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„Spiellogiken unterlaufen reale menschliche Abhängigkeiten“

„Spiellogiken unterlaufen reale menschliche Abhängigkeiten“ © DLR
Interviewpartner_innen
Interview mit Simon Ledder

Computerspiele sind Unterhaltung für die Massen und somit stets politisch geprägt. Neben dem Wiederholen und Bestätigen des kapitalisitischen Status quo, können sich auch Räume für eine emanzipatorische Politik öffnen.

kritisch-lesen.de: Im Allgemeinen wird Gaming entweder im Bereich Spaß und Freizeit angesiedelt oder als Gefahr für Jugendliche stigmatisiert. Doch Games können auch als ein politisches Feld verstanden werden. Womit haben wir es dann zu tun?

Simon Das kommt drauf an, was für ein Verständnis von Politik man hat. Gaming ist zunächst einmal eine Sache, die als Teil von Unterhaltung gilt. Doch die politischen Verbindungslinien sind stets vorhanden. Beispielsweise erzählen viele Spiele Geschichten, die uns als Spieler*in in Kriegsszenarien setzen. Der jeweilige Hintergrund wird jedoch nicht ausgeleuchtet – wir befinden uns unmittelbar im Kampf zwischen Fraktion A und Fraktion B. Das Computerspiel erzählt uns somit etwas darüber, wie Menschen, beziehungsweise wie Fraktionen, miteinander interagieren, allerdings direkt in Form kriegerischer Auseinandersetzung. Dabei ist das ja ein Szenario, das in der realen Welt dezidiert Ausdruck von vorangegangenen und gescheiterten politischen Verhandlungen ist, in welcher Form auch immer.

Die Spiele sind auch in dem Sinne politisch, dass sie uns Ideen vorstellen, wie die Gesellschaft und die Welt funktionieren oder funktionieren könnten. Das gilt für alle Computerspiele, die irgendwie eine Story erzählen. Das ist natürlich mal mehr, mal weniger greifbar. Aber allein die Darstellungsweisen, beispielsweise wie divers die Figuren sind, haben starke politische Implikationen. Sie machen eine Aussage darüber, wer aus Sicht der Spielemacher*innen eine – wenn auch fiktive – Welt bevölkert. Wenn Spieleentwickler:innen sich anmaßen, das europäische Mittelalter authentisch darzustellen und nur Menschen mit weißer Hautfarbe zeigen, dann ist das damit ein politisches Statement – leider eines, das historische Migrationsbewegungen überhaupt nicht auf dem Schirm hat. Trotz aller Kritik von geschichtswissenschaftlicher Seite haben solche Spiele großen Erfolg.

Wir sehen das Politische nicht zuletzt in Spielmechaniken, die mich dafür belohnen, dass ich besonders diszipliniert vorgehe, wie es häufig bei Fitnessspielen der Fall ist. Sie setzen mich einem permanenten Vergleich mit anderen aus: Wie lange haben die anderen Leute für die Strecke gebraucht, die ich heute gelaufen bin und so weiter. Der Vergleich dient als eine Motivation, an mir zu arbeiten. Das würde ich auch als Politik betrachten, insofern es Auswirkungen auf meine Lebensführung hat. Es ist damit letzten Endes eine Auseinandersetzung von Gesellschaftsentwürfen.

Damit fungieren Spiele oft wie eine Übungsarena für das neoliberal konforme Subjekt, oder?

Ja, das findet sich fast überall. Die meisten Computerspiele haben einen ansteigenden Schwierigkeitsgrad. Damit ich vorankomme, muss ich immer besser werden. Spielen ist eine Aufforderung zur Selbstoptimierung und damit hochgradig anschlussfähig an neoliberale Forderungen. Das ist natürlich eine Krux und ich weiß selbst nicht, wie Spieleentwicklungsstudios einen sinnvollen emanzipatorischen Umgang damit finden können. Es wäre schließlich sehr frustrierend, wenn, egal wie sehr ich mich anstrenge, ich am Ende ein Spiel nicht gewinnen kann. Vielleicht müssen am Ende alle gewinnen. Ich weiß aber nicht, ob ich das als utopisches Szenario formulieren möchte (lacht). Der Zwang zur Selbstoptimierung ist jedenfalls tricky und ist in einigen Spielen stärker ausgeprägt als in anderen. Einige Spiele werben etwa damit, dass sie unglaublich schwierig zu meistern sind. Also, wenn Du es am Ende schaffst, fühlst Du dich wirklich wie etwas Besonderes – aber wie gesagt geht das immer mit dem neoliberal auferlegten Zwang einher, stets an uns arbeiten und unsere Fähigkeiten ausbauen zu müssen.

