Das Gewicht der ersten „Liebesnacht“
- Buchautor_innen
- Annie Ernaux
- Buchtitel
- Erinnerung eines Mädchens
Schreibend nähert sich Annie Ernaux Ereignissen von vor über 60 Jahren, die von Gender, Klasse und Scham erzählen.
Sie sieht uns an. Das Mädchen sieht uns schon auf dem Einband an. Es ist ein altes Schwarz-Weiß-Foto, kleine Löcher an den Rändern weisen darauf hin, dass es früher in einem Ausweis steckte. Hintergrund und Schultern sind weich gezeichnet, das Gesicht ebenmäßig und klar. Hochgestecktes Haar. Sie ist hübsch. Der Blick ist weich, vielleicht nachdenklich, vielleicht verträumt. Annie Ernaux schreibt:
„Das Mädchen auf dem Foto bin nicht ich, aber sie ist auch keine Fiktion. Über niemanden sonst weiß ich so viel, niemanden sonst kenne ich so gut, weshalb ich zum Beispiel sagen kann, dass sie das Ausweisfoto an einem Nachmittag in den Winterferien hat machen lassen, beim Fotografen auf der Place de la Mairie, zusammen mit ihrer besten Freundin Odile, dass sie die beiden Stirnlocken den Lockenwicklern zu verdanken hat, die sie jede Nacht trägt, und der sanfte Blick von ihrer Kurzsichtigkeit kommt – für das Foto hat sie ihre dicke Brille abgesetzt.“ (S. 19)
Annie Ernaux wird dieses Jahr 80 Jahre alt. In „Erinnerung eines Mädchens“ – autobiografischer Roman und zugleich analytisches Essay – beschreibt sie die Erlebnisse jenes Mädchens auf dem Ausweisfoto, das sie einmal war, vor über 60 Jahren. Es ist ein schmaler, konzentrierter und sprachgewaltiger Band. Erste sexuelle Erfahrungen prägen als Trauma die folgenden Jahre des Mädchens und das ganze Leben der Frau Annie Ernaux. Dieses Trauma beeinflusst alles, ist aber zugleich eine Leerstelle, an die schreibend nur schwer heranzukommen ist. Ernaux beschreibt die Schwierigkeiten, erwähnt die vielen Male, die sie schon „über das Mädchen von S.“ (S. ist die Ferienkolonie, in der alles geschah) oder „Das Mädchen von 58“ zu erzählen versuchte. Sie hat Angst zu sterben, bevor sie es geschafft hat, über das Mädchen zu schreiben. Sie vermutet sogar, es sei diese Bedrohung, die es ihr letztendlich ermöglicht, damit zu beginnen.
Sozialgeschichte zwischen den Zeilen
Sie vertieft sich in Details. Einerseits, um dem Geschehenen besser gerecht zu werden – andererseits auch, um nicht gleich zum Punkt zu kommen, um dem Punkt auszuweichen. Diese Details machen zugleich eine Stärke des Buches aus. Gleich zu Beginn, noch lange bevor es um die prägenden Ereignisse in der Ferienkolonie geht, sorgen die wohlplatzierten Details für eine kunstvolle Mise-en-Scène von Frankreich 1958: Charles de Gaulle kehrt aus dem Exil zurück und tausende Rekruten werden nach Algerien geschickt. Der Kolonialkrieg wird mit einer Abfolge von scheinbar nebensächlichen Details umrissen und bekommt gerade dadurch eine größere Eindringlichkeit, als wenn das Grauen beim Namen genannt würde. Ein Prinzip, das sich durch den gesamten Text zieht. Die Details sind, wie nebensächlich sie auch wirken, stets klassenbewusst: In der Erinnerung daran, wo ein bestimmtes Kleidungsstück, das an einem bestimmten Tag getragen wurde, gekauft wurde oder in einzelnen erinnerten Sätzen der Eltern, ist stets Sozialgeschichte miterzählt. Wir erfahren von der Stellung der Eltern, aufgestiegen von Arbeiter*innen zu Ladenbesitzer*innen, von ihrer begrenzten Sicht auf die Welt und der Distanz, die zur lesenden Tochter entsteht, die einmal Lehrerin, später Schriftstellerin sein wird. Kein Satz ist explizit politisch. Aber jedes Detail ist politisch – eine Art zu erzählen, die auch Annie Ernaux’ andere Bücher wie „Das bessere Leben“, aus dem Didier Eribon gerne zitiert, oder „Die Jahre“ ausmacht.
Schmerzliche Distanz
Wenn Annie Ernaux über „Das Mädchen von 58“ schreibt, schreibt sie nie „ich“. Sie bleibt in der dritten Person und reflektiert das auch. Das erzeugt Distanz und Nähe zugleich. Distanz der Autorin zu ihrem früheren Ich, die ihr eine genauere Analyse ermöglicht. Und Nähe zwischen der Leserin und dem Mädchen. Trotz der über 60 Jahre Abstand ist es leicht, sich in dem Mädchen wiederzuerkennen: Die Aufregung vor dem ersten Sommer weg von zuhause, die Mischung aus Vorfreude und Angst, mit der man der Möglichkeit, Sex zu haben, entgegenblickt. Das Verhältnis zur eigenen Mutter, deren Blick man sich um jeden Preis entziehen will und deren Leid am Abschied einen trotzdem schmerzt, doppelt schmerzt wegen der unüberwindbaren Distanz, die durch die Überschreitung der Klassengrenzen entsteht.
