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Konstruierte Nicht-Existenz

Buchcover, schwarze Schrift auf weißem Hintergrund. Nach dem Autorinnennamen und dem Titel "Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen?" sind das 
Männlichkeits- und Weiblichkeitszeichen in blau bzw. rot abgebildet. Die Ringe der Zeichen sind miteinander verkettet, sodass ein zusammenhängendes Symbol entsteht, dass die beiden einzelnen Komponenten erhält, statt sie komplett miteinander zu kombinieren
Buchautor_innen
Eva Maria Calvi
Buchtitel
Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen?
Buchuntertitel
Intersexualität in der 'westlichen Gesellschaft'

Die Autorin zeigt auf, wie die fehlende Anerkennung von Menschenrechten für intergeschlechtliche Menschen unmittelbar mit ihrer Nicht-Existenz im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit der westlichen Gesellschaften zusammenhängt.

Eva Maria Calvi hat eine umfassende Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit veröffentlicht. Darin reflektiert sie die spannungsreiche Verbindung von Geschlechtertheorie und der Forderung von Menschenrechten für intergeschlechtliche Menschen. Calvis Arbeit kann als Grundlagenarbeit zur breiteren Sichtbarmachung von Intergeschlechtlichkeit in der Gesellschaft gelesen werden – sie selbst stellt eben jene Motivation bei der Wahl des Themas dieser Arbeit heraus. Und aus diesem Grunde eignet sich „Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen“, die Veröffentlichung ihrer Master-Arbeit, meines Erachtens insbesondere als Lektüre für jene Menschen, die erstmals mit dem Thema in Berührung kommen und einen umfassenden Überblick dazu suchen. Hierfür bietet diese Arbeit eine hervorragende Möglichkeit, die vielschichtig und breit ebenso wie sensibel und machtkritisch Intergeschlechtlichkeit als anzuerkennendes soziales Phänomen herausstellt und reflektiert geschlechtertheoretische Betrachtungen einbindet.

Systematisierung

Bereits zu Beginn positioniert Calvi ihre Ausführungen im Diskurs der Queer Theory, indem sie jene als „wichtigen Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit“ und ihr Potential zur „Dekonstruktion des in der ‚westlichen Gesellschaft‘ vorherrschenden binären Geschlechtermodells“ herausstellt (S. 12), um so den Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen zu liberalisieren. Diese Positionierung steht in logischer Folge zur These der Arbeit, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Festhalten am binären Geschlechtermodell und der Nicht-Existenz intergeschlechtlicher Menschen in der „westlichen Gesellschaft“ gibt.

Calvi legt damit den Fokus ihrer Arbeit auf theoretische Überlegungen zur Kategorie Geschlecht und deren Historizität (und damit Wandelbarkeit) in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit: An das anatomische Geschlecht „lassen sich soziale, ökonomische, politische, hierarchische oder psychische Aspekte (…) knüpfen“ (S. 5), indem von zwei und nur zwei Ausprägungen – männlich und weiblich – ausgegangen wird. Die gesellschaftliche Konstruktion einer zweigeschlechtlichen Struktur ermöglicht und verfestigt die Nicht-Existenz von Intergeschlechtlichkeit und bietet so dem medizinischen Diskurs seit Aufkommen des Zwei-Geschlechter-Modells mit der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart die Möglichkeit der Pathologisierung intergeschlechtlicher Körper. Sie zeigt auf, dass die Diagnosestellung und darauf folgende Behandlungsstrategien der Medizin weiterhin hegemoniale Praxis im Umgang mit Intergeschlechtlichkeit bleiben und diese wird – so Calvi – durch die wachsenden Erkenntnisse über die Geschlechtsentwicklung auf molekularer und genetischer Ebene zukünftig noch verstärkt werden (vgl. S. 96), statt sich im Zuge der sich abzeichnenden sozialen Transformationsprozesse des Geschlechtsdualismus aufzulösen. Das Vorhandensein von mehr als zwei möglichen Geschlechtskörperausprägungen ist eine medizinisch erkannte, nicht aber anerkannte Tatsache, Räume zur Auseinandersetzung mit Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten jenseits der Medikalisierung der Intergeschlechtlichkeit sind innerhalb des Diskurses bis heute kaum vorhanden.

Calvi betont, dass die Verhinderung uninformierter Operationen allein die Lebensqualität intergeschlechtlicher Menschen nicht garantiere. Sie erkennt die Dringlichkeit dieser Forderung an, gibt ihr jedoch nicht jene Priorität, die sie in der Bewegung selbst erhält. Calvi stellt stattdessen heraus, dass erst die Anerkennung weiterer Geschlechtsentwürfe als den zwei gültigen männlich-weiblich das größtmögliche Potential für ein „‚normales‘ Leben“ biete. Ergänzend mag an dieser Stelle angebracht werden, dass das gute Leben nicht nur, aber insbesondere von der Anerkennung der Geschlechtlichkeit eines Menschen abhängt. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht als strukturbildende wie -erhaltende ist immens; aber die Wirkung anderer Prämissen manchmal ebenso bedeutsam – beispielsweise Bildungshintergrund, „Hautfarbe“, Alter oder Klassenzugehörigkeit.

Fazit

Calvis wissenschaftlich-distanzierte Darstellung nicht nur geschlechtertheoretischer, sondern auch politischer Überlegungen und Forderungen verleiht ihrer Argumentation für die Anerkennung der Existenz intergeschlechtlicher Menschen zusätzliches Gewicht. Lediglich die Reflexion der Kategorie gender hätte expliziter geschehen können: Im Zuge einer auch selbstkritischen Betrachtung als Geschlechterforscherin wäre es wünschenswert gewesen, die Entstehung jenes Konzepts durch Experimente an intergeschlