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Karl am Controller

Buchautor_innen
Jamie Woodcock
Buchtitel
Marx at the Arcade
Buchuntertitel
Consoles, Controllers, and Class Struggle

Die marxistische Betrachtung von Videospielen bietet nicht nur Erkenntnisse für Gamer*innen, sondern auch für massiv ausgebeutete Entwickler*innen.

Der Titel hat Wucht: „Marx at the Arcade“. Wer hier eventuell noch Zweifel hat, in welche ideologische Richtung das Buch weisen könnte – es könnte ja auch ironisch gemeint gewesen sein? –, den klärt der Untertitel unmittelbar auf: „Consoles, Controllers and Class Struggle”. Das vom jungen britischen Soziologen Jamie Woodcock geschriebene, knapp 170 Seiten lange Buch erschien 2019 im Verlag Haymarket Books, ein Verlag der es sich zum Ziel gesetzt hat „eine sozialistische Arbeitsstätte in einer kapitalistischen Welt zu sein“. Jamie Woodcock hat davor schon ein Buch über seine Undercover-Erfahrungen in einem Callcenter geschrieben und ist außerdem Mitherausgeber der „Notes from Below“, laut eigenen Angaben eine „Publikation, die sich dem Sozialismus verschrieben hat, womit wir die Selbstemanzipation der arbeitenden Klasse von Kapitalismus und Staat meinen“. Ach ja, und dann ist Woodcock auch Mitherausgeber des Historical Materialism Journal.

Nur damit da keine Missverständnisse entstehen, es ist furchtbar erfrischend einen politischen Text zu lesen, der so ehrlich zu seiner ideologischen Perspektive steht. „Marxist*innen sollten sich für Videospiele interessieren“, schreibt Woodcock in seiner Einleitung und: „Videospieler*innen können von einer marxistischen Analyse profitieren“ (S. 8). In seinem Buch wird der Autor entsprechend in einem ersten Teil die Videospielproduktion und in einem zweiten Teil das Videospielen selbst aus einer marxistischen Perspektive analysieren. Spoiler: Der erste Teil ist sehr viel besser.

Die Videospieleindustrie

So fängt der erste Teil überraschend stark an. Nach der obligatorischen Anrufung Johan Huizingas und Roger Caillois führt Woodcock seine Analyse der Spieleindustrie mit einer kurzen Geschichte digitaler Spiele ein, wie wir es von vielen Büchern zu Videospielen gewohnt sind. Allerdings begnügt sich Woodcock, vermutlich auch bedingt durch seine Sozialisierung mit Videospielen im Großbritannien der 1980er und 1990er Jahre, eben nicht einfach damit, die gewohnten „Erfolgsgeschichten“ von Atari, Nintendo, Electronic Arts zu reproduzieren. Als einer von wenigen Autoren – im deutschsprachigen Raum wäre hier zum Beispiel Claus Pias zu nennen – gräbt er etwas tiefer. Woodcock erzählt vom Nimatron (1940) und Claude Shannons Konzept eines Schachcomputers (1950), Arthur Samuels Checkers (1956) und Alex Bernsteins Schachprogramm (1957). Im Gegensatz zu Steven Kent und seinen Epigonen reduziert er Computerspielgeschichte nicht auf eine Erzählung erfolgreicher Unternehmen, sondern inkludiert auch die häufig übersehenen Kleinprojekte und Gedankenexperimente abseits des Marktes. Er wirft einen ersten Blick auf die aktive Hacker- und DIY-Szene, schreibt also nicht nur von Atari und dem Video Game Crash sondern auch von kleinen Newslettern, über die in BASIC geschriebene Spielecodes vertrieben wurden. In der Tradition von Nick Dyer-Witheford und Greig de Peuter zeichnet er die wechselseitigen Beziehungen digitaler Spiele und des „militärisch-akademisch-industrieller Komplex“ nach: Viele der ersten Spiele wurden zum Beispiel an Großrechnern entwickelt, die eigentlich im Dienste von Rüstungsprojekten eingesetzt wurden. Das Arpanet, der militärische Vorläufer des Internet wurde zur Verbreitung von Spielen genutzt.