Können Spiele denn überhaupt kapitalismuskritisch sein?

Wenn wir ausschließlich den Inhalt betrachten, können uns selbstverständlich auch Spiele vermitteln, wo das Problem mit den kapitalistischen Verhältnissen liegt. Das machen einige Spiele auch ganz explizit und benennen Ungleichheitsmechanismen. Sie zeigen, wie die herrschende Klasse Strukturen aufrechterhält, um davon zu profitieren. Es gibt auch Spiele, die darauf setzen, dass die Spielenden kooperativ agieren und Ungleichheiten umstürzen. Damit bewegen sich die Spiele thematisch schon eher in die Richtung: Wie motivieren wir eine Bewegung? Das Problem bleibt aber, dass es kaum ein Spiel gibt, das nicht am Ende Deine Leistung belohnt. Die Psychologie würde sagen, dass wir es eben mit einer anthropologischen Konstante zu tun haben: Menschen wollen für ihre Leistung belohnt werden. Daran hätte ich allerdings meine Zweifel.

Wie würden denn andere Ansätze aussehen? Hast du da Ideen?

Es gibt Spiele wie „Riot“, einen Aufstands-Simulator, die uns zeigen, dass im Gegensatz zu klassischen Echtzeitstrategiespielen die Auseinandersetzung auf dem Feld gar nicht so klar geplant werden kann, sondern dort großes Chaos herrscht. Oder Visual Novels, bei denen ich als Spieler*in einfach nur immer weiter voranklicke, eventuell mal die Entscheidung zwischen A oder B fällen muss, aber die Geschichte auf jeden Fall weitergeht. Es gibt keine falsche Entscheidung und kein Game Over, außer ich beschließe, mit dem Spiel aufzuhören. Insofern gibt es schon die eine oder andere Möglichkeit im Spiel, die Pfade der Leistungsbelohnung zu verlassen. Aber das sind eher Ausnahmen. Also auf der inhaltlichen Ebene lässt sich Kapitalismuskritik auch im Spiel leicht üben, aber auf der formalen wird es sehr schwierig.

Eine Idee, die ich seit Ewigkeiten habe, aber mangels Programmierfähigkeiten nie umsetzen konnte, ist, ein Spiel zu entwickeln, das den tendenziellen Fall der Profitrate prozedural darstellt. Also die verschiedenen kapitalistischen Unternehmen, die zueinander in Konkurrenz stehen, würden immer wieder technisch Fortschritte machen, darüber aber immer weniger Arbeitskräfte benötigen und dementsprechend würde die eigene Profitrate langfristig sinken, bis das ganze System kollabiert. Ich weiß nicht, inwiefern das ein schönes Spielerlebnis wäre.

Großartige Idee. Ich würde es wahrscheinlich mit ganz viel Kopfschmerzen durchspielen.

Schön, das notiere ich mir gleich!

Du hast kurz angedeutet, es käme auch darauf an, inwiefern Spiele für eine Bewegung motivierend wirken können. Wie kommt die Organisierung ins Spiel?

Ich bin mir unsicher, wie viel Organisierung schon direkt in Spielen steckt oder wie viel über die Gaming Community passiert. Also wir haben durchaus eine eigene Spielekultur, die nach eigenen Logiken funktioniert. Innerhalb dieser Kultur gibt es aber sehr verschiedene politische Perspektiven und Fraktionen. Die GamerGate-Geschichte ist wahrscheinlich eine, von denen auch Leute etwas mitbekommen haben, die ansonsten nicht viel mit Gaming zu tun haben. Hier hat sich die US-amerikanische Alt-Right im Prinzip zum ersten Mal formiert. GamerGate war organisierend für die extreme Rechte.

Gibt es das auch vergleichbar aus einer linken Community heraus?

Es gibt viele Einzelpersonen und vereinzelte Gruppen, die präsent sind. Total Refusal, die sich ja bis vor kurzem als pseudo-marxistische Medien-Guerilla bezeichnet haben, machen beispielsweise spannende Dinge mit Computerspielen, die bewusst mit den Vorgaben der Spiele brechen und die Logiken in Computerspielen nutzen, um uns etwas über kapitalistische Verhältnisse zu erzählen oder auf Klimaprobleme hinzuweisen und einen motivierenden Charakter haben. Es gibt also die eine oder andere Initiative, die versucht, politische Kräfte zu bündeln. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es irgendwo in der Gaming Community eine vergleichbare emanzipatorische Kraft, eine überbordende, groß angelegte Organisation gibt.

Wie kann man sich denn generell Gaming Communities vorstellen, wie werden dort politische Inhalte geteilt?

Gaming Communities sind oft spielspezifische Communities, die darauf schauen, wie die Kultur im Spiel gelebt wird. Politisch wird es etwa bei der Frage, als wie inklusiv sich die Communities verstehen. In der „Call of Duty“-Community zum Beispiel wird nicht viel moderiert. Mit dem Effekt, dass man dort ohne Probleme Hate Speech loslassen kann. Demgegenüber tickt die „Deep Rock Galactic“-Community ganz anders. In diesem kooperativen Shooter wird stets gemeinsam gegen computer-gesteuerte Figuren gekämpft, und das Spiel erlaubt automatisierte Arten der Kommunikation, um sich gegenseitig zu unterstützen. Trolle hingegen lassen sich sehr leicht aus dem eigenen Team schmeißen. All das führt zu einem unterstützenden Umgang miteinander. Auch die Plattformen, auf denen sich die Communities austauschen, spielen eine Rolle: Steam als wichtigste Verkaufsplattform filtert bis heute nur sehr schlecht. Ich weiß nicht, wie viele User dort Profile haben, die Adolf Hitler beweihräuchern. Und es gibt sehr viele Berichte von Personen, die diese Profile melden und es trotzdem keine Reaktionen gibt.

Es gibt offensichtlich rechte Spiele, martialische Kriegsspiele, die beispielsweise eine harte, soldatische Männlichkeit zur Norm erheben oder krude Gut-Böse-Schemata nutzen, nach denen die Bösen stets wie Kommies oder wie Muslime aussehen. Aber das kann natürlich auch viel subtiler stattfinden. Kannst du dazu etwas sagen?

Ich bin immer etwas vorsichtig damit, martialisch automatisch mit rechts gleichzusetzen oder mit faschistischer Ästhetik. Da gibt es schon Unterschiede und Spielräume, auch in der Ausgestaltung und Auslegung. Jörg Friedrich, einer der prominenteren Spieleentwickler hierzulande, hat einmal in einem Vortrag erläutert, dass man bei sehr vielen Zweiter-Weltkrieg-Spielen entweder auf der Seite der Achsenmächte oder auf der Seite der Alliierten spielt, egal ob Shooter oder Strategiespiel. Und je nachdem, für welche der beiden Seiten ich mich entscheide, haben die Uniform andere Farben und die Panzer andere Namen und Funktionen; die einen machen vielleicht elf Schadenspunkte, die anderen zwölf. Dass hinter der jeweiligen Kriegsführung ganz verschiedene Perspektiven und Zielsetzungen stehen, fällt völlig hinunter. Alles wird reduziert auf zwei Fraktionen mit unterschiedlichen Styles, und ich kann mich je nach Lust und Laune für eine Seite entscheiden. Das wird den komplexen politischen Dimensionen dahinter nicht im Geringsten gerecht. In dieser Einebnung ergibt es keinen Sinn mehr, von Tätern und Opfern zu sprechen. Ich würde an dieser Stelle soweit gehen, dass es zu einer Verharmlosung des NS kommt, wenn die politischen Hintergründe einfach komplett unklar bleiben und man alles in einen Topf wirft.

