Der Täter als Reparaturprojekt
- Buchautor_innen
- Rehzi Malzahn
- Buchtitel
- Restorative Justice
- Buchuntertitel
- Eine radikale Vision
Ein beklemmender Einblick in Argumentationsfiguren, die auf patriarchalen Mythen über Täter basieren und zulasten Gewaltbetroffener gehen.
Was ist Restorative Justice, wörtlich übersetzt „wiederherstellende Gerechtigkeit“? Es handelt sich um eine Reihe angeleiteter „Wiedergutmachungs“-Verfahren, die als Reaktion auf die Zufügung von Schaden im weitesten Sinn angewendet werden. Dafür werden in der Regel mindestens die tatverantwortliche und die geschädigte Person beziehungsweise Personen miteinander ins Gespräch gebracht, häufig auch Personen aus den jeweiligen Umfeldern. In vielen Ländern sind restorative Verfahren heute staatlich fest eingebunden und werden als Ergänzung zu klassischen Strafprozessen eingesetzt. Vor allem im Jugendstrafrecht bieten sie eine kostengünstige Möglichkeit, Gerichte zu entlasten. In Deutschland sind restorative Verfahren kaum verbreitet, am ehesten finden sich Aspekte davon im sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich oder in der Mediation.
Restorative Verfahren werden bis heute auch bei Fällen intimer und sexueller Gewalt eingesetzt. An dieser besonderen Anwendung haben Feminist*innen immer wieder Kritik artikuliert, die hier nur grob umrissen werden soll: Die Verfahren und ihre ideologischen Grundlagen seien im Allgemeinen nicht auf Gewaltbetroffene und ihre Bedürfnisse zentriert, sondern auf die Täter und ihre soziale Wiedereingliederung. Der Wunsch von Betroffenen nach Anerkennung ihrer Erfahrungen und nach praktischer Solidarität werde häufig nur oberflächlich abgehandelt und sogleich den täterzentrierten Verfahren untergeordnet. Entsprechend schnell werde in den Verfahren Druck auf Betroffene aufgebaut, Tätern zu vergeben und den Frieden der (patriarchalen) Gemeinschaft zu wahren. In diesem Sinne berge Restorative Justice eine massive Gefahr der Reviktimisierung Betroffener in und durch die Verfahren.
Solche Kritik wird in einem Großteil der Restorative-Justice-Literatur bis heute ignoriert oder heruntergespielt – und oft zugleich unfreiwillig bestätigt. Hierfür ist das vorliegende Buch, das 2022 im Schmetterlings-Verlag erschienen ist, ein Paradebeispiel. Die Autorin Rehzi Malzahn, Strafabolitionistin und Restorative-Justice-Praktikerin, nutzt Argumentationsmuster, die massiv zulasten Gewaltbetroffener gehen und die jenen Manipulationsstrategien stark ähneln, die gerade Täter intimer und sexueller Gewalt für gewöhnlich selber einsetzen.
Täterstrategien
Wer intime und sexuelle Gewalt ausübt, ist in der Regel ein Mann und folgt bestimmten, eingeübten Mustern mit dem Zweck, Kontrolle und Dominanz über Betroffene aufzubauen: Täterstrategien. Zwei zentrale Täterstrategien sind Schuldumkehr beziehungsweise Täter-Opfer-Umkehr und Angriffe auf die Realitätswahrnehmung von Betroffenen. Beide Strategien stehen in einem engen Zusammenhang.