Der größte Teil des ersten Abschnitts ist aber einem aktuellen Blick auf die „videogame industry“ gewidmet, eine ausführlich gewollte Bestandsaufnahme. Natürlich stößt der Autor hier auch an Grenzen: Hauptaugenmerk liegt auf der europäischen und amerikanischen Spielindustrie und nicht auf den jungen Spielgiganten aus der Volksrepublik China, obwohl die drei umsatzstärksten Spiele (jeweils mehr als eine Milliarde Dollar) vom chinesischen Publisher Tencent vertrieben werden. Allerdings ist der fokussierte und gründliche Blick auf das Vereinigte Königreich und die USA auch eigentlich die Stärke des Buches. Hier kann er exemplarisch die Rolle der Videospielindustrie innerhalb des Kapitalismus nachzeichnen, und das Videospiel als „Ware“ im marxistischen Sinne begreifen. So kann er zum Beispiel einleuchtend erklären, warum Downloadtitel, trotz der geringeren Produktions- und Vertriebskosten, nach wie vor teurer als Spiele auf physischen Datenträgern sind: „Der Großteil des Gewinns mit Videospielen wird in den Wochen nach ihrer Markteinführung erzielt, weshalb die Produktplatzierung an physischen Orten von entscheidender Bedeutung ist.“ (S. 49)

Wieder geht er auf das Näheverhältnis zwischen Spielindustrie und Militär ein. Insbesondere Shooter und Strategiespiele helfen, indem sie Militäraktionen „normalisieren“. So erklärt sich auch die reibungslose Zusammenarbeit mit unzähligen militärischen Berater*innen bei Spielreihen wie „Call of Duty“. Hierzu zitiert er einen Mitarbeiter: „Wir haben das Glück, dass die Reihe viele Fans in der Militärorganisation und in der Unterhaltungsindustrie hat.“ Weiter kommt er auf die extensive Nutzung von lizenzierten Darstellungen realer Feuerwaffen in Spielen zu sprechen und bringt abschließend das Beispiel eines Autors der „Call of Duty“-Reihe, der auch in einem Think-Tank mitarbeitet, der Beratung zu „unbekannten Konflikten der Zukunft“ (S. 58) anbietet.

Arbeitsbedingungen

Das bisher Gesagte finden wir so ähnlich bereits bei Dyer-Whiteford und de Peuter. Nun aber folgen die vielleicht spannendsten Einblicke des Buches in die Arbeitswelt von Spieleentwickler*innen im Vereinigten Königreich und den USA. So berichtet Woodcock von der gängigen Praxis, alle Mitarbeiter*innen mittels Vertraulichkeitsvereinbarungen zu knebeln – „diese Sicherheitsstufe ist normalerweise der Arbeit für eine Spionagebehörde vorbehalten“ (S. 65), die nicht nur zum psychologischen Stress für Mitarbeiter*innen beisteuern, sondern auch jede Form von Organisation der Arbeiter*innen erschweren. In Analogie zu Marx‘ Rückgriffen auf die Berichte von „Factory Inspectors“ arbeitet sich der Autor durch alle ihm zur Verfügung stehenden Statistiken und Erfahrungsberichte und kommt zu folgenden ersten Ergebnissen:

„Erstens kann der Arbeitsprozess komplex und stark verflochten sein, ohne dass es unbedingt klar definierte Stellenbeschreibungen und Funktionen gibt. Dies kann eine klare Abgrenzung zwischen Management und Arbeitnehmern erschweren, insbesondere wenn sich die Einzelnen nicht als Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft gegenüberstehen. Zweitens gibt es bei dieser kreativen Arbeit möglicherweise keine stabilen Formen von Arbeit mit klaren Grenzen, was bedeutet, dass die traditionellen Vorstellungen der Lohn-Arbeits-Vereinbarung möglicherweise nicht wirksam sind. Drittens ist der Arbeitsplatz selbst möglicherweise weniger definiert, da es keine strengen Arbeitszeiten und Unterscheidungen zwischen Spiel und Arbeit gibt“ (S. 77)

