen weiter, die jenseits der konkreten Reaktion auf einen Femi(ni)zid stattfinden. Das kollektive Einnehmen eines Raumes schafft einen Ort, an dem kontinuierlich vielfältige Kritiken an der Beschaffenheit von Raum im Konkreten und den gesellschaftlichen Verhältnissen im Allgemeinen formuliert werden können und an dem kollektiv Verständnisse und Vorstellungen davon, wie es anders sein könnte, entwickelt werden. Sich diesen Raum zu nehmen, bedeutet demnach, präsent zu sein und so den Raum, der sich von Mal zu Mal unterscheidet, zu gestalten.“ (S. 193 f.)

Die Praxen, die sich aus der Vernetzung entwickeln, werden aus den Interviews mit Aktivist*innen über vergangenen Protestformen deutlich: Hier werden beispielsweise „Frauenpatroullien“ genannt, welche in den 1990er Jahren durch die Straßen Wiens patrouillierten „um zu zeigen: Die Straße gehört uns!“ (S. 137). Ebenfalls wird von Sticker- und Spray-Aktionen berichtet oder von Straßentheater, in dem auf aktuelle Zeitungsberichte eingegangen wurde. Es wird von Kurzfilmprojekten berichtet, Stadtteilarbeit aber auch dem Kampf um Gewaltschutzgesetze und die Etablierung von Frauenhäusern.

Gewalt benennen, um sie zu bekämpfen

Der Ansatz des Buches ist deutlich: Das Autor*innenkollektiv will andere motivieren, sich zu organisieren und gemeinsam gegen die Verhältnisse zu kämpfen. Sie sehen den Diskurs um femi(ni)zidale Gewalt dabei als Möglichkeit, verschiedene Debatten und Kämpfe zu verknüpfen, indem Räume für Diskurse und Erfahrungen geöffnet werden und die kollektiven Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten so erkannt werden können. Es gilt, so das Kollektiv, zu erkennen, dass der „Kampf gegen patriarchale Gewalt ein Kampf gegen die gesellschaftlichen Bedingungen ist, die Gewalt hervorbringen, ermöglichen und stabilisieren.“ (S. 271) Dazu liefert das Buch in jedem Fall einen Beitrag, richtet sich jedoch eher an Leser*innen, die einen Einstieg in das Thema, Inspirationen für ihre eigene politische Arbeit suchen oder sich einen Überblick über die wissenschaftlichen Debatten verschaffen wollen.

Autor*innen-Kollektiv BIWI KEFEMPOM 2023:
Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen.
Verbrecher Verlag, Berlin.
ISBN: 9783957325525.
296 Seiten. 19,00 Euro.
Zitathinweis: Clara Hoppe: Die Spitze der Gewalt. Erschienen in: Erwachsenwerden. 68/ 2023. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1828. Abgerufen am: 27. 04. 2024 17:44.

Zum Buch
Autor*innen-Kollektiv BIWI KEFEMPOM 2023:
Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen.
Verbrecher Verlag, Berlin.
ISBN: 9783957325525.
296 Seiten. 19,00 Euro.