Zum anderen gibt es Spiele, in denen es sehr klare Freund-Feind-Schemata gibt. Ein Game, das die US-Armee bis 2022 als Rekrutierungsinstrument verwendet hat, ist „America‘s Army“; ein Shooter, bei dem man erst einmal ein paar Kurse im Soldatentrainingslager zubringen muss, um schießen oder Gefechtstriage zu lernen. Dann darfst Du in den Multiplayer, in dem Gruppen gegeneinander antreten. Deine Gruppe trägt immer die Uniform der US-Armee, jede*r Spieler*in nimmt diese somit als positive Identifikation wahr. Die Feinde sind immer die anderen, ohne die allzu genau zu charakterisieren. Mittlerweile pflegt die US-Armee kein eigenes Spiel mehr, sondern hat eigene E-Sports-Teams, richtet Turniere aus und organisiert E-Sports-Events an Schulen, um junge Menschen für sich zu gewinnen.

Spiele erzählen meist eine Story mit einem autonomen heroischen Subjekt im Zentrum. Läuft das nicht einer realen Verfasstheit von Menschen beziehungsweise der Gesellschaft entgegen?

Dazu muss ich etwas ausholen. Wenn ich vor 2000 Jahren ein Haus bauen wollte, dann habe ich das zusammen mit meinem Clan umgesetzt. Heute stelle ich einen Bauantrag bei der Kommune, der muss genehmigt werden, ich beauftrage die Planung und den Bau und so weiter und so fort. Es sind sehr viele Leute involviert und es braucht viel Zeit bis zur Fertigstellung. Soziologisch kann man dafür den Begriff der Beziehungsketten nutzen, die immer länger werden. Ganz anders im Computerspiel: Ich drücke drei Tasten und schon steht das Haus. All die Prozesse, die in der physischen Realität sehr viel Zeit brauchen, geschehen im Computerspiel im Nu und mit erheblich weniger Aufwand. Im realen Leben kann es hundert Gründe geben, warum ich mein Haus doch nicht bauen darf, die nicht immer transparent sind. Im Computerspiel erfahre ich sofort: Du kannst das Haus nicht bauen, Du hast nicht genug Holz. Dann schicke ich Spielfiguren los zum Holzfällen, Problem gelöst. Das heißt, ich als Spieler*in habe eine ganz andere Erfahrung von Selbstwirksamkeit: Was ich tue, hat direkt erfahrbare Konsequenzen. Computerspiele sind ein riesiger Feedbackloop. Ich handle und kriege die Konsequenzen sofort zurückgespielt. Damit hängt auch die Erfahrung der eigenen Unverletzlichkeit zusammen, beispielsweise bei einem Shooter-Spiel. Ich starte ein neues Level, plötzlich stehen zehn Gegner vor mir und legen meinen Charakter um. Ich starte neu und speise diese Erfahrung in meine Strategie in einer Art Trial-and-Error-Verfahren ein, bis ich einen Weg finde, das Level zu schaffen. Mit jedem Reset lerne ich, mein eigenes Spiel zu verbessern – so lange, bis ich es irgendwann geschafft habe, diese zehn feindlichen Figuren zu besiegen. Das heißt, ich habe meinen Charakter verbessert. Das ist auch eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Und all das hängt ausschließlich von mir und meinem Spielverhalten und meinem eigenen Handeln ab: die Art und Weise, wie ich strategisch, taktisch vorgehe, wie ich klicke, was ich auswähle und so weiter.

Inwiefern siehst du das im Kontext von strukturellen Ungleichheitsverhältnissen kritisch? Welche Rolle spielt Vulnerabilität in diesem Szenario?

