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Power to the Players?

Buchautor_innen
Thomas Spies / Şeyda Kurt / Holger Pötzsch (Hg.)
Buchtitel
Spiel*Kritik
Buchuntertitel
Kritische Perspektiven auf Videospiele im Kapitalismus

Der Sammelband stellt die herrschenden Verhältnisse im Gaming infrage, ohne ein Patentrezept für die kapitalismuskritische Analyse zu liefern.

Videospiele sind längst kein Nischenphänomen mehr. Als Kulturprodukt haben sie Musik und Film in Beliebtheit und vor allem Absatzzahlen überholt. Genauso radikal wie sich der ökonomische Erfolg der Spiele durchgesetzt hat, hat sich auch die gesellschaftliche Rezeption gewandelt vom „Killerspiel“ hin zur „Gamification“. Von der Industrie über die Politik bis zur Pädagogik hört man nun vielmehr Loblieder auf die neue Wundertechnik, die zu erschließen man sich zur Aufgabe gemacht hat. Was dabei ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um dieselbe Debatte, nur unter umgekehrten Vorzeichen handelt. Ganz an der Wirkung interessiert wird gefragt, wozu ist die Sache nützlich? Von vornherein ausgeblendet sind dabei alle inhaltlichen Dimensionen, die den Gegenstand selbst betreffen. Unkritisch ist auch diese Betrachtungsweise nicht, sie wird jedoch gänzlich vom eigenen ökonomischen beziehungsweise politischen Verwertungsinteresse umgetrieben. In der Konsequenz entstehen Leerstellen und Konflikte werden nivelliert, eben dort, wo sich der kritische Blick ganz den herrschenden Interessen unterstellt.

Kritik als Begriff und Methode

Es muss also gefragt werden, was genau heißt in diesem Sinne Kritik? Genau hier setzt nun der Sammelband an. Um es gleich vorweg zu sagen, wer hier eine Art schlüsselfertige Anleitung zur (kapitalismus-)kritischen Auseinandersetzung mit Videospielen sucht, wird enttäuscht. Dies ist auch erklärtermaßen nicht das Ziel der Autor*innen.

„Um eine politisch relevante kritische Forschung betreiben zu können, besteht in unseren Augen zunächst die Notwendigkeit, möglichst vielfältige Stimmen, Kenntnisse und Perspektiven mit einzubeziehen“ (S. 14).

So wird nicht etwa ein feststehender Kritikbegriff eingeführt, sondern eine Vielzahl von Theorien, von Hegel über Marx zur Kritischen Theorie bis hin zum Postkolonialismus. Das gemeinsame Moment aller vorgestellten Ansätze ist ihre dezidiert konfrontative Haltung gegenüber herrschenden Ordnungen und Machtverhältnissen. Der Sammelband wirft sein Netz weit aus, um die verschiedenen Aspekte von Videospielen einzufangen: Erinnern, Arbeiten, Ermächtigen und Agi(ti)eren – so die Titel der vier Buchabschnitte. Entsprechend vielfältig sind auch die Zugänge. Nicht alle im Sammelband vertretenen Texte sind wissenschaftlicher Natur. Auch künstlerische Ansätze und essayistische Reflexionen sind vertreten und tragen zum offenen Konzept des Sammelbands bei. Trotzdem wird, wer sich mit deutschsprachigen Publikationen zur Videospielforschung auseinandersetzt, um viele im Band vertretene Namen nicht herumgekommen sein. Gerade bei diesen Beiträgen handelt es sich allerdings häufig um bereits bekannte Forschungsergebnisse, welche für den Sammelband aufbereitet wurden. Insbesondere die im Forschungsbereich weniger bekannten Stimmen und transdisziplinären Ansätze bereichern somit den Band um neue Methoden und Erkenntnisse.

So untersucht Daria Gordeeva in ihrem Beitrag das historische Narrativ des „Call of Duty“-Serienablegers „Black Ops: Cold War“ (2020). Anhand der zuvor eingegrenzten Untersuchungsfelder Spielinhalt, Produktionszusammenhang, Rezeptionszusammenhang und Beitrag des Spiels zum Erinnerungsdiskurs gelangt sie zu folgendem Urteil:

„Black Ops: Cold War trägt schließlich nicht zum tieferen Verständnis von Ursachen der Ost-West-Konfrontation, der Rolle der CIA und der Vereinigten Staaten sowie der Besonderheiten der politischen Lage in den frühen 1980er Jahren bei. Stattdessen schreibt Cold War die US-amerikanische Meistererzählung fort und setzt auf ein Freund-Feind-Schema“ (S. 82).

Das Novum der Reihe, nämlich innerhalb der Kampagne Entscheidungen für oder gegen die entsprechenden Konfliktparteien zu treffen und so zumindest an bestimmten Punkten die Geschichte zu beeinflussen, wird damit als Farce entlarvt. Die Botschaft des Spiels ist klar, echte politische Alternativen gibt es historisch nicht. Indem den Spieler*innen die vermeintliche Freiheit über Entscheidungen gegeben wird, sollen sie diesen Gedanken ganz selbstbewusst anwenden, denn die finale Parteinahme für die Sowjetunion führt in den Atomkrieg. Neben überzeugenden Ergebnissen liefert Daria Gordeeva auch einen anschaulichen Verfahrensweg, der problemlos auch auf andere Titel anwendbar ist.

