Antiimperialismus revisited
- Buchautor_innen
- jour fixe initiative berlin (Hg.)
- Buchtitel
- Kreolische Konstellationen
- Buchuntertitel
- Kolonialismus Imperialismus Internationalismus
Treffen sich Adorno und C.L.R. James und haben sich nichts zu sagen. Ein Sammelband beleuchtet verpasste aber auch aktuelle Möglichkeiten eines neuen Antiimperialismus.
Die seit gut 25 Jahren bestehende jour fixe initiative berlin versteht sich als – so heißt es auf der Webseite – „Plattform für die Diskussion und Theoriebildung innerhalb der radikalen Linken“. Jedes Jahr werden Vortragsreihen organisiert, die sich nicht nur durch eine inspirierende Themenwahl, sondern auch durch das konstruktive Diskussionsklima auszeichnen. Meist werden die Vorträge in Buchform publiziert. In diesem Jahr erschien der neueste Band: „Kreolische Konstellationen. Kolonialismus, Imperialismus, Internationalismus“.
Um zu veranschaulichen, was mit kreolischen Konstellationen gemeint sein könnte, verweist die jour fixe initiative in der Einleitung auf die Begegnung zwischen Theodor W. Adorno und C.L.R. James während des Zweiten Weltkriegs in New York, die sich dadurch ausgezeichnet habe, dass die beiden sich „wenig zu sagen“ (S. 8) gehabt hätten. Weiterhin wird erklärt: „Kreolisch meint, zugewiesene Plätze zu verlassen, Grenzen zu überqueren und unvorhergesehene Verbindungen zu entdecken.“ (S. 11) Das Schweigen oder die Sprachlosigkeit zwischen Adorno und James ist folglich symptomatisch für ein Scheitern beziehungsweise für verpasste Möglichkeiten und verschenkte Potenziale. Denn wirklich kreolisch wäre das Aufeinandertreffen der beiden Denker erst dann gewesen, wenn sie sich aufeinander eingelassen und den Versuch unternommen hätten, gemeinsam Verbindendes zu entdecken – was nicht automatisch impliziert, möglicherweise Trennendes komplett zu ignorieren.
In diesem Fall wäre es um das Verbindende (und gegebenenfalls Trennende) zwischen dem Juden Adorno und dem Schwarzen James gegangen, zwischen der Kritik des Antisemitismus und der Kritik des Rassismus, zwischen jeweils spezifischen Marx-Adaptionen, zwischen Herrschaftskritik, wie sie im Rahmen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule von Adorno entfaltet wurde, und anti- oder dekolonialer Herrschaftskritik, der man James unter anderem als Historiker der Haitianischen Revolution um 1800 zuordnen kann.
In mehreren Beiträgen werden im Sammelband jeweils historisch-spezifische kreolische Konstellationen in den Blick genommen, zum Beispiel die Bedeutung des Antikolonialismus oder von antikolonialen Akteur*innen im Rahmen der nach der russischen Oktoberrevolution gegründeten Kommunistischen Internationale oder die Gleichzeitigkeit von Internationalismus beziehungsweise Antiimperialismus und Rassismus in der DDR. Dabei zeigt sich immer wieder, wie schmal der Grad zwischen Aufbruch und Ernüchterung war, dass und auf welche Weise das kreolische (oder sollte man sagen: kreolisierende?) Moment nicht nur Energien freizusetzen vermochte, sondern auch zerrieben wurde, in Folge von Repression, Dogmatismen, unterschiedlichen Positioniertheiten innerhalb kapitalistischer, sexistischer oder rassistischer Machtverhältnisse, der Schwierigkeit, die Spannung zwischen Verbindendem und Trennendem aufzulösen.
Verbindendes und Trennendes
Gerade letzterer Aspekt wird eindrücklich in dem Beitrag von Lutz Fiedler thematisiert, der sich mit dem Verhältnis zwischen dem Ausschwitz-Überlebenden Jean Améry und der antikolonialen Ikone Frantz Fanon befasst. Anders als Adorno und James sind sich Améry und Fanon nie begegnet. Gleichwohl hat sich zumindest Améry auf den bereits 1961 verstorbenen Fanon eingelassen und immer wieder mit dessen Schriften befasst. Dabei setzte er das von Fanon beschriebene koloniale Gewaltsystem zum Gewaltsystem der nationalsozialistischen Konzentrationslager in Beziehung, das er selbst erfahren hatte. Die Dimension des Verbindenden kulminiert im Begriff der Schicksalsverwandtschaft, den Améry ins Spiel brachte, um sein Verhältnis zu Fanon zu beschreiben. Zugleich beharrte Améry auf der Präzedenzlosigkeit des Holocaust, befürchtete er eine Einebnung der Spezifik der Judenvernichtung, wenn man diese gewissermaßen in eine longue durée moderner (und vor allem kolonialer) Gewaltformen integrieren wollte. Kurz gesagt argumentiert Fiedler, dass sich Améry zwar als Widerstandskämpfer in Fanons Plädoyer für antikoloniale Gewalt wiederfinden konnte, auch im Sinne einer Wiedererlangung von Würde, dass er als verfolgter Jude im Nationalsozialismus aber eine Erfahrung machte, die sich nicht einfach in ein koloniales Setting übertragen oder übersetzen ließ.