Verletzlichkeit ein Begriff, den ich an dieser Stelle für sehr relevant halte: Alle Menschen sind verletzlich, aber einige Menschen in prekären Verhältnissen sind verletzlicher als andere. Der privilegierte Teil dieser Welt lebt unter Bedingungen, die sehr viele Gefahren minimieren und sehr viele Risiken ausschließen. Es geht damit um politische Rahmenbedingungen, wer in welchem Ausmaß verletzlich ist. Wenn wir das auf der Ebene von Computerspielen anschauen, verschiebt sich die Perspektive. Beispielsweise hat mein Avatar im Spiel eine bestimmte Anzahl von Gesundheitspunkten. Wenn in einer Kampfsituation auf ihn geschossen wird, verliert er einige davon. Er ist also verletzlich! Aber nicht wirklich: Denn, wenn ich als Spieler*in diesen Charakter entsprechend geschickt steuere, überlebt er. Sein Überleben hängt dabei ausschließlich von mir ab und nicht von den Rahmenbedingungen, die seine Verletzlichkeit erst konstituieren.

Als politische Idee ist Verletzlichkeit eine Maßgabe dafür, wie wir Gesellschaft einrichten können, um die Verletzlichkeit von Menschen abzufedern; die Verletzlichkeit, die nicht zuletzt darin begründet ist, dass wir als Menschen von anderen Menschen abhängig sind. All das wird in Computerspielen meist ausgeblendet. Da müssen wir einfach wissen, wann wir uns wie bewegen müssen, damit der Charakter nicht stirbt. Es wird mir kein Gefühl von Verletzlichkeit vermittelt. Verletzlichkeit ist hier ein Zustand, der überwunden werden kann, indem ich mich als Individuum anstrenge. Das ist, wenn überhaupt, eine neoliberale Idee von Verletzlichkeit. Ganz sicher ist es keine emanzipatorische Idee. In der realen Welt liegen so viele Dinge nicht in unserer Hand. Es hängt so viel von der Gesellschaft insgesamt ab, von dem Handeln anderer Menschen, von den internen Logiken des Systems und vielem mehr, auf das wir keinen Einfluss haben. Aus linker Perspektive ist das an Computerspielen hochproblematisch. Im Gegensatz zu den Logiken im Computerspiel befürworte ich als politische Strategie eine Utopie der Verletzlichkeit, in der die Verletzlichkeit als Ausgangspunkt für gesellschaftliche Rahmenbedingungen genommen wird.

Was heißt das aus einer Perspektive auf Behinderung und Gaming?

Ableismus, also die Beurteilung und Schlechterstellung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten und (Nicht_)Behinderungen im Spiel, hängt mit dem Spannungsfeld von Selbstwirksamkeit und Verletzlichkeit eng zusammen. Es wird immer auf die Fähigkeiten des Avatars gesetzt. Der Avatar, der schießen kann; der Avatar, der einen Treffer einstecken kann, der sich regenerieren kann und so weiter. All das sind Fähigkeiten, die mit einer Vorstellung von Autonomie zusammenhängen, die behinderten Menschen oft fälschlicherweise abgesprochen wird. Beispielsweise: Die Person, die sich mit dem Rollstuhl fortbewegt, wird oft als weniger arbeitsfähig betrachtet, ganz unabhängig davon, wie leistungsfähig diese Person am Ende faktisch ist. Bestimmte Vorurteile, die damit einhergehen, führen nicht zuletzt zu höherer Arbeitslosigkeit und Armut bei behinderten Menschen. Computerspiele perpetuieren die Idee, dass man es mit genügend Anstrengung schon irgendwie selber schaffen kann und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Die Spiellogiken unterlaufen die realen zwischenmenschlichen Abhängigkeiten.

Wie würde eine gute Repräsentation in Spielen denn aussehen, die sich generell an alle Menschen richtet und versucht, inklusiv zu sein?

