„Ewachsenwerden in Deutschland ist anders“
- Thema
- Kommentare von Pilotin, Aleyna und Amira
Erwachsenwerden ist nicht nur eine individuelle Entwicklung, sondern vor allem durch gesellschaftliche Strukturen herausgefordert. Drei Jugendliche berichten.
„In der Warteschleife“
Pilotin, 20 Jahre
Hier in Deutschland ist Erwachsenwerden anstrengend. Man hat kaum freie Zeit. Nichts ist mehr spontan wie früher, die meiste Zeit ist fürs Arbeiten oder Lernen eingeplant. Und es sind so viele Termine, um die man sich kümmern muss und eine solche Menge an Briefen! Ich muss mindestens zehn Briefe in der Woche beantworten. Weißt du, wie lange das dauert? Letzte Woche habe ich drei oder vier Tage nur mit Briefen und Anrufen verbracht, saß bei Behörden und so weiter. Das war sehr anstrengend. Und da zähle ich noch nicht mal die Zeit mit, in der ich darüber nachdenke, was ich tun muss, oder Angst habe, irgend etwas falsch zu machen.
Gerade bin ich 20 Jahre alt geworden. Ich bin vor kurzem umgezogen, in meine erste eigene Wohnung. Es war für mich aus vielen Gründen nicht mehr möglich, weiter mit meiner Familie zusammen zu wohnen. Es gab zu viele Probleme. Ich kann es manchmal noch nicht richtig glauben, dass ich meine eigenen vier Wände habe. Aber gleichzeitig ist alles so teuer, man braucht für alles Geld, und dann wird es schnell anstrengend. Ich bin jetzt auf einer Designschule und mache ein Fachabi. Da das eine Ausbildung ist, habe ich jetzt BAFÖG bewilligt bekommen. Zuvor habe jeweils am Monatsanfang Geld vom Jobcenter erhalten. Weil das andere Amt nun ja übernimmt, hat das Jobcenter sofort die Zahlung eingestellt. Das Problem ist, dass das BAFÖG erst am Monatsende ausgezahlt wird, und auch die neue Krankenversicherung und alles erst zu diesem Zeitpunkt beginnt. Die Krankenkasse hat zusätzlich auch ein Problem damit, dass meine Versicherung nicht über meine Eltern geht. Das ist richtig schwer, mich da durchzusetzen. Das Jobcenter weiß das alles, aber gibt dennoch keinen Cent zur Überbrückung. Sie lassen mich einfach einen Monat komplett ohne Geld, auch auf die Gefahr hin, dass ich die Miete nicht bezahlen oder nicht richtig essen kann. Und natürlich habe ich gerade Angst, dass ich dadurch die Wohnung wieder verliere. Ich habe überhaupt nichts ansparen können in meinem Leben, und wenn was Unvorhergesehenes passiert, sitze ich auf großen Problemen. Wenn man zum Beispiel einen Minijob hat, um neben dem Jobcenter-Geld noch etwas dazu zu verdienen, dann werden davon 80 Prozent einbehalten – man kann also überhaupt nicht herauskommen aus der Situation. Wie soll ich jemals überhaupt an einen Führerschein oder ähnliches denken? Ich habe das Gefühl, so viel meiner Zeit sitze ich wie in einer Warteschleife fest.
In Afghanistan wäre ich vermutlich nicht so lange in die Schule gegangen. Die Töchter in den großen Familien helfen viel, sie müssen alles können. Wenn du 12 Jahre alt bist, musst du schon in allem ein Profi sein. Die Erwartungen sind sehr hoch, da sagt niemand mehr, dass du ein Kind bist. Du bist Kind und zack bist du erwachsen, es gibt da kein langsames Dazwischen.
Wenn ich an die Zukunft denke, dann fällt mir das gar nicht leicht. Mit Geld hat das enorm viel zu tun, aber auch noch mit weiteren Dingen. Zukunft macht mir Angst. Ich habe bisher das Gefühl, dass ich so wenig geschafft habe, dass andere es besser schaffen. Sie haben den Kopf freier und müssen sich nicht um alle möglichen Sachen gleichzeitig Gedanken machen. Ich habe jetzt zum Beispiel wichtige Termine für Klassenarbeiten und gleichzeitig schickt mir das Amt oder eine andere Institution auch Termine, die ich damit abstimmen muss. Ich habe immer Angst, Fristen zu verpassen. Ich kann noch gar nicht richtig planen, wie meine Zukunft aussieht, und ich frage mich ein bisschen, ob das irgendwann anders wird.
Ich habe neulich das Buch von Christian Baron gelesen: „Ein Mann seiner Klasse“. Das Ende seines Buches passt total dazu. Er wollte studieren, er hat aber nicht immer alles sofort verstanden und ist nicht so gut mitgekommen. Die anderen Studenten hatten alles früh von den Eltern oder der bezahlten Nachhilfe gelernt – all das Wissen, das man braucht. Und er hatte dann immer das Gefühl, dass er dumm ist, und das war einfach nicht der Fall, sondern er hatte einfach nicht die gleichen Möglichkeiten wie die anderen. Ich glaube, bei mir ist das auch so. Irgendwann denkt man nach all den Problemen, dass man vermutlich wirklich nicht so gut ist. Die Erwartungen von außen sind auch oft krass, selbst für recht einfache Arbeiten. Auf der Ausbildungssuche habe ich mich zum Beispiel in einem Schuhgeschäft beworben, da wollten sie, dass man sehr gut englisch spricht. Hier in dieser Kleinstadt, und ich kann ja auch so viele andere Sprachen. Den Platz habe ich dann nicht erhalten. Jetzt mache ich die Ausbildung woanders, aber wer weiß… Mein Traumberuf war von klein auf Pilotin. Mein Papa hat mich auch immer so genannt: Pilotin. Wenn du über mich schreibst, nenn‘ mich doch auch so. Und wer weiß, vielleicht klappt es ja doch noch irgendwann?
„Erwachsen werden hat viel mit Respekt zu tun“
Amira und Aleyna, 14 Jahre
Amira: Aleyna und ich sind Zwillinge. Wir sind vor ein paar Jahren mit unserer Familie aus Syrien nach Deutschland gekommen. Richtig vorstellen, wie wir in Syrien aufgewachsen wären, kann ich mir nicht. Vermutlich hätten wir noch mehr Aufgaben übernehmen müssen, also mehr für die Gemeinschaft machen, vor allem zuhause. Vermutlich würde ich in ein paar Jahren heiraten, also mit 18 Jahren oder so. Wäre ich ein Junge, hätte ich schon angefangen zu arbeiten. Von meiner Familie habe ich gehört, dass nicht alle Kinder lange zur Schule gehen könnten, alles dafür ist sehr teuer: Schulmaterial, Kleidung und so weiter. Unser Vater hat zum Beispiel schon während der ersten Klasse angefangen, nebenher zu arbeiten und dann in der 6. Klasse mit der Schule aufgehört. Andere Teile unserer Familie sind aber weiter zu Schule gegangen, wir haben Apotheker, Ärtzinnen und so weiter bei uns.
Aleyna: Erwachsenwerden in Deutschland ist schon anders. Wenn ich so nachdenke, finde ich es wichtig, dass wir hier zu Schule gehen können. Oder zumindest die Entscheidung selbst fällen können, die Schule weiterzumachen oder abzubrechen. Diese Wahl hat man nicht überall.