Einen anderen Blick auf Macht und Gewalt in Videospielen werfen Nina Kiel und Fabienne Freymadl mit ihrem Beitrag „You’re so handsome I might just give you a discount“ zur Darstellung von Sexarbeit in Videospielen. Wo Gewaltdarstellungen in Videospielen heute so normalisiert sind, dass sogar die einst so zensurfreudigen deutschen Behörden selbst bei brutalsten Gewaltdarstellungen nur noch minimal eingreifen (wie mit der Unmöglichkeit am Boden liegende Zombieleichen in „Dead Island 2“ (2023) weiter zu verstümmeln), ist die Darstellung von Sexualität deutlich tabuisierter. Die Autor*innen ziehen zur Analyse 31 Spiele aus den Jahren 1982 bis 2020 heran. Anhand der ausgewählten Titel, darunter zum Beispiel auch Spiele wie „GTA V“ (2013) aber auch die Point-and-Click-Adventure-Reihe „Leisure Suite Larry“, arbeiten sie gemeinsame Aspekte in der Darstellung von Sexarbeit heraus:

„Sexarbeitende sind hier Dienstleister:innen, die auf ihre Tätigkeit reduziert, selten außerhalb dieser oder als Individuen dargestellt werden.“ (S. 155)

Die Figuren werden so auf Funktionen reduziert und die Funktionen auf Klischees. Damit stehen diese Darstellungen auffällig quer zu dem, was Videospiele als narrative Medien leisten können, sind darin aber, auch dies ist ein Ergebnis der Untersuchung, in erster Linie Spiegel des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Thema Sexarbeit. Auch hierin liegt eine Qualität des Sammelbands, vermeintlich randständigen Themen eine Plattform zu geben und sie an den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zurück zu binden.

Theorie des Spiels versus Praxis der Forschung?

Besonders hervorzuheben sind die Entstehungsbedingungen des Sammelbands. Einerseits konnten den Autor*innen mit Hilfe von Crowdfunding tatsächlich Geld für ihre Beiträge ausgezahlt werden. In der gegenwärtigen Welt wissenschaftlicher Publikationen ist dies eine Tatsche, die man nicht genug loben kann. Anderseits gewährt die durch den transcript Verlag ermöglichte Förderung die Publikation im Open Access. Hier wurden theoretische Überlegungen und Praxis sinnvoll und vorbildlich miteinander verbunden. Dies ist ein Beitrag dazu, Wissen auch in Zukunft nicht nur unabhängig zu produzieren, sondern dieses Wissen auch für möglichst große Kreise zugänglich machen zu können.

Jener Umstand versetzt auch diese Rezension in die glückliche Lage, keine Kaufentscheidung moderieren zu müssen, sondern wirklich nur das persönliche Interesse beraten zu können. Demnach sei allen, die einen Einstieg in die kritische Beschäftigung mit digitalen Spielen oder vielleicht auch einen Zugang zum Thema für ihren Forschungsbereich suchen, dieser Sammelband wärmstens empfohlen. Wer bereits länger im Bereich der Videospielforschung unterwegs ist, wird hier unter Umständen nicht glücklich. Dazu bleiben viele Beiträge in ihren Herleitungen und Ergebnissen notgedrungen zu sehr an der Oberfläche. In dieser Hinsicht bieten beispielsweise Werke wie der im selben Verlag erschiene Sammelband „Politiken des (digitalen) Spiels. Transdisziplinäre Perspektiven“ (2023), herausgegeben von Arno Görgen und Tobias Unterhuber, eine deutlich tiefere und komplexere Beschäftigung mit politischen Machtstrukturen in Videospielen. Dabei soll die Leistung des vorliegenden Bandes nicht kleingeredet werden. Geliefert wird hier ein Überblick in die Pluralität der Forschungsfelder und Möglichkeiten der kritischen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen, nicht mehr, aber auch keinesfalls weniger. Es ist eine Einladung, von ihr aus kritisch weiter und selber zu denken.

Genau hier liegt auch die Schwierigkeit. Es wird in Zukunft das Problem sein, plurale akademische Kritik, welche auf die Widersprüche der Dinge zielt, von der politökonomisch affirmativen Kritik zu scheiden. Als Fazit lässt sich sagen, im Kapitalismus gehen die Dinge nicht in dessen Verwertungslogik auf. Es entstehen Widerstände, Spannungen und Antinomien, die es aufzuzeigen und zu erklären gilt. Hierauf zielt der vorliegende Sammelband und schafft einen Überblick über die Möglichkeiten und Wege, diese Widersprüche greifbar zu machen und zu artikulieren. Ein solides Fundament, auf das hoffentlich viele aufbauen können.

Thomas Spies / Şeyda Kurt / Holger Pötzsch (Hg.) 2024:
Spiel*Kritik. Kritische Perspektiven auf Videospiele im Kapitalismus.
transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-6797-4.
332 Seiten. 40,00 Euro.
Zitathinweis: Karl Sommer: Power to the Players? Erschienen in: Critical Gaming. 72/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/jRMZb. Abgerufen am: 11. 10. 2024 14:24.

Zum Buch
Thomas Spies / Şeyda Kurt / Holger Pötzsch (Hg.) 2024:
Spiel*Kritik. Kritische Perspektiven auf Videospiele im Kapitalismus.
transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-6797-4.
332 Seiten. 40,00 Euro.