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„Hey, ich kann nicht mitkommen, ich kann es mir nicht leisten“

„Hey, ich kann nicht mitkommen, ich kann es mir nicht leisten“
Interviewpartner_innen
Interview mit Lena Hezel
Mädchen* und junge Frauen* sehen sich heutzutage mit einer Vielzahl von gesellschaftlichen Krisen konfrontiert. Was kann die Soziale Arbeit hier tun? Beobachtungen einer Sozialpädagogin.

kritisch-lesen.de: Hi Lena, Du arbeitest seit vielen Jahren in einem Mädchen*Zentrum in einer süddeutschen Kleinstadt. Wenn du es auf einige wenige Worte herunterbrechen müsstest: Was bedeutet Erwachsenwerden heute – und warum ist es wichtig, Jugendliche dabei zu begleiten?

Lena Derzeit arbeite ich hauptsächlich mit den zwölf bis 20-jährigen Mädchen* – oder eher jungen Frauen*. Oft stecken sie in einer besonderen Lebenssituation: Die allermeisten sind geflüchtet, sie sind selbst über gefährliche und schwierige Wege hierhergekommen und haben oft überhaupt kein Supportsystem. Ihnen fehlen Anlaufstellen und sie sind auch schwer für die Angebote sozialer Arbeit erreichbar, weil sich viele hauptsächlich zwischen Schule und Zuhause bewegen. In vielen Fällen ist unsere Einrichtung tatsächlich ihre einzige Anlaufstelle – und damit sind wir oft auch die einzigen Ansprechpersonen für sie. Andere Angebote, die es von der Sozialen Arbeit gibt, sind meist viel zu hochschwellig. Zu uns kommen sie, weil wir eine Einrichtung nur für Mädchen* und Frauen* sind, weil wir ihnen einen Schutzraum bieten und sie mit all ihren Anliegen zu uns kommen können.

Um welche Themen geht es dann?

Die jungen Frauen* kommen eigentlich mit allem Möglichen an: Von Schulproblemen über Fragen zu Sexualität, Gesundheit, Freundschaft, Zukunft, also eigentlich alles, was man sich vorstellen kann. Ich würde sagen, viele Themen sind typische Themen des Erwachsenwerdens. Aber sie beinhalten immer auch noch andere Ebenen, zum Beispiel die Fluchterfahrung, die Armutserfahrung, Umgang mit Jobcenterbriefen, Rassismuserfahrungen und so weiter. Das macht alles insgesamt viel schwieriger zu bewältigen, gerade wenn man kein Supportsystem hat, oder auch keine Personen, mit denen man offen reden kann. Zum Beispiel zum Thema Sexualität, das ist einfach so oft ein krasses Tabuthema. Sie brauchen an vielen Punkten einfach Aufklärung und Personen, denen sie offen Fragen stellen können. Insgesamt würde ich sagen, dass das Erwachsenwerden bei den Jugendlichen, mit denen ich arbeite, schon eher mit vielen strukturellen Hindernissen und Schwierigkeiten verbunden ist. Im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, etwa die hier aufgewachsen sind, die vielleicht keinen Rassismus erfahren, genug Geld zur Verfügung haben, ein Elternhaus, das sie supportet und die gut in der Schule sind, müssen sie unter erschwerten Bedingungen erwachsen werden.

Du hast die Besonderheit angesprochen, dass es sich bei eurer Einrichtung um einen Schutzraum handelt, in dem die Jugendlichen leichter andocken und auch spezifische Themen besprechen können. Kannst du noch mal herausstellen, wie eure Räume das konkret für die Mädchen* ermöglichen?