Amira: Ich denke, dass man an seinen eigenen Eltern gut sehen kann, was Erwachsensein heißt. Unsere Mutter könnte ja auch nur auf sich selbst achten, sie denkt aber gleichzeitig für fünf andere Personen, also unsere Familie mit, nicht nur für sich – also, sich um andere Menschen und viele Dinge gleichzeitig kümmern. Wenn man älter wird, muss man sehr viel mehr Verantwortung tragen, das lerne ich gerade. In der Schule bereitet uns das Fach WBS (Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung) aufs Erwachsenenleben vor. Es wird uns erklärt, wie wir gut wirtschaften und unsere Zeit einteilen, das heißt dann Geldnutzen und Zeitnutzen. Gut planen können muss man ja, wenn man erwachsen ist. Ich finde das Fach gut, weil man da viel redet und diskutiert. Aber so richtig den Blick auf unterschiedliche Voraussetzungen und Lebensrealitäten gibt es nicht. So haben wir zum Beispiel bei unserer letzten Sitzung darüber geredet, dass es Menschen gibt, die ganz viel arbeiten, aber sehr wenig Geld bekommen. Als es darum ging, wo das so ist, dann war das außerhalb von Europa, in Asien oder so. In Deutschland denkt man, dass jeder gut verdient. Hier im Land werden schlechtbezahlte Arbeiten oder Armut nicht so gesehen. Die Leute denken gegenseitig über sich, ja, das schaffen die anderen bestimmt, ich hab’s ja auch geschafft. Auch wenn das nicht so stimmt.
Aleyna: Was ich cool finde am Erwachsenwerden, ist, dass man mehr respektiert wird. Ich begleite unsere Eltern ziemlich häufig zu Terminen bei Behörden zum Übersetzen. Dort werde ich ganz oft gesiezt, ich werde da ernster genommen als in der Schule. Man traut mir zu, alles richtig zu übersetzen, und diese ganzen Anträge und Blätter gut auszufüllen. Ich glaube, die meisten unserer deutschen Mitschüler:innen würden da überhaupt nicht durchblicken.
Amira: Ja, das mit dem Ernstnehmen ist sehr wichtig. Ich durfte beim Volleyball und anderen Nachmittagsangeboten der Schule öfter nicht mitmachen. Ich hab Diabetes. Die Schule, beziehungsweise die Lehrerinnen haben immer wieder über meinen Kopf hinweg entschieden, wo ich mitmachen darf. Einmal wurde in der Aula ein Film gezeigt, es war sogar ein Film, den Aleyna und ich auf DVD mitgebracht hatten. Mich haben sie nicht mitschauen lassen, sie sagten, ich solle mich raus auf den Flur setzen, wegen der Krankheit. Der Film war ab null Jahren. Ich saß dann über eine Stunde auf dem Flur. Irgendjemand rief meinen Vater an, damit er mich abholen kommt. Und als er dann kam, bin ich mit meiner Schwester vor zum Abspielgerät. Wir haben auf „Eject“ gedrückt und die DVD einfach wieder mitgenommen, dabei waren die noch mitten im Film. Sollen sich die Lehrerinnen was anderes mit den Schülern ausdenken, hab ich gedacht. Seitdem lasse ich mir nie wieder was sagen.
Aleyna: Generell habe ich viele schlechte Erinnerungen an die Schule. Ich wurde nie wirklich von den Schüler:innen gemobbt, aber von den Lehrer:innen. In der Grundschule haben uns die Lehrer:innen einen komischen Spruch nach dem anderen gedrückt. Sie lassen wirklich oft ihre Laune an einem aus, und die anderen Lehrer:innen glauben einem nicht, wenn man es ihnen erzählt.
Amira: Also auch über die Gemeinschaftsschule könnte man eine Reihe von Büchern schreiben. Man denkt noch, man hat den besten Tag erwischt, wenn man einen netten Lehrer findet, und zwei Tage später ist der aber auch plötzlich wieder gemein. Ich habe mir geschworen, nie wieder einen Lieblingslehrer zu finden. Einmal hatte ich zwei Lehrerinnen, die eine war sehr rassistsich, und ich habe das dann der anderen erzählt. Sie meinte, ich könne ihr vertrauen, das bliebe unter uns, sie schaue, was sie machen kann. Einen Tag später kam die rassistische Lehrerin auf mich zu und hat mich zur Rede gestellt. Sie sagte, ich könne doch nicht einfach so in die Welt setzen, dass sie rassistisch wäre. Sie hat mir mit der Polizei gedroht und so weiter. Das war letztes Jahr, da war ich 13 Jahre, also noch gar nicht strafmündig. Sie meinte, wenn ich nochmal so was sage, zeige sie mich an. Meine Eltern sagten mir, dass ich ihr das nächste Mal antworten soll, ich zeige sie dann auch an, wegen Bedrohung. Zum Glück unterstützen sie mich bei so etwas.
