Mal eben kurz die Welt scouten
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Bei „Age of Empires 2“ high zu ranken, ist, als kämpfe man als sich durch die Level eines Wiener Eliteinternats.
Till ist ein aufstrebender E-Sportler, der das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2 durch Zufall entdeckt und darin immer besser wird. Tills Eltern hingegen,
„sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwald über sie hinwegrollen.“ (S. 42)
Verständnis füreinander wächst mit einem Handyspiel: Tills Mutter verbringt die letzten Minuten vor dem Schlafengehen anstatt mit Weltliteratur aus dem Stapel neben dem Bett mit Diamantenschieben. Sie wird in ihren Augen selbst zur Spielerin: „weil Tills Mutter nach ihrer Arbeit eine halbe Stunde auf der Couch gesessen und Candy gecrusht hat, fühlt es sich für sie an wie ein Schritt in Richtung ihres Sohnes.“ (S. 84). Eine Offenheit, die darin mündet, dass Till ein paar Tage später versucht, ihr die Spiellogiken von AOE 2 zu erklären, dem Spiel, in dem er zwischenzeitlich als jüngster aufstrebender Top-Player gilt. Die Darstellung des Versuchs, Tills Welt sprachlich in den Vorstellungsraum der völlig überforderten Mutter zu übersetzen, gehört zu den großartigsten Passagen des Buchs und ist nicht nur für andere Spieler:innen nur allzu gut nachvollziehbar.
„Mit jeder Sache, die Till erwähnt, muss er fünf weitere erklären, mit jeder Regel fünf Ausnahmen. Während er das Gefühl hat alles viel zu sehr zu vereinfachen, (…) fühlt (seine Mutter) sich, als wäre sie wieder ein Kind, das im Traum eine Schularbeit wiederholen muss und der Stoff ist ganz weit weg.“ (S. 122)
Die erzählende Stimme vereint die Perspektiven: Wie wäre es, sinniert sie, wenn die Mutter verstünde, dass Till spielt, weil es ihm allabendlich eine Rückzugsmöglichkeit schafft, „das Leben zu vergessen und zu ertragen“ – „Immersion“, ähnlich der, die Kunst für sie „nur in den besten Momenten“(S. 50) hervorruft.
Wiener Melange
Till Konkorda ist der Protagonist in Tonio Schachingers preisgekröntem Werk „Echtzeitalter“. Wir begleiten den Heranwachsenden über mehrere Jahre seiner Schulzeit. Ein gelungener Schachzug des Autors ist es, Online-Spielewelten und (gutbürgerlich-biedere) Hochkultur immer wieder miteinander zu verknüpfen, ohne jeweils die eine Seite gegenüber der anderen auszuspielen. Ihm gelingt damit auf scharfsinnige, vielfach entlarvende Weise, das Aufwachsen des Jugendlichen zwischen Schulalltag und Computerspielkosmos, zwischen Traurigkeit ob des Verlust des Vaters, Pragmatismus im Umgang mit den Anforderungen von Lehrer:innen und dem Erwachen von Freundschafts- und Liebesgefühlen zu beschreiben.
Till ist etwa zehn Jahre alt, als seine Eltern ihn auf eine elitäre Schule für Kinder reicher Eltern und „Aristos“ in Wien, schicken - „das Marianum (ist) wie Österreich, akademisch mittelmäßig, aber trotzdem eingebildet.“ (S. 177) Die Beschreibung des Schulalltags entlarvt die Fassade der Schule schnell. „Während die Schule seit Jahren darauf hinarbeitet, ihrem Elitismus ein möglichst menschliches Antlitz zu verpassen“ heißt es an einer Stelle, „gibt es einen Menschen, der sich allen Anforderungen der modernen Welt, allen Kompetenzorientierungen gegenüber verhält wie ein gallisches Dorf“: der Dolinar, Klassenvorstand der Klasse, in in die es Till als „Bewohner einer Exklave von der Wirklichkeit“ (S. 12) verschlägt. Der Dolinar verbreitet sadistisch Angst und Schrecken und verhängt drakonische Strafen, um seinen Schüler:innen die von ihm als relevant auserkorenen Lehrinhalte einzutrichtern. Das Till Computerspiele spielt und insbesondere, dass er darin auch Anerkennung eines internationalen Gaming-Publikums erhält, ist für ihn deshalb ein besonderer Dorn im Auge.