Hier begegnen wir einer der Kernaussagen des Buches. Da die gesamte Industrie in einem Milieu entstand, das Lohnarbeit ablehnte, entwickelten sich ironischerweise aus dieser Abwehrhaltung heraus extrem ausbeuterische Arbeitsverhältnisse: Crunch Time, das heißt, bis zu 40 unbezahlte Überstunden pro Woche, die gang und gäbe sind und eine extrem uniforme, das heißt, weiße männliche Arbeiterschaft. Daran anschließend berichtet Woodcock von aktuellen Versuchen zur Gründung einer internationalen Gewerkschaft – Game Workers Unite (GWU). Die Initialzündung dazu war neben einem Streik in Frankreich eine Podiumsdiskussion bei der Game Developpers Conference 2018 und hier vor allem auch die Einschüchterungstaktiken der International Game Developer Association, welche der Idee jeglicher Gewerkschaftsgründung gegenüber extrem feindlich eingestellt waren.

Spielkulturen

In einem zweiten Teil widmet sich der Autor einer kulturwissenschaftlichen Analyse Digitaler Spiele und untersucht dazu First Person Shooter, Rollenspiele, politische Spiele und Onlinespiele. Die Idee hier entgegen einer bisherigen Tradition auch Kultur abseits des materiellen Lebens nach marxistischen Kriterien zu analysieren ist spannend, bleibt aber großteils sehr oberflächlich. So sind zwar erste Gedanken zu einem populärkulturellen „postmemory“ (S. 118) sowie die Betrachtungen zur Mitarbeit des verurteilten ehemaligen Militärs Oliver North an der „Call of Duty: Black Ops“-Reihe sehr spannend, der Autor zieht aber aus den vereinzelten Betrachtungen keine synthetischen Schlüsse. Ähnlich verhält es sich mit den Kapiteln zu Rollenspielen und politischen Spielen. Es handelt sich in den drei Fällen mehr um erste Betrachtungen, die noch einer Analyse oder gar Interpretation entbehren. Etwas spannender ist das kurze Kapitel zu „Online Games“, in welchem Woodcock einige interessante Beobachtungen zu antifeministischen und misogynen Spielkulturen trifft.

Die Schlussbetrachtungen sind kurz und überzeugen. Woodcock kommt ein letztes Mal darauf zu sprechen, wie aus einer „frivolity“ – dem Spiel – eine ungehemmte kapitalistische Ausbeutungsindustrie werden konnte. Er zitiert Ian Williams, dem zufolge „Die Ausbeutung in der Videospielindustrie einen Hinweis darauf gibt, wie wir alle in den kommenden Jahren arbeiten werden.“ (S. 160) Sowohl die Spielentwicklung als auch die Spiele selbst entstanden großteils abseits der dominanten (Arbeits-)Kultur. Aus einem anfänglich rebellischen Impuls – aus einer Gegenbewegung – konnte sich aber, so ungehemmt von allen sozialen Sicherheitsnetzen, zum einen toxische Arbeistverhältnis, zum anderen aber auch eine teilweise toxische Spielekultur entwickeln.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Woodcock bewusst marxistischer Zugang zu Videospielen mehr essayistische Beobachtung ist als wissenschaftliche Analyse. Vieles von dem, was er schreibt, findet man bereits bei anderen Autor*innen, allerdings ergänzt der Autor bestehende Erkenntnisse um seine persönliche Erfahrungen, was anlässlich der Arbeitsbedingungen innerhalb der Industrie insbesondere aber anlässlich der ersten Versuche, eine Gewerkschaft zu gründen, hochgradig relevant ist.

** Diese Rezension erschien zuerst auf dem Blog Spiel-Kultur-Wissenschaft und am 21. Januar 2021 auf Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung.

Übersetzung der englischen Originalzitate durch die kritisch-lesen.de-Redaktion.

Jamie Woodcock 2019:
Marx at the Arcade. Consoles, Controllers, and Class Struggle.
Haymarket Books, Chicago.
ISBN: 9781608468669.
208 Seiten. 16,50 Euro.
Zitathinweis: Eugen Pfister: Karl am Controller. Erschienen in: Critical Gaming. 72/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/iN9bY. Abgerufen am: 21. 12. 2024 14:20.

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Jamie Woodcock 2019:
Marx at the Arcade. Consoles, Controllers, and Class Struggle.
Haymarket Books, Chicago.
ISBN: 9781608468669.
208 Seiten. 16,50 Euro.