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Im Tomorrow-Land

Buchautor_innen
Gabrielle Zevin
Buchtitel
Morgen, morgen und wieder morgen
Gabrielle Zevins Roman ist eine Hommage ans Gaming sowie eine packende Geschichte über Freundschaft und Kreativität.

Kein Akt sei intimer als der des Spielens, nicht einmal Sex. So spricht der erwachsene Sam Masur, Protagonist in Gabrielle Zevins Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“. Sich gemeinsam auf ein Spiel einzulassen, dafür brauche es Vertrauen und Liebe. Denn es bedeute, sich verletzlich zu machen. Ähnlich denkt auch Sadie Green, die zweite zentrale Figur des Romans. Mit elf Jahren begegnen sich Sam und Sadie Mitte der 1980er Jahre in einem Krankenhaus in Los Angeles: ein Ort der Verletzlichkeit. Dort liegt Sadies krebskranke Schwester Alice und auch Sam harrt dort nach einem Autounfall aus, bei dem er sich seinen Fuß 27 Mal gebrochen – und seine Mutter verloren hat. Im Spielezimmer der pädiatrischen Station zocken Sam und Sadie dann das erste Mal zusammen: „Super Mario“. Spielen wird im Laufe des Romans für die Charaktere ganz Unterschiedliches bedeuten. Doch in dieser Anfangsszene schafft es eine Verbindung zwischen zwei einsamen Kids und rettet Sam – vielleicht noch mehr als Sadie – vor Isolation und Traurigkeit.

Doch so schnell die Freundschaft zwischen Sam und Sadie an Fahrt aufnimmt, so abrupt endet sie – zunächst jedenfalls – und sie verlieren sich aus den Augen. Erst Jahre später treffen sie sich. Sadie studiert inzwischen als eine von wenigen Frauen am MIT, Sam in Harvard. Dieses Mal bleiben sie in Kontakt, denn Sadie steckt Sam eine Diskette zu. Darauf findet er ein von ihr designtes und programmiertes Spiel, das er in wenigen Stunden durchzockt. Danach ist ihm klar: Er will mit Sadie Welten bauen, Spiele designen, ein Star in der Branche werden. Und so kommt es auch: Die beiden werden ein kreatives Team, landen mit ihrem ersten Spiel „Ichigo“ einen Hit und gründen gemeinsam mit Sams Mitbewohner Marx das Spieleunternehmen Unfair Games.

Erfolg, Kunst und das Business

Doch was passiert, wenn kreative Prozesse und künstlerische Welten monetarisiert werden, fragt Autorin Gabrielle Zevin. Sadie hat beim Weltenbauen im Gaming keine Lust auf kreative Kompromisse und sie kann sich diese Einstellung dank ihrer bürgerlichen Herkunft auch leisten. Sams koreanischen Großeltern gehört eine Pizzeria; um die Finanzierung seines Studiums muss er sich allein kümmern: „Es muss gesagt werden, dass Sam und Sadie unterschiedliche Vorstellungen von Größe hatten. Um es zu vereinfachen: Für Sam bedeutete groß dasselbe wie beliebt. Für Sadie war es Kunst.“ (S. 106) Zevin veranschaulicht uns die Produktionsbedingungen im Gaming zwischen kreativer Freiheit und Vermarktungsregeln: Eine Spielfigur namens Ichigo, die sich nicht klar einem Geschlecht zuordnen lässt, lässt sich nicht gut vermarkten. Eine Frau wie Sadie, die ein Game fast im Alleingang programmiert hat, passt nicht ins Rollenbild der Industrie. Also wird Sam das Gesicht des gemeinsamen Unternehmens, während Sadie im Hintergrund bleibt. Und so bringt der Ruhm noch etwas mit sich: Rivalität. Kann es gut gehen, wenn Freund*innen, die gemeinsam Spiele gestalten auch gemeinsam Geschäfte machen? Wem gehört eine kreative Idee, die im Kollektiv entstanden ist?