Die Forscherin Mai-Anh Boger hat eine sehr gute Feststellung gemacht, wenn es um Repräsentationen von marginalisierten Gruppen in emanzipatorischen Projekten geht: Entweder es geht um eine Normalisierung der Kategorie, um Empowerment der betroffenen Gruppe oder es geht um eine Dekonstruktion der Kategorie. Das Problem ist: Maximal zwei von drei funktionieren zusammen, mehr nicht. Die Schwierigkeit haben wir in allen Differenzkategorien: Wie auch immer wir repräsentieren, etwas, das wahrscheinlich auch wichtig wäre, werden wir nicht umgesetzt bekommen.

Kannst du die Strategien noch ein bisschen genauer ausführen?

Als eine elementare Sache bei der Repräsentation – beispielsweise, wenn eine Figur ganz explizit als behindert markiert wird, sie eine Augenklappe trägt oder im Rollstuhl sitzt – erzählen die Spiele eine Geschichte, wie es dazu gekommen ist. Die behinderten Figuren können nicht einfach so existieren, sondern benötigen eine Erklärung ihres Zustandes. Als seien behinderte Menschen uns allen irgendeine Erklärung schuldig. Das ist sehr übergriffig. In Computerspielen wird das aber als Selbstverständlichkeit etabliert. Wir erfahren immer die tragische Hintergrundgeschichte, hier der Unfall, da die gewalttätige Auseinandersetzung, hier das Kriegserlebnis. Ein Schritt Richtung Normalität wäre es, wenn eine Person im Rollstuhl dabei wäre und es nicht thematisiert werden würde. Einen Charakter auf Rollstuhlnutzung zu reduzieren, alles in diesem Charakter ausschließlich darauf zu fokussieren und dann auch noch den Spieler*innen zu erklären, wie es dazu gekommen ist, ist eine Form der Besonderung. Ein gegenläufiges Beispiel: Bei „Overwatch“ gibt es einen autistischen Charakter. Das wird aus dem einen oder anderen Satz deutlich, den der Charakter von sich gibt, oder weil das Spielestudioteam in Interviews darüber sprach, diese Person als autistisch konzipiert zu haben. Ihr Autismus wirkt sich aber ansonsten nicht in den Spielfähigkeiten aus, vielmehr ist dieser Charakter ein genauso fähiger Avatar wie die anderen auch. Das ist eine ganz spannende Möglichkeit, damit umzugehen.

Siehst du auch außerhalb des Spiels, in der realen Welt, Beispiele für Empowerment?

Es gibt auch im deutschsprachigen Bereich immer mehr Menschen, denen das ganze Themenfeld Ableismus wichtig ist. Was es gerade braucht, ist aber eine stärkere Vernetzung dieser Personen. Da rede ich von behinderten Gamer*innen, von Spieleentwicklungsstudios, von allen möglichen Akteur*innen. Außerhalb der Bundesrepublik ist da schon erheblich mehr passiert: Da gibt es Organisationen, da gibt es Verbände, die dezidiert anti-ableistisch unterwegs sind. In Deutschland existiert mit Game:in immerhin eine Vereinigung, die den Sexismus in der Games-Branche überwinden will. Die machen etliche Veranstaltungen und bieten sich als Anlaufstelle an. Problematisch ist sicherlich die geringe gewerkschaftliche Organisierung der Gaming-Branche. Auch hierzulande gab es zuletzt massenhaft Entlassungen; ein Betriebsrat könnte zumindest auf eine sozialverträgliche Abwicklung achten. Und auch wenn es hier nicht zu ganz so katastrophalen Crunch-Episoden wie in den USA kommt – wenn in den Wochen vor dem Veröffentlichungstermin die Angestellten jede Stunde Freizeit und das Wochenende streichen, um das Spiel fertig zu machen, werden die Arbeitsbedingungen immer aufreibender.

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Das Interview führte Johanna Bröse.

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Simon Ledder ist Medienwissenschaftler und Soziologe. Seit über zehn Jahren forscht und lehrt er im Spannungsfeld von Games, Nicht_Behinderung und anderen Ungleichheitsstrukturen.

Zitathinweis: Johanna Bröse: „Spiellogiken unterlaufen reale menschliche Abhängigkeiten“. Erschienen in: Critical Gaming. 72/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/xMWz8. Abgerufen am: 30. 10. 2024 22:23.