Aleyna: Der Wechsel ist auch interessant: In der Grundschule werden oft kleine Streitereien zwischen Kindern geschlichtet. Dann wechselt man auf die weiterführende Schule und alles dreht sich um 180 Grad. Die meisten Streits sind nicht zwischen Schüler:in und Schüler:in, sondern zwischen Schüler:in und Lehrer:in. Stell dir vor, dann kommen in der 6. Klasse Polizisten, die mit uns über Mobbing zwischen Schüler:innen sprechen wollen. Und dann sitzt nickend die Lehrerin, die selbst als ärgste mobbt, als Aufsichtsperson hinten im Klassenzimmer. Eine Lehrerin, die unsere Eltern schlecht macht, die mir einmal gesagt hat, sie sei sich zu 100 Prozent sicher, dass ich in der Zukunft mal lesbisch werde, oder die im Ethikunterricht bei der Frage, wo wir einkaufen, meinte, zu Lidl gingen nur Leute, die nichts erreicht haben. Neben uns saß ein Mädchen, dass bei Lidl arbeitet, und die wurde richtig rot. Kaum war jetzt die Polizistin wieder weg, hat noch nicht mal die Tür richtig zu, da schreit uns die Lehrerin schon wieder an. Mit der Polizei im Zimmer sagt sie davor noch, dass sie alle Seiten anhört und so weiter, dass vieles oft Missverständnisse seien. Das war wirklich eine absurde Situation.
Amira: Man muss den Lehrern wirklich einen Kurs für Respekt verordnen. Und nun soll unsere Schule demnächst so eine Antidiskriminierungsmedaille bekommen, das ist wirklich kaum zu glauben. Sie sind kurz davor. Eine Lehrerin hat uns gesagt, ja, wir gehen zu jeder Klasse und sagen, sie sollen respektvoll miteinander umgehen, wenn die Beobachter da sind. Und ich so: Und dann, was folgt dann?
Erwachsen werden hat viel mit Respekt zu tun, das finde ich in jedem Fall. Später will ich eigentlich etwas mit Medizin machten, auch wegen meiner Diabetes. Das habe ich einmal im Unterricht gesagt. Eine Lehrerin meinte dann, mach das lieber nicht, mach etwas, was für dein Niveau geeignet ist. Und seitdem denke ich immer wieder darüber nach und bin unsicher ob ich mir das zutrauen kann. Ich bin schon auch ein Mensch, der sich schnell mal ablenken lässt – wenn ich mal eine schlechtere Arbeit zurückbekomme, denke ich: Ja, Mensch, da hatte die Lehrerin wohl recht. Das sitzt irgendwo tief in meinem Hinterkopf. Sie hat mir übrigens nicht mal gesagt, für was sie mich geeignet hält, obwohl ich nachgefragt habe.
Aleyna: Ich lasse die Zukunft ein bisschen auf mich zukommen und lasse mich überraschen. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, habe ich einen neuen Traumjob. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, auszuwandern, vielleicht nach Korea. Und etwas mit Sprachen zu machen, weil ich gerade dabei bin, meine fünfte Sprache zu lernen. Ich glaube aber, dass es zu mindestens 30 Prozent nichts wird, weil ich nicht so weit weg sein will von meiner Familie. Und hier in der Region gibt es ja auch schöne Sachen. Ein guter Abschluss ist meiner Familie sehr wichtig, sie wollen sehr, dass ich das schaffe und eine gute Arbeit finde. Auch etwas mit Medizin oder eine Arbeit im Büro – ich finde das persönlich jetzt nicht so spannend, aber ich möchte meine Eltern stolz sehen.
Protokoll von Johanna Bröse.