Erwachsenwerden IRL
Till bevorzugt es, im Hintergrund zu bleiben. Er will jemand sein,„der einfach zur Schule geht und irgendwann damit fertig ist“. Die „Kunst des Nichtauffallens besteht darin, sich nicht an die eigenen Individualität zu klammern und alles, was man mag und woran man glaubt, es sei einem wichtig, als austauschbar zu begreifen“ (S. 25), beschreibt die Erzählstimme seine Haltung zu Beginn des Romans. Doch immer wieder gibt es im drögen Schulalltag auch Momente der Gemeinschaft; etwa, als die zu Extraarbeiten verdonnerten Schüler:innen mit einem großen Knall ihre Arbeiten auf den Boden donnern und in „aufgemascherltes, in tiefster Verzweiflung wurzelndes Gelächter, in tropische, olympische Hysterie“ ausbrechen:
„Hätten sie Gramsci gelesen, dann wüssten sie auch, dass der kollektive Moment zwischen ihnen einen revolutionären Funken trug. Sie wüssten, dass es ihre vollkommene Hoffnungslosigkeit war, die sie kurz davon befreite, auf Zugeständnisse durch ihren Unterdrücker zu hoffen; das sie nie freier waren als in diesen Sekunden. Aber Till und seine Klassenkollegen lesen nicht Gramsci, arbeiten nicht am Widerstand, sondern, wie alle Menschen, die sie kennen, nur daran, jeder für sich möglichst unbeschadet durchzukommen.“ (S. 136)
Die Darstellung des Marianums insgesamt zeigt, wie Bildung als Instrument der sozialen Reproduktion dient. Lehrer:innen wie Dolinar, die ihren Unterricht mit Härte und elitären Idealen führen, tragen zur Aufrechterhaltung dieser sozialen Hierarchie bei. Sie bereiten die Schüler:innen darauf vor, ihre privilegierten Positionen in der Gesellschaft zu übernehmen und weiterzuführen: „ein typischer Absolvent dieser Anstalt ist einer, der als Arzt, Anwalt oder Unternehmer den vorhandenen Besitz der Familie weiter vergrößert“ (S. 10).
Hieraus erwächst auch Schachingers Sozialkritik, der Blick auf Privilegien der Oberschicht, auf Rassismus, Diversität und Geschlechterfragen. Als eine Freundin von Till mit einem kritischen Text in einem Literaturwettbewerb erfolgreich ist, schlägt die Empörung in der Schule und in der mit ihr verbandelten Wiener Elite hohe Wellen: „Palffys Opa, aktives Mitglied bei den Altmarianisten“ (S. 293), findet es „(u)mso frecher, (…), wenn ausgerechnet dem Marianum Rassismus vorgeworfen wird, das, schon lange bevor es andere Schulen aus political correctness zu imitieren begannen, den Grundsatz verfolgt hatte, Vielfalt als Chance und nicht als Bürde zu begreifen“. Schließlich sei es am Marianum „egal, ob jemand Tscheche, Ungar, Spanier, Ägypter, Jugoslawe oder Türke ist, solange er sich das Schulgeld leisten kann.“ (S. 295)
Der Autor lässt uns daran teilhaben, wie Till in diese Welt der Erwachsenen hineinwächst – und dabei von unterschiedlichen Seiten Unterstützung erhält. Kultur- und Ideologiekritik werden von Schachinger dabei wie Cheats in einem Computerspiel in den Schreibfluss eingebaut. Ihm gelingt es, Tills innere Konflikte und seine Suche nach Identität und Anerkennung einfühlsam und humorvoll darzustellen. Er verwendet eine leichtfüßige, prägnante Sprache, die sich an eine Generation von Gamer:innen richtet und dennoch Raum für nachdenkliche und poetische Momente lässt.
Echtzeitalter.
Rowohlt Buchverlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-498-00317-3.
368 Seiten. 24,00 Euro.