Annie Ernaux stützt sich auf ihre Erinnerung, aber auch auf Fotos, die sie ausführlich beschreibt und auf Briefe, die sie an Freundinnen schrieb und die sie zur Recherche von den Adressatinnen zurückbekommen hat. Sie zitiert aus den Briefen, wir lesen direkt die Worte der 18-jähringen, in einer kleinbürgerlichen Jugendsprache der 1950er Jahre, verziert mit fein säuberlich abgeschriebenen Zitaten aus französischer Literatur, die der bürgerlichen Freundin die Klugheit und Zugehörigkeit des Mädchens unter Beweis stellen sollen.
„Das Mädchen von S.“ geht nach der Schule für einen Sommer als Betreuerin in eine Ferienkolonie für Kinder. Das ist im Nachkriegsfrankreich üblich. Die Kolonie in S. ist ein ehemaliges Kloster, ein herrschaftliches Gebäude auf dem Land. Die jungen Betreuer*innen formen schnell ihre eigene Gesellschaft mit Festen, Liebschaften, Hierarchien. Die meisten der jungen Mädchen haben nicht das geringste Wissen über Sex. Die Männer nutzen das aus. So trägt sich auch das Ereignis zu, das Trauma: Sex mit dem Oberbetreuer. Annie Ernaux schreibt, sie sei bis heute unfähig, dafür das Wort – „Vergewaltigung“ – zu benutzen.
Annäherung an die eigene Scham
„Es geht ihr zu schnell, sie ist nicht bereit für diese Geschwindigkeit, diese Gier. Sie spürt nichts. Sie lässt sich von seinem Begehren unterwerfen.“ (S. 44) Er küsst sie, nimmt sie mit ins Bett, schläft mit ihr. Die Schilderung des Ereignisses ist klar und explizit, das bricht über die Leserin nach der detailreichen und ausweichenden Einleitung überraschend herein. Ob das Mädchen das möchte, was da geschieht, steht nicht zur Debatte. Sie hat keine Worte oder Gefühle dafür. Und später: „Ich weiß nicht mehr, ob ihr da schon der Gedanke kommt, dass es eine ‚Liebesnacht‘ war, ihre erste.“ (S. 47) Trotz der Brutalität des Ereignisses ist von da an alles, was sie möchte, von ihm begehrt zu werden. Das ganze Leben – erst in der Kolonie und dann in den folgenden Jahren – richtet sich danach aus. Sie ist verliebt.
„Die Hoffnung, ihn wiederzusehen, ist längst zu deinem Lebenszweck geworden, dafür machst du dich zurecht, lernst du, bestehst du deine Prüfungen. Er wird zurückkommen, und du wirst seiner würdig sein.“ (S. 10)
Die zweite Hälfte des Buchs beschreibt die Zeit danach: Die restlichen Wochen in der Kolonie sind von Scham geprägt. Andere sexuelle Begegnungen und Übergriffe finden statt und Annie Ernaux beschreibt, wie immer mit Details von erschlagender Nebensächlichkeit, was es bedeutet, dass Frauen gelernt haben, eine sexuell Freizügige oder Vergewaltigte unter ihnen abzuwerten und auszuschließen. Der erträumte Sommer wird zum Albtraum. Alles was folgt, ist von dem Trauma, nun als Begehren verkleidet, bestimmt. Nach dem Sommer, bei der Ausbildung zur Lehrerin vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht an den Oberbetreuer denkt, der in der gleichen Stadt lebt, und mit dem sie sich ein Leben erträumt. Regelblutungen bleiben aus, aber sie ist nicht schwanger. Die Regelblutung bleibt über Jahre aus. Das Mädchen entwickelt eine Essstörung. Das Erwachsenwerden und der Aufstieg durch Bildung sind geprägt von täglichen Selbstzweifeln und Diskriminierung wegen ihrer sozialen Herkunft. Sie liest Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ und ist fasziniert, aber: „Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden.“ (S. 119) Erste Verbesserung bringt ein Aufenthalt mit der besten Freundin in England. Die Ereignisse rücken ein wenig in die Ferne. Das Leben geht weiter. Sie beginnt zu schreiben. Man könnte all die beschriebenen Probleme und wie sie langsam bewältigt werden als die „normalen“ Probleme einer Heranwachsenden sehen. Die bedrückende Wahrheit ist, dass auch das Trauma die „normale“ Erfahrung einer Heranwachsenden ist.
Annie Ernaux‘ Bücher sind oft als „kollektive“ oder „unpersönliche“ Biografie – biographie impersonelle – bezeichnet worden. „Erinnerung eines Mädchens“ ist, wie persönlich es auch in manchen Momenten scheinen mag, genau das. Ernaux‘ Technik der Distanz zwischen der Autorin (ich) und dem Mädchen (sie, manchmal auch „du“) und der überbordende, aber nie übertriebene Einsatz von Details (Alltagsgegenstände, Gesten, Gerüche, Musik, einzelne gesprochene Sätze) lösen die Geschichte „des Mädchens von S.“ aus dem Mantel der Individualität. Die Kollektivierung der Scham ist nach ihrem Erkennen der nächste Schritt zu ihrer Abschaffung.
Erinnerung eines Mädchens. Übersetzt von: Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 9783518427927.
163 Seiten. 20,00 Euro.