Täter erklären in der Regel die Betroffenen zu den eigentlich Verantwortlichen beziehungsweise Schuldigen, sich selbst dagegen zu tragischen Opfern. Um diese Schuldzuweisung an Betroffene argumentativ zu untermauern, erfinden Täter angebliche eigentliche Gründe für ihre Gewalt, zum Beispiel „Provokationen“ durch die Betroffenen, eine schwierige Kindheit des Täters oder einfach Stress. Auf der Grundlage solcher Gründe stellen Täter Bedingungen: Wenn die betroffene Person will, dass die Gewalt endet, muss sie sich darum bemühen, den Täter je nach Erzählung weniger zu provozieren, seine schwierige Kindheit mehr zu berücksichtigen oder seinen Stress zu reduzieren. Tut sie das nicht, muss sie sich nach der Logik des Täters auch nicht wundern, wenn ihr wieder etwas passiert. Mit dieser Schuldumkehr und den damit verbundenen Angriffen auf die Realitätswahrnehmung Betroffener versuchen Täter die gleiche männliche Anspruchshaltung durchzusetzen wie auch mit ihrer sonstigen Gewalt: Betroffene sollen sich dem Willen des Täters unterwerfen.
Wenn die Täter mit den beschriebenen Strategien erfolgreich sind, kann sich etwas in der Realität von Betroffenen verschieben: Die Gewalt als solche, also als aktive, zielgerichtete Angriffe durch den Täter, kann aus der Wahrnehmung verschwinden. Was dann noch bleibt, ist ein diffuser, nicht klar benennbarer Stress und Mangel in der Beziehung, an dem Betroffene sich schuldig fühlen und den sie meinen beheben zu müssen. Eine unmögliche Aufgabe. Denn die Macht darüber, ob die Gewalt endet, liegt weiter beim Täter. Schlimmstenfalls verstricken sich Betroffene so in eine traumatische Bindung, in der sie immer abhängiger vom Täter und seiner Willkür werden und ihn kaum noch als Ursache ihres Leidens erleben, sondern zunehmend als sicheren Anker in einer nicht begreifbaren schlimmen Situation, die beiden gleichermaßen zu passieren scheint. Diese verzerrte Wahrnehmung ist natürlich ganz im Sinne von Tätern, die damit zusätzliche Kontrolle über Betroffene gewinnen.
Täter als Reparaturprojekt
Warum diese bedrückenden Ausführungen in einer Rezension? Weil sich eine ganz ähnliche Verzerrung der Realität zugunsten von Tätern wie ein roter Faden durch das vorliegende Buch zieht. Malzahn verliert darin über die Strategien von Tätern oder über ihr Interesse an der Gewalt kaum ein Wort. Stattdessen ähnelt das, was das Buch über Täter verrät, gängigen patriarchalen Mythen. Gewalt erscheint im Buch als „Vorkommnis“ und „Missverständnis“ (S. 105), die Täter als tragische Gestalten und Opfer ihrer Umstände: Malzahn zufolge haben sogar „Mehrfachtäter*innen“ (!) oft „den Glauben an die Möglichkeit gewaltfreier Beziehungen aufgegeben“ (S. 107). Menschen würden gewalttätig, „weil sie selbst Gewalt erlebt haben“, oder in schwereren Fällen wegen ihrer „Kaputtheit“ (ebd.).
Die auf diese Weise entlasteten und verharmlosten Täter erklärt Malzahn im Tonfall einer Expertin zu einer Art Reparaturprojekt: Ihrer Meinung nach sind auch Gewaltbetroffene und ihre Umfelder „zuständig für den re-integrativen Part, indem sie der Person (gemeint ist der Täter, A.M.) eine Perspektive anbieten.“ (S. 34) Warum überhaupt irgendjemand diese undankbare Aufgabe annehmen sollte, erläutert Malzahn an anderer Stelle:
„Um sich zu trauen, brauchen auch Tatverantwortliche ein sicheres Umfeld, in dem sie sich mit ihren Schattenseiten zeigen und verletzlich machen können, um sich und ihre Taten zu verstehen. Verletzlichkeit führt weg von Scham und hin zu Mitgefühl – mit sich selbst und den anderen. Und je mehr Empathie jemand entwickelt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass er*sie erneut Gewalt ausübt.“ (S. 108)
Gefährliche Heilsversprechen
Solche Behauptungen gaukeln auch Betroffenen und ihren Umfeldern gerade dort Handlungsmacht vor, wo sie real am ohnmächtigsten sind: in der Rolle selbstloser Kümmer*innen, die es mit ihrer Hingabe irgendwie schaffen sollen, Mitgefühl in den Tätern zu wecken. Genau diese Rolle allerdings hat ihre reale Grundlage überhaupt erst in der oben beschriebenen patriarchalen Schuldumkehr. Diese Rolle einzunehmen bedeutet real immer, sich (erneut) der Willkür des Täters auszusetzen. Denn er allein entscheidet, ob die anderen sich genug um ihn gekümmert haben. Sein Druckmittel besteht in der Gewalt, die er jederzeit wieder einsetzen kann und die er mit seinem Anspruch, dass andere die Verantwortung für seine Veränderung übernehmen sollen, immer schon mindestens subtil androht. Dieses herrschaftliche Verhältnis bleibt in der Argumentation des Buches aber weitestgehend ausgeblendet. Es erscheint stattdessen in verschleierter Form: als eine realistische Chance auch für Betroffene und ihre Umfelder, den Täter endlich zur Veränderung bewegen zu können, wenn sie nur ein Umfeld für ihn schaffen, das „sicher“ genug ist.
Wie zentral das Erzeugen falscher Hoffnungen für die Argumentation des Buches ist, zeigt sich auch dort, wo Malzahn konkretere Entwürfe von „Heilung“ im Rahmen restorativer Prozesse zum Besten gibt. Hier malt die Autorin Betroffenen eine „Befreiung vom Terror der Erinnerung“ (S. 32) und „inneren Frieden“ als verheißungsvolle Möglichkeiten aus und verklärt „Vergebung“ zu einem „souveräne[n] Akt“, durch den Betroffene angeblich eine „übergeordnete Rolle“ einnehmen können (S. 31).
Solche Heilsversprechen sind unhaltbar und gefährlich. Denn erlittene Gewalt kann im Allgemeinen erst dann überhaupt in einem therapeutischen Sinn verarbeitet werden, wenn Betroffene sicher davor sind, von Tätern oder ihren Verbündeten erneut als (Mit-)Verantwortliche in Anspruch genommen oder mit absurden Versprechen manipuliert zu werden. Genau einer solchen Manipulation aber leisten zentrale Argumentationsfiguren des Buches Vorschub. Mit feministischen und traumatheoretischen Grundlagen ist das unvereinbar – Grundlagen, die immer in Kämpfen errungen werden müssen und die sich beispielhaft im Standardwerk „Die Narben der Gewalt“ der feministischen Psychologin Judith Herman (1992) nachlesen lassen.
Die „radikale Vision“, die der Untertitel von Malzahns Buch verspricht, entpuppt sich so als authentischer Einblick in einige der übelsten Positionen, die sich in der Restorative-Justice-Literatur tummeln. Das gilt auch über die Stellen zu intimer und sexueller Gewalt hinaus: Grundlegende Botschaften des Buches ähneln esoterischen Kalendersprüchen wie „Das Leiden von einem Menschen ist das Leiden von allen“ oder „Sei selbst der Wandel, den du dir wünschst“ (S. 84). Diese gehen bruchlos über in eine Romantisierung der indigenen „Wurzeln“ von Restorative Justice als „nicht-entfremdet“ (S. 166).
Das vorliegende Buch ist damit in seiner Argumentation nicht nur fragwürdig, sondern auch fahrlässig. Entsprechend ist auch als unverantwortlich zu bezeichnen, dass es im Schmetterlings-Verlag veröffentlicht wurde, also in einem Verlag, der für seine Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie bekannt ist.
** Hinweis aus der Redaktion: Auf eine dieser Rezension sehr ähnliche Kritik am Konzept restorative justice von Ashley Memo in der analyse&kritik 692 verfasste Rehzi Malzahn eine Replik in der ak 695 mit dem Titel Der Täter, das unmenschliche Wesen.
Restorative Justice. Eine radikale Vision.
Schmetterling Verlag, Stuttgart.
ISBN: 3-89657-047-1.
180 Seiten. 14,80 Euro.