Gedenkpolitik: Zwischen Mythos und Kritik Ausgabe Nr. 26, 05. Februar 2013
Gedenken ist allgegenwärtig. Und während das Erinnern an Ereignisse der Geschichte genau diese lebendig erhalten und sich durch die Analyse des Vergangenen Perspektiven für das Kommende ergeben können, wird innerhalb offizieller Gedenkpolitik häufiger Geschichte an das Bestehende angepasst als an sie erinnert und kritisch reflektiert. Alljährig wird etwa der konservative Claus Schenk Graf von Stauffenberg als Widerstandskämpfer geehrt, während der linke Georg Elser allenfalls als Fußnote Erwähnung findet. Die Deutung über die Geschichte ist ein wichtiges Element herrschender Politik. Geschichtsdeutungen und -politik sind aber auch ein Feld, dessen sich traditionell auch Nazis annehmen: Seit vielen Jahren findet in Dresden um den 13. Februar ein „Trauermarsch“ statt, mit dem Nazis der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg gedenken. Der bürgerliche Protest dagegen versteht sich zwar als antifaschistisch, unterstützt aber dennoch den lange in DDR und BRD aufgebauten Opfermythos. Diese Deutung der Geschichte ist Ausdruck kollektiver Erinnerungspolitik, die durch ein breites bürgerliches Spektrum getragen wird, während linke antifaschistische Proteste jedes Jahr starker Repression ausgesetzt sind. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Deutung der Geschichte und den Kämpfen im Hier und Jetzt, deren Zusammenhang wir in dieser Ausgabe untersuchen wollen.
Den Anfang macht Selma Haupt, die sich mit den deutschen Mythen hegemonialer Geschichtsschreibung befasst und das Buch „Zwischen Ignoranz und Inszenierung - Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation“ rezensiert, das anhand der Analyse der großen Erzählungen der Geschichte deutlich macht, wie mit dem Mythos die Vereinheitlichung dieser einhergeht und wie wichtig daher Erzählungen aus anderer Perspektive sind. Mit dem „Denkmalwahn“ der Deutschen befasst sich Yves Müller in seiner Besprechung des Buchs „Denken statt Denkmalen“ von Wolfgang Wippermann, der das Gedenken in Deutschland im Kontext eines „völkischen Nationalverständnisses“ sieht. Ulrich Peters stellt mit „Vergessen ist die Erlaubnis zur Wiederholung“ ein Beispiel dafür vor, wie die Auseinandersetzung der radikalen Linken mit Geschichte vonstattengehen kann: Die Besetzung des ehemaligen Geländes der Firma Topf&Söhne in Erfurt. Ein Medium des Gedenkens ist auch die Literatur: Als Beispiel dafür bespricht Thomas Möller die Graphic Novel „Die Kunst zu fliegen“, die die Biographie eines Spaniers im 20. Jahrhundert behandelt und damit eine ganz persönliche Form des Erinnerns schafft.
In den weiteren aktuellen Rezensionen formuliert zunächst Christian Stache mit „20 Jahre deutsche Politik mit anderen Mitteln“ eine Kritik an der Remilitarisierung deutscher Außenpolitik unter dem Label der Sicherheits- und Friedenspolitik. In „Verdacht auf Scheinehe“ skizziert Bente Gießelmann die behördlichen Konstruktionen von Scheinehen und die damit einhergehenden Verdächtigungen und repressiven Forderungen in Österreich. In „Geschlecht als Menschenrecht“ greift Martin Brandt die Arbeit des Bündnisses Stop Trans*-Pathologisierung 2012 auf und unterstreicht die Kritik an der Praxis, Menschen mit Trans*-Erfahrungen als psychisch krank zu stigmatisieren. Eine ähnliche Kritik bringt Anja Gregor in „Konstruierte Nicht-Existenz“ zum Thema Intergeschlechtlichkeit vor: Beide Rezensent_innen unterstreichen, dass mit der Pathologisierung Phänomene der zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft als Probleme in die Individuen selbst verlagert werden. Schließlich widmet sich Hans See in seiner Rezension des Buches „Aufstand in den Städten" neuen Perspektiven antikapitalistischer Kämpfe.
Und nun viel Spaß beim kritischen Lesen!