In unserer Konzeption ist festgeschrieben, dass wir uns an der Lebenswelt der Mädchen* und jungen Frauen* orientieren. Das heißt, dass sie die Themen vorgeben, und wir begleiten sie. Dahinter steht die feministische und politische Haltung, dass sie quasi selbst die Expertinnen in ihrer Lebenswelt sind und sie letztlich auch die Entscheidungen treffen, die für sie passen. Was wir machen können, ist da sein, zuhören, miteinander sprechen, Optionen und verschiedene Wege aufzeigen – und sie dann unterstützen in dem Weg, für den sie sich entscheiden. Selbst dann, wenn ich persönlich vielleicht denke, dass das jetzt nicht genau der richtige Weg ist. Das ist das, was wir machen können. Natürlich, wenn es zum Beispiel um Zwangsverhältnisse oder gewaltvolle Verhältnisse oder ähnliches geht, dann handeln wir auch. Dann schauen wir natürlich, wo der Kinderschutz verletzt wird. Abseits davon ist der Rahmen aber einfach der, den die Mädchen* und jungen Frauen* selbst vorgeben.

Wenn du eine Gemeinsamkeit der jungen Frauen, die zu euch kommen, benennen würdest, was sie – vielleicht in Abstufungen – allesamt benötigen, was wäre das?

Einfach einen Raum haben – Raum haben im wörtlichen und im übertragenen Sinne, einen Raum, der ihnen gehört, wo sie sich sicher und wohl fühlen, wo sie sich auch zu Hause fühlen. Das sagen auch viele: dass es ihr Zuhause ist. Es meint auch einen Raum, wo sie sprechen können, wo sie gehört werden und wo sie wissen: da ist jemand, der hört zu. Das kann man sich zum Beispiel so vorstellen: Ich stehe hinter der Theke und mache Tee, und sie kommen nach der Schule und setzen sich an die Theke. Sie erzählen mir, wie ihr Tag war – und oft ist es einfach nur dieses Zuhören oder einfach ein normales Gespräch führen. Und manchmal kommen dabei auch Themen hoch, bei denen ich merke: „Ah, okay, krass! Da müsste man vielleicht noch mal genauer drüber sprechen!“. Ich schlage dann vor, dass wir uns einzeln treffen können.

Und wenn man die jungen Frauen* fragen würde, was für sie zentral ist, würden sie vermutlich auch einfach sagen: einen Raum haben, wo jemand da ist und zuhört – manchmal auch, wo sie für sich sein können, wo sie einfach chillen und WLAN benutzen können, auf einem Sofa liegen und eine Serie gucken können. Zu Hause haben sie diese Möglichkeiten oftmals nicht. Viele von ihnen wohnen sehr beengt, sodass sie eigentlich gar keine Privatsphäre haben. Ohne das zu pauschalisieren, viele wachsen ziemlich kontrolliert auf. Sie dürfen dann zu uns kommen, weil die Eltern uns vertrauen und wissen, dass wir einen sicheren Rahmen bieten. Zum Teil haben die Mädchen* zu Hause auch super viele Aufgaben, viele Geschwister oder Haushalt, Kinderbetreuung, Behördengänge. Wie gesagt, das kann man nicht pauschalisieren, aber bei vielen trifft es schon zu. Vor allem für die Mädchen* wird es restriktiver, wenn sie Teenager und junge Frauen* werden.

Dass die Eltern eurer Einrichtung vertrauen ist enorm wichtig, damit die Jugendlichen überhaupt zu euch kommen können. Aber warum, glaubst du, vertrauen die Jugendlichen euch?

Das ist ganz, ganz viel Beziehungsarbeit. Zum Teil dauert es auch lange, bis sie mir vertrauen. Ich kenne die meisten schon über viele Jahre hinweg. Da sitzen sie zum Beispiel immer an der Theke und erzählen, wie es in der Schule war – und dann plötzlich, nach Jahren, kommen andere Themen auf, die schon immer dagewesen sind. Aber das dauert so lange, bis man dieses Vertrauensverhältnis hat. Ich versuche schon, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und trotzdem braucht es viel Zeit. Da hilft mir auch, mir immer wieder zu vergegenwärtigen, was es für ein Geschenk ist, dass ich einen Einblick in ihre Lebenswelt erhalte, dass ich mitbekomme, wie sie aufwachsen, was sie denken und was sie umtreibt.