Von der echten Welt in die Spielewelt

Mit Spannung verfolgt man auch als Nicht-Gamerin diesen Jahrzehnte umspannenden Gaming-Roman, der vom Programmieren erzählt, bis die Äderchen im Auge platzen, von der Suche nach guten Geschichten und der Frage, wie sie sich in einem Computerspiel erleben lassen. Er handelt außerdem von drei Figuren, die Gabrielle Zevin Verluste, Traumata, Fehlentscheidungen und körperliche Verletzungen erfahren lässt. Denn das wirklich unfaire Spiel ist das Leben selbst. Dies müssen Sam, Sadie und Marx schon früh lernen, jede*r auf ihre Weise. Und diese Realität sickert auch in die Spielewelt, denn diese nimmt Anleihe an der echten Welt. Beispielsweise wenn Sadie sich über den Sexismus ärgert, den viele Spieleentwickler in ihren Kosmos einbauen. Man muss sich bei fast jedem Spiel in eine männliche Sichtweise hineinversetzen und halbnackten, weiblichen Nebenfiguren beim Trainieren zuzusehen. Sadie und Sam sehen sich Jahre später mit der Frage konfrontiert, welcher kulturellen Codes sie sich beim Programmieren ihrer Spiele bedient haben. Beide haben keinen japanischen Background, doch in „Ichigo“ finden sich zahlreiche Referenzen auf die japanische Kultur. Ist dies schon kulturelle Aneignung? Auch das wird im Roman diskutiert: „Eine Welt“, so Sam,

„in der die Leute blind und taub für andere Kulturen und Erfahrungen sind, nur für die eigenen nicht. Ich würde diese Welt hassen, du nicht auch? Ich habe Angst vor dieser Welt und als Mensch aus zwei Kulturen habe ich in so einer Welt buchstäblich keinen Platz.“ (S. 119)

Das Spiel als Möglichkeit

Zevin selbst bezeichnet sich im Nachwort als Gamerin, seit sie denken kann. Vielleicht bemüht sie sich auch deshalb, immer wieder zu zeigen, welche Möglichkeitsfenster Gaming öffnen kann. Zum Beispiel die Chance, dem eigenen Leben, so schwer es in diesem Moment auch sein mag, für einige Zeit zu entfliehen und Trost im Spiel zu finden. Für Sam, dessen Fußverletzung ihn im Alltag regelmäßig behindert und mit starken Schmerzen kämpfen lässt, bedeutet Spielen, einen versehrten Körper zu verlassen und in einen zu schlüpfen, der perfekt funktioniert: „Er wollte millionenfach sterben, wie Ichigo, und am nächsten Morgen frisch und gesund wieder aufwachen, egal welchen Schaden sein Körper im Laufe des Tages genommen hatte.“ (S. 172)

So wundert es nicht, dass Gaming bei Zevin auch als Versuch gilt, in selbst gebauten Räumen einen utopischen gesellschaftlichen Gegenentwurf zu schaffen. In „Mapleword“, einem weiteren im Roman entwickelten Spiel, können gleichgeschlechtliche Paare heiraten, Waffenkauf wird genauso verboten wie Ölförderung auf hoher See. Und Sadies Spiel „Solution“, inspiriert durch ihre jüdische Großmutter, diskutiert Fragen von Moral und Schuld. Hier gilt es, in einer Fabrikhalle Maschinenteile zu sammeln und Tetris-artig zusammenzusetzen. Die damit gewonnen Punkte kann man gegen Informationen über die hergestellten Produkte eintauschen oder auf dem Punktekonto horten. Wer fleißig produziert ohne Nachzufragen, den erwartet am Ende das grausige Schrecken. Denn die Fabrik produziert für das NS-Regime: Man wird zur Mittäter*in.

So liest sich „Morgen, morgen und wieder morgen“ immer wieder als Hommage ans Gaming und die menschliche Lust am Spiel. Auf die Frage, was eigentlich ein Spiel sei, antwortet Sams Mitbewohner Marx mit einem Macbeth-Zitat: „Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow“, also morgen, morgen und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung . Und das echte Leben? Anders als in der Spielewelt gibt es darin keinen Sprung zurück zum letzten Speicherpunkt, um Geschehenes ungeschehen zu machen, diesen einen Fehler rückgängig zu machen, diesen einen Tod doch nicht zu sterben. Um in diesem stetig voranschreitenden Lauf der Dinge nicht unterzugehen, so scheint Zevins Botschaft, hilft nur eins: wahre Freundschaft.

Gabrielle Zevin 2023:
Morgen, morgen und wieder morgen. Übersetzt von: Sonia Bonné.
Eichborn-Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-8479-0129-7.
560 Seiten. 25,00 Euro.
Zitathinweis: Hanna Kopp: Im Tomorrow-Land. Erschienen in: Critical Gaming. 72/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1878. Abgerufen am: 27. 07. 2024 13:55.

Zum Buch
Gabrielle Zevin 2023:
Morgen, morgen und wieder morgen. Übersetzt von: Sonia Bonné.
Eichborn-Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-8479-0129-7.
560 Seiten. 25,00 Euro.