Kolonialismus zum Selberspielen
- Buchautor_innen
- Ubisoft Mainz
- Buchtitel
- Anno 1800
Dieses Aufbauspiel ist ein Verkaufsschlager, könnte jedoch ideologisch direkt aus dem 19. Jahrhundert stammen.
„Anno 1800“ ist der neueste und gleichzeitig erfolgreichste Teil einer seit 1998 bekannten deutschen Computerspieleserie. Mehr als 3,5 Millionen Spieler*innen und zahlreiche Auszeichnungen machen das deutlich. Auch fünf Jahre nach Erscheinen bleibt das Spiel im Gespräch, erhält Updates und wurde letztes Jahr sogar für die aktuelle Konsolengeneration veröffentlicht.
Gleichzeitig wird „Anno 1800“, das die Spieler*innen als Staatsoberhäupter und Stadtplaner*innen des 19. Jahrhunderts handeln lässt, für seine Darstellung dieser historischen Epoche kritisiert. So bleibt beispielsweise das Thema Sklaverei unerwähnt, da diese laut Aussage des Chefentwicklers Dirk Riegert in jener Zeit schon keine Rolle mehr spielte. Es verwundert also kaum, dass „Anno 1800“ bei genauer Betrachtung keinen Beitrag zur Aufarbeitung europäischer Kolonialgeschichte leistet.
Fröhliche Siedelei
Dem Titel entsprechend werden die Spieler*innen in die Zeit des 19. Jahrhunderts versetzt. Hier dürfen sie per Mausklick Wohnhäuser, Produktionsstätten und andere Gebäude in eine unbesiedelte Inselwelt setzen. Ziel ist es, die eigene Bevölkerung zu vergrößern, damit entsprechend Arbeitskraft und Steuergelder bereitstehen, um wieder neue Produktionsstätten zu bauen, die die Bevölkerung zufrieden stellen – erst dann kann diese die nächste Zivilisationsstufe erklimmen, sodass neue, größere und mächtigere Gebäude freigeschaltet werden. Dieser Kreislauf benötigt für sein Funktionieren immer mehr Bodenfläche, sodass die Spieler*innen früher oder später dazu gezwungen sind, neue Inseln zu besiedeln. Dabei treffen sie auf bis zu drei weitere Mitspieler*innen, die um die gleichen Bauplätze konkurrieren.
Die Spielregeln werden dabei von einer audiovisuellen Inszenierung untermalt, die heiter daherkommt. Beschwingende Musikstücke und fröhliche Kommentare der Bevölkerung begleiten die Spieler*innen, während sie detaillierte Referenzen des 19. Jahrhunderts in Form von Kirchen, Fabriken, Wohnhäusern, Märkten, Farmen et cetera in die Spielwelt platzieren. Der audiovisuelle Frohsinn steht jedoch im Widerspruch zur Rhetorik, die das Spiel produziert.
Zwangsläufige Eroberung
Die Spielregeln wiederholen einen geopolitischen Diskurs der 1920er Jahre, der den Staat als Organismus versteht. Dieser Organismus kann nur überleben und größer werden, wenn er den umgebenden Raum adäquat (aus)nutzt. Dabei trifft er, einer sozial-darwinistischen Logik folgend, zwangsläufig auf andere Organismen. Hier entscheidet nun das „Recht des Stärkeren“, welcher der konkurrierenden Organismen beziehungsweise Staaten überlebt. Dieser Diskurs prägte unter anderem die nationalsozialistische Ideologie, welche die Selbstwahrnehmung als „Volk ohne Raum” befeuerte und eine Rechtfertigung für den Angriff auf Osteuropa lieferte.
„Anno 1800“ wiederholt diese Logik: Der Staat der Spieler*innen kann nur fortschreiten, indem sich dieser ausbreitet. Und da der Raum in der Spielwelt begrenzt ist, müssen die Spieler*innen um diesen Raum konkurrieren. Die Spieler*innen müssen ihren Staat jedoch nicht nur in der „Alten Welt“ vergrößern, sondern auch darüber hinaus: „Anno 1800“ stellt ihnen dafür im Basisspiel die „Neue Welt“, durch optionale Add-ons die Arktis und das sich afrikanischer Referenzen bedienende „Enbesa“ zur Verfügung. Nur in diesen Regionen erhalten die Spieler*innen Zugriff auf bestimmte Spielmechanismen sowie die einfachste Möglichkeit, ihre Bevölkerung in der „Alten Welt“ sich weiterentwickeln zu lassen. Ein Beispiel: Für den Aufstieg der „Bevölkerungsstufe“ der Ingenieure zu Investoren braucht es die Ware Kaffee, die am effektivsten durch Kaffeeplantagen und Kaffeeröstereien in der „Neuen Welt“ akquiriert wird.