Ich würde zudem sagen, dass es auch mit meiner eigenen Geschichte zusammenhängt, warum sie mir vertrauen. Ich gehe den Mädels gegenüber ziemlich offen damit um, dass ich in meiner Jugend auch erfahren habe, was es heißt, Menschen zu verlieren und ganz plötzlich durch schlimme Erlebnisse erwachsen zu werden. Ich wurde kurz nach meinem 19. Geburtstag Vollwaise und auch davor hatte meine Jugend sehr viel mit Krankheit und Verlust zu tun. Das kann man jetzt nicht unbedingt damit vergleichen, in einem Kriegsgebiet aufzuwachsen. Aber trotzdem gibt es dabei Anknüpfungspunkte: Die Erfahrung gemacht zu haben, sehr schnell auf sich gestellt zu sein, früh sehr viel Verantwortung zu übernehmen. Also nicht wie viele andere im selben Alter Dinge zu überlegen wie „Ach cool, wo mache ich mein Work & Travel nach der Schule?“, sondern eher zu denken: „Wie komme ich jetzt klar, und wie kann eine Zukunft überhaupt aussehen?“ Dazu gehört zum Beispiel auch, dass ich mit wenig Geld aufgewachsen bin. Wenn wir auf diese Themen kommen, dann bin ich ihnen gegenüber sehr offen. Ich glaube, das hilft in der Beziehungsarbeit. Es gibt also Ebenen, auf denen ich gut mit den Jugendlichen relaten kann oder gut mit ihnen sprechen kann, weil sie auch wissen, dass ich ähnliche Erfahrungen gemacht habe.

Hältst du also nicht viel davon, eine professionelle Distanz zu den Jugendlichen zu halten?

Doch, das braucht man schon. Manchmal wissen die Mädels auch nicht genau, was eigentlich mein Job ist (langes Lachen). „Ey, was arbeitest du eigentlich?“, sie denken dann ich chille den ganzen Tag hinter der Theke, als wäre es eine Art Freizeitbeschäftigung. Ich stelle deshalb auch regelmäßig klar, dass es ein – und mein – Job ist; dass es zu meinem Job gehört, sie zu begleiten und für sie da zu sein. Und dass es dabei auch Grenzen gibt. Vor allem während der Corona-Pandemie wurde das tatsächlich zum Problem, weil wir uns einfach nicht mehr gesehen haben, sondern ganz viel über Handy und Whatsapp lief. Einige waren in dieser Zeit mit krassen Krisensituationen konfrontiert und hatten keine Ansprechpersonen. Damals hatte ich noch kein Diensthandy, sondern nur mein privates Telefon. Da habe ich dann etwa im Whatsapp-Status gesehen, dass sich jemand selbst verletzt hat. Stell dir vor, das ist dann mitten in der Nacht – und da habe ich natürlich unmittelbar reagiert und geschrieben „Geht's dir gut, alles klar?“. Oder es gab und gibt auch immer wieder Jugendliche, die mir sagen: „Ich will eigentlich gar nicht mehr leben“. Man schaltet nicht einfach das Handy aus, wenn man weiß, im Zweifelsfall wäre man vermutlich die Person, die sie anrufen würden. Es ist auch passiert, dass ich dann die Person war. Da fällt es schwer, eine Grenze zu ziehen. Ich musste lernen, den Jugendlichen zu sagen: „Ich bin für euch da, aber ich bin auch nicht rund um die Uhr für euch da. Ihr könnt mir schreiben, aber ich hab' mein Handy am Wochenende und auch abends aus, und ich melde mich, sobald ich eure Nachrichten sehe.“ Das war – auch für mich – ein Lernprozess. Im Moment gelingt es ganz gut, würde ich sagen. Klar: Man muss natürlich immer schauen, was man von sich selbst preisgibt und was nicht. Insgesamt versuche ich, relativ offen zu sein, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass dadurch das Vertrauensverhältnis gestärkt wird.

