Critical Gaming Ausgabe Nr. 72, 16. Juli 2024
Diamanten herumschieben, Armeen aufstellen, Autorennen fahren oder ein paar Pflanzen-Zombies verkloppen – das geht ruckzuck, überall. Abends dann noch ein paar Freund:innen auf dem Battlefield treffen, die endlose Quest-Reihe beenden oder noch ein paar Items grinden. Ist doch alles harmlos – oder? Seit Jahrzehnten hören wir: Der weltweite Terror und die Gewalt komme mitunter aus den virtuellen Welten hinein in die Köpfe der Jugend! Ob Egoshooter, Echtzeit-Strategie-Spiele oder MMORPG (Multiplayer-Online-Rollenspiele): Waren nicht alle Amokläufer, alle Rechtsterroristen und sowieso alle Einzeltäter dieser Welt Gamer?!
Es könnte etwas dran sein an der moralisierenden Panik der Anti-Gamer-Narrative. Schließlich bezeichnet auch Steve „Breitbart“ Bannon, ultrarechter Medienstratege, Videospielwelten mit ihren „Millionen leidenschaftlicher junger Männer“ als „natürliche Arena“ für white supremacists. Er bedient damit die Vorstellung einer vorwiegend männlichen Gaming-Szene und alle antifeministischen Klischees, die damit einhergehen. Sein Befund mag für ultrarechte Gamer-Foren vielleicht gelten, für den Spiele-Mainstream trifft es aber längst nicht zu. Denn möglichst breite und diversifizierte Zielgruppen ermöglichen maximalen Profit – und dieser steigt seit Jahren an: Laut Statista-Prognose wird der Umsatz allein auf dem deutschen Videospielmarkt im Jahr 2024 rund 4,89 Mrd. Euro betragen; Mobile Games sind darin mit circa 1,47 Mrd. Euro vertreten. Nicht unwichtig dabei: Der Umsatz des bei diesen Games zusätzlich eingesetzten Ingame Advertisings (Werbung, In-App-Käufe und so weiter) ist fast genauso hoch.
Games können der Normalisierung von Krieg und Militarisierung, der emotionalen Abstumpfung hin zu Horror, Tötungen und unethischen Entscheidungen zuträglich sein. Der Terror aus dem Spiel ist allerdings ein Abbild der Realität. Er spiegelt ein Gesellschaftssystem, das sozialchauvinistische, rassistische, misogyne und militaristische Inhalte normalisiert und befördert, auch weil das profitabel ist. Viele Game-Hersteller zahlen etwa Lizenzgebühren an Waffen- und Rüstungsunternehmen, wenn ihre Spiele virtuelle Reproduktionen von realen Waffen enthalten. Unabhängig von der Normalisierung durch Gewalt in Videospielen beinhaltet der Kauf so ziemlich aller bekannten Ego-Shooter-Spiele also die Querfinanzierung des militärisch-industriellen Komplexes.
Der Kampf gegen Ausbeutung in der Gaming-Welt ist indes keine Interpretations- sondern Organisationssache. Auf internationaler Ebene hat sich etwa die Graswurzelbewegung „Game Workers Unite“ formiert, die seit einigen Jahren versucht, gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen im Spielesektor voranzutreiben. Auch für Gamer:innen selbst gibt es Potenzial für emanzipatorische Aneignung: Im Irak etwa organisierte die (nach einem bekannten Handyspiel) „PUBG-Generation“ genannte Jugend 2019 ihren Protest auf den Straßen über das gemeinsame Game. Sie nutzten die Multiplayer-Plattform, um sich zeitlich und räumlich zu organisieren und Taktiken auszutauschen. Auch in anderen Games haben Player:innen in der Vergangenheit virtuelle Räume genutzt, um politische Proteste zu inszenieren oder Debatten anzustoßen. „Total Refusal“, eine „pseudomarxistische Medien-Guerilla“, kreieren Irritation in Spielen, indem sie unter anderem die Nonplayable Characters (NPCs) anspielen und auf die Rollenverteilung bei Reproduktionsarbeiten aufmerksam machen. Unabhängige Games, die sich dem Profitzwang entziehen, ermöglichen darüber hinaus die konkrete Erfahrbarkeit von Planwirtschaft und Sozialismus, sie können Orte der Kollektivität, Solidarität und Erinnerung sein.
Hinzu kommt das große Thema der Inklusivität von Spielwelten: Wer hat Zugang zu Spielen (inhaltlich wie konkret physisch), an wen richten sie sich, welche Themen werden auf welche Weise verhandelt? Wie können Spiele dabei helfen, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren – oder lösen sie doch welche aus? Vor welchen Herausforderungen stehen Games und wie können emanzipatorische, klassenkämpferische, feministische Antworten darauf aussehen? Wie könnte eine Gamingkultur im Sozialismus aussehen und wie kann Sozialismus als Utopie in Spielen probierbar werden? Diesen und weiteren Fragen sind wir mit dieser Ausgabe nachgegangen.
In der Ausgabe #73 im Oktober 2024 wird es einen Schwerpunkt zum Thema „Linke Bündnisse“ geben. Wie können wir als Bewegung wieder mehr eins werden und unser Abgrenzungsbestreben gegen ein unbedingt notwendiges Miteinander eintauschen?
Viel Spaß beim kritischen Lesen!