Um koloniale Parallelen zu verschleiern, bedient sich das Spiel zweier Mittel. Erstens: Wie die „Alte Welt“ sind auch alle weiteren Regionen unbesiedelt, sodass im Gegensatz zur historischen Vorlage keine Gewalt gegen Indigene für die Inbesitznahme neuer Inseln vonnöten ist. Gleichzeitig erinnert dies an die historische Idee der terra nullius, also dem Niemandsland, die eine Abwertung der bereits ansässigen indigenen Gesellschaften meint, um Raum als unbesiedelt zu konstruieren und Eroberungen zu legitimieren. Zweitens: Es wird vermieden, die weiteren Regionen als reine Kolonien für die „Alte Welt“ zu inszenieren, indem hier die Spieler*innen eine eigene und somit autark wirkende Bevölkerung ansiedeln. In der „Neuen Welt“ leben beispielsweise „Jornaleros“ und „Obreros“ statt Bauern und Arbeiter, womit man sich also Referenzen aus Südamerika bedient. Werden ihre Bedürfnisse erfüllt, zeigt sich die Bevölkerung dankbar. Damit wirkt die Fremdherrschaft zwar weniger gewaltvoll, gleichzeitig wird aber eine erfolgreiche Kultivierung inszeniert, die an das europäische Selbstbild einer zivilisatorischen Überlegenheit des 19. Jahrhunderts erinnert.
Eurozentrismus
Auch an anderen Stellen wird dieses Selbstbild in „Anno 1800“ wiederholt. Die „Alte Welt“ bietet die meisten Bevölkerungsstufen, welche wiederum die komplexesten Bedürfnisse haben. Zudem ist es im Basisspiel nur in der „Alten Welt“ möglich, anspruchsvolle und gleichzeitig mächtige Monumente zu errichten. Dazu gehört unter anderem die Weltausstellung, die sich im Aussehen an den Crystal Palace in London orientiert und historisch als Symbol des vermeintlichen zivilisatorischen Gipfels steht.
Die erzählten Geschichten im Spiel verfestigen ein eurozentrisches Weltbild, indem sie einem stabilen Norden einen instabilen Süden gegenüberstellen. In der „Neuen Welt“ unterstützen die Spieler*innen die rebellische Gruppierung um die Spielfigur Isabel Sarmento gegen die Ausbeutung von feindlichen Gruppierungen – ein Widerspruch in sich, da die Spieler*innen selbst als Ausbeutende agieren –, während sie in „Enbesa“ Kaiser Ketema helfen, die Region zu vereinen. Hierbei müssen die Spieler*innen wüsten Raum mithilfe von Kanälen begrünen, was nicht nur das koloniale Motiv der unkultivierten Wüste wiederholt, sondern auch historische Begebenheiten unreflektiert aufgreift: Denn auch die Fruchtbarmachung der Sahara war ein koloniales Projekt des 19. Jahrhunderts.
„Anno 1800“ hat mit dem neuesten optionalen Zusatzinhalt „Aufstieg der Neuen Welt“ auch dieser Region ein eigenes Monument in Form eines Fußballstadions zukommen lassen und eine dritte Bevölkerungsstufe mit komplexeren Bedürfnissen hinzugefügt. Das reicht jedoch nicht, um die Spielregeln und die narrative Ebene von ihren unreflektierten geopolitischen und kolonialen Aussagen zu befreien. „Anno 1800“ macht die Expansionspolitik zum einzigen Mittel für den Staatserhalt, inszeniert koloniale Eroberungen durch terra nullius als konfliktfrei, legitimiert Fremdherrschaft durch vermeintliche Kultivierung und setzt die „Alte Welt“ als zivilisatorisches Zentrum. Indes gibt der Erfolg des Spiels dem Chefentwickler Dirk Riegert recht, dass auch 2024 noch keine kritische Auseinandersetzung europäischer Kolonialgeschichte nötig zu sein scheint.
Anno 1800.
Ubisoft.
12,00 Euro.