Du hast vorhin auch das Aufwachsen in Armut als einen ganz wichtigen Faktor benannt, der auf viele der Jugendlichen, die in den vergangenen Jahren in eure Einrichtung gekommen sind, zutrifft – und der ja auch weit mehr junge Menschen betrifft, als die Mehrheit hier in der bundesdeutschen Gesellschaft glaubt. Wie äußert sich die ökonomische Lage oder wie äußert sich die Klassenzugehörigkeit im Kontext des Heranwachsens?

Es hat immens viele Folgen. Armut führt zu einer Art von Isolation, weil man einfach ganz wenig an der Gesellschaft teilhaben kann. Gleichzeitig ist es sehr oft ein schambehaftetes Thema. Das führt dazu, dass die jungen Leute selbst untereinander, wo es eigentlich allen so geht, den Freund*innen nicht sagen: „Hey, ich kann nicht mitkommen, ich kann es mir nicht leisten“, oder „Ich kann nicht mit euch heute Eisessen gehen, weil ich das Geld dazu nicht habe“. Ich habe im letzten Jahr eine Empowerment-Gruppe für Jugendliche, die von Armut betroffen sind, aufgebaut. Darin haben wir zum ersten Mal wirklich offen über diese Themen gesprochen. Es war eine wichtige Erkenntnis, als alle gemerkt haben, anderen geht es ja genau wie mir! Das war ein ganz bestärkender Moment. Wir konnten ein Bewusstsein bei den Einzelnen schaffen, dass sie nicht mehr denken „Ich bin selbst daran schuld“, oder „Ich habe mich nicht genug angestrengt“ oder diese typischen Mythen, die halt so kursieren. Aber natürlich konnten und können wir mit dieser Empowerment-Gruppe nichts an den strukturellen Verhältnissen ändern.

Inwiefern wirken sich die strukturellen Verhältnisse konkret auf „deine“ Jugendlichen aus?

Die Jugendlichen, mit denen ich arbeite, sind sowieso schon von so vielen Dingen ausgeschlossen: beispielsweise aufgrund ihrer starken Einbindung in die ganzen familiären Aufgaben. Schon die regulären Sozialleistungen zu organisieren – oft auch noch für mehrere Familienmitglieder und an unterschiedlichen Stellen –, zehrt enorm. Das machen die Jugendlichen nämlich sehr viel für die Eltern, weil sie diejenigen sind, die Deutsch können, auch gut deutsch lesen und schreiben können. Dadurch sind sie oft extrem belastet und gestresst, auf allen Ebenen. Das kostet so viel Energie, all die Anträge zu stellen! Den jungen Frauen* fehlt dann vielfach die Kapazität, sich noch zu engagieren oder politisch einzusetzen. Wenn dann solche Aufrufe kommen wie „Wir brauchen neue Jugendliche für den Jugendgemeinderat“, dann denke ich immer: Das ist so weit von der Lebensrealität dieser Jugendlichen entfernt, ihr werdet mit ziemlicher Sicherheit keine einzige Person davon gewinnen können! Sie haben keine Energie und keine Kapazitäten mehr, um sich auf irgendeiner abstrakten Ebene mit Politik zu befassen. Es gibt für sie keine Form der Teilhabe, die ihnen das ermöglichen würde, die Strukturen um sie herum sind zu ausschließend. Mein Eindruck ist, dass die Jugendlichen im Alltag ständig bei allem Möglichen auf Hindernisse stoßen, etwa was die Schule, was Nachhilfe, Unterstützung, irgendwo mitfahren, Teilhaben ganz allgemein betrifft. Natürlich kann man für die meisten Dinge irgendwo Hilfe beantragen. Aber oft geben sie dennoch irgendwann auf – es ist einfach zu mühsam und zu aufwendig, diese ganzen kleinteiligen Bildungs- und Teilhabepakete zu beantragen und zu 1.000 Stellen zu rennen. Und dann ist die Frist schon wieder abgelaufen, ehe eine Sache anfangen kann. Wirklich, auf einer individuellen Ebene bedeutet das so viel Stress, Ängste, doppelte und dreifache Belastungen.