Es war eine Erfahrung, die dazu führte, dass Améry auch nach der Niederlage des Nationalsozialismus noch stets das Gefühl hatte, „ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte“ (S. 147, Fiedler zitiert hier Améry). Die Spannung zwischen Verbindendem und Trennendem – dies zeigt Amérys Ringen mit dem Denken Fanons – lässt sich nicht einfach auflösen. Entsprechend stellt sich Fiedler zufolge die Frage, wie vor dem Hintergrund dieser Spannung eine „neue universalistisch gesinnte Politik erwachsen soll“ (S. 152). Um sich dieser Frage anzunähern, bedürfe es „sowohl politischer Empathie als auch historische[m] Unterscheidungsvermögen“ (ebd.).
Antiimperialismus revisited
Es erstaunt ein wenig, dass die jour fixe initiative, obwohl sie den Begriff der kreolischen Konstellationen als analytische Perspektive wie als utopisches Versprechen stark macht, an keiner Stelle auf die postkoloniale Debatte über den Begriff der Kreolisierung Bezug nimmt, die vor allem mit dem karibisch-französischen Denker Édouard Glissant verbunden ist. Zudem überrascht, dass sie einen Gedanken nicht aufgreift und diskutiert, den Paul Dziedzic in seinem Beitrag formuliert. Um das auszuführen: Die jour fixe initiative beginnt ihre Einleitung mit einer bestechenden Feststellung beziehungsweise Frage: „Der Imperialismus ist offenkundig aktueller denn je, aber wo ist der Antiimperialismus geblieben?“ (S. 7) Und am Ende der Einleitung heißt es, dass es „nach wie vor“ darum gehe, „Wege zu erkunden, wie die Herrschaft des Imperialismus überwunden werden kann.“ (S. 11) Offenbar lässt sich „Kreolische Konstellationen“ als Versuch verstehen, die Möglichkeiten und Anschlussstellen für einen neuen Antiimperialismus auszuloten. Doch stimmt es eigentlich, dass dieser nicht mehr da ist?
In dem auf die Einleitung folgenden Beitrag von Dziedzic, bei dem es sich um einen kursorischen Abriss über vergangene und gegenwärtige Erscheinungsformen des Imperialismus sowie über die historische Genese entsprechender Kritikformen handelt, wird eher die Kontinuität des Antiimperialismus betont – Dziedzic verweist auf verschiedene, in den letzten 20 Jahren entstandene Ansätze (zum Beispiel „Empire“, „imperiale Lebensweise“ und „neoliberaler Imperialismus“), die sich allesamt als Versuche einer Aktualisierung und Reformulierung des Antiimperialismus verstehen lassen. Zudem macht Dziedzic auf eine erstaunliche Schieflage aufmerksam: „Eine antiimperialistische Position zu vertreten, klang bis vor kurzem zumindest in Deutschland noch wie aus der Zeit gefallen. In anderen Teilen der Welt bleibt so eine Position weiterhin präsent.“ (S. 26) Was heißt das nun aber für die Situation in Deutschland? Worin genau besteht ihre Spezifik? Inwiefern ist hier die antideutsche Zäsur Anfang der 1990er Jahre von Bedeutung, die auch mit einer verschärften Kritik der antiimperialistischen Praxis insbesondere von militanten Gruppen wie der RAF oder den Revolutionären Zellen einherging? Und welche Rolle spielt die Auseinandersetzung über Antisemitismus und den Nah-Ost-Konflikt?
Vielleicht lässt sich auch die in den letzten Jahren sich vollziehende Entwicklung des Berliner Protestgeschehens am 1. Mai zu Dziedzics Befund in Beziehung setzen: Zwar gibt es immer noch die revolutionäre 18 Uhr-Demo, doch hat sich zusätzlich die my gruni-Demo im Reichenstadtteil Grunewald als fester Bestandteil der 1. Mai-Kultur etabliert. Man mag auf beiden Events Ansätze für kreolische Konstellationen erkennen, in der Gesamtschau hingegen überwiegt der Eindruck des Getrennt-Seins – zugespitzt formuliert trifft sich im Grunewald die postautonome Hedonist*innenfraktion, überwiegend weiß und deutsch, während die 18 Uhr-Demo inzwischen nicht nur von mehr oder weniger orthodoxen kommunistischen Gruppen, sondern auch sehr migrantisch geprägt ist. Es mag gute Gründe für die Trennung zwischen postautonomer Hedonistenfraktion und orthodoxen kommunistischen Gruppen geben. Wenn man die Frage nach race in die Betrachtung mit einbezieht, sind wir von einer kreolischen Konstellation am 1. Mai in Berlin meilenweit entfernt.
Kreolische Konstellationen. Kolonialismus Imperialismus Internationalismus.
edition assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-96042-150-4 / 2-973.
168 Seiten. 16,00 Euro.