Haben die jungen Frauen* dafür selbst ein Bewusstsein? Du hast ja vorhin berichtet, dass es in eurem Projekt eine Entwicklung gab, bei der sich die jungen Frauen über die eigene Lage bewusst wurden. Wenn du über eure Einrichtung hinausblickst, würdest du sagen, dass übergeordnete Probleme wie Klasse, Klassenabwertung, Sexismus, Rassismus unter Jugendlichen bearbeitet werden? Welche Veränderungen beobachtest du?

Das ist schwer zu sagen. Sie merken natürlich, dass ihnen all das widerfährt. Bei Rassismus und Sexismus existiert mittlerweile auch mehr allgemeines Wissen darum, dass es das gibt, und ich glaube, das fällt ihnen auch stärker auf. Aber was die Armutserfahrung betrifft, habe ich eher den Eindruck, dass sie viele Abwertungen krass verinnerlicht haben. Es wird ihnen einfach immer wieder gesagt, auch in der Schule. Da wird ihnen vermittelt, dass sie sich einfach mehr anstrengen müssten und somit irgendwie auch selbst schuld an ihrer Lage sind. Oder es gibt Situationen, in denen sie bloßgestellt werden, wenn sie irgendeine Art von Leistungen beziehen. In meinen Augen spielt die Schule eine sehr wichtige Rolle, und da gibt es oft sehr wenig Sensibilität. Wir versuchen, darüber natürlich mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und diese Mythen aufzubrechen. Wir weisen auch immer wieder darauf hin, dass sie eigentlich krasse Stärken haben und das einfach ihr Weg viel, viel schwieriger ist. Aber die Mädchen* glauben es nicht immer. Sie haben viele von diesen gesellschaftlichen Erzählungen schon so verinnerlicht. Doch selbst wenn wir an den Punkt kommen, an dem klar wird, dass es nicht ihre Schuld ist, dann kommt als nächstes die Frage: „Und was können wir jetzt machen?“ Und dann können wir auch nicht viele Lösungen anbieten, das ist das Schlimmste. Da steckt man eben in diesen Strukturen fest.

Man kann nicht aus jeder Jugendlichen eine kleine Revolutionärin herausschnitzen, die sich gegen die Verhältnisse auflehnt...

Nein, vor allem nicht in der Lebenssituation, in der sie sich befinden. Wenn in der Schule über Armut gesprochen wird, dann ist es oft etwas, das es zwar gibt, aber irgendwo in Afrika – das Sprechen darüber ist dann auch gleich noch mit einer großen Portion Rassismus verbunden. Die Jugendlichen lernen, dass es arme Kinder in anderen Ländern gibt oder Kinderarbeit. Aber Armut in Deutschland ist kaum Thema, geschweige denn, wie sie aussehen kann: Dass man auch in Armut lebt, wenn man Sozialleistungen bekommt und dass das Existenzminimum hier nicht zum Überleben reicht. Das sind ja keine Dinge, die dir in der Schule vermittelt werden.

Wenn du an eine utopische Vorstellung von Erwachsenwerden für diese Jugendlichen denkst, was müsste oder sollte dann dazugehören?

Viele der jungen Frauen* hatten so was wie eine Kindheit oder Jugend eigentlich gar nicht und schon gar nicht eine unbeschwerte Kindheit oder Jugend. Die allermeisten sind in Kriegsgebieten aufgewachsen, sind über schwierige Wege nach Europa gekommen und dann waren sie hier. Und hier mussten sie mit ihren Vorgeschichten und in den hiesigen Verhältnissen plötzlich erwachsen werden. Mein Wunsch für sie ist deshalb, dass sie eine unbeschwerte Zeit haben können und dass sich gesellschaftliche und politische Strukturen verändern, um das zu ermöglichen. Das ist eine utopische Vorstellung, denn gleichzeitig merke ich immer wieder, dass das kaum möglich ist. Dabei wäre es so wichtig, damit sie auch öfter erkennen, welche außerordentlichen Stärken sie haben. Ich finde die Mädels ja immer mega beeindruckend, wirklich (lacht). Was sie so machen und wie cool sie sind – ich würde mir wünschen, dass sie das auch selbst mehr sehen können und auch dass es ihnen stärker von der Gesellschaft gezeigt wird. Denn das passiert einfach überhaupt nicht. Gerade als geflüchtete Person, weibliche Person, Person, die von Armut betroffen ist – und das dann auch noch alles kombiniert, da schlägt ihnen vieles entgegen, was sie entmutigt. Sie erfahren einfach so viele Abwertungen und sind mit so vielen Schwierigkeiten konfrontiert.

Da sind dann Räume wie dieser und die Beziehungen der Mädchen* untereinander umso wichtiger, oder?

Ja, das stimmt. Ich wünsche mir auch, dass es mehr von dieser Art Räumen gibt, wo die Jugendlichen ihre Themen besprechen können und in denen Solidarität entstehen kann. Wo man dann merkt, ich bin nicht allein! Es gibt andere, die haben ähnliche Erfahrungen gemacht; es gibt Menschen, die verstehen mich; es gibt Menschen, die denken nicht, ich bin an allem selbst schuld. Ich meine aber zudem, dass die soziale Arbeit da viel mehr leisten muss. Sie muss viel politischer werden. Von fachlicher Seite müssen diese Missstände stärker benannt werden, das passiert bislang einfach zu wenig. Wir können nicht einfach nur Armut irgendwie verwalten oder sagen, „Guck mal hier ist übrigens die Tafel und hier ist ein Umsonstladen, da musst du jetzt halt hingehen, sorry“, oder „Kauft mal öfter bei ALDI ein“ oder so. Dieses Verwalten ist eine Aufgabe, die wir viel zu oft viel und zu schnell übernehmen und schon gar nicht mehr hinterfragen. Damit meine ich die Soziale Arbeit insgesamt.

Du meinst, da braucht es dringend kritische fachliche Positionierung…

Ja, definitiv. Insbesondere, wenn es um Armut geht, dabei ist das ein Riesenthema für die Soziale Arbeit. Ich erlebe aber oft, zum Beispiel in Klassismus-Workshops, dass der Großteil dann doch vor der Systemkritik zurückschreckt. Immer wieder höre ich da von Teilnehmenden: „Hach ja, den Kapitalismus kann man ja auch nicht abschaffen“ oder „Da können wir ja jetzt eh nichts dran machen“. Dann wird zwar darüber gesprochen, was man hier und jetzt in seinem Jugendtreff umsetzen kann, zum Beispiel das Essen kostenlos anzubieten. Aber das große Ganze wird als unveränderlich abgetan: „So leben wir halt. So ist halt unsere Gesellschaft“. Und ja: Ich würde auch sagen, Veränderung ist ganz schön schwer; man muss da beim Einzelnen anfangen, zum Beispiel indem man ein Bewusstsein für die eigene Lage weckt. Und das kann auf unterschiedlichen Ebenen passieren: mit den Jugendlichen kann man ein Verständnis dafür erarbeiten, dass sie nicht selbst schuld sind oder versagt haben und dass Solidarität und Gemeinsamkeit Mittel sind, um sich gegenseitig zu stärken. Mit anderen Sozialarbeitenden kann man darüber ins Gespräch kommen, welche Rolle unsere Profession bei der Verwaltung von Armut spielt, wie wir uns kritisch positionieren können usw. Aber es ist ein mühsamer Weg und es wird immer Gegenwind geben.

* Das Interview führte Johanna Bröse.

Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Hey, ich kann nicht mitkommen, ich kann es mir nicht leisten“. Erschienen in: Erwachsenwerden. 68/ 2023. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1837. Abgerufen am: 27. 04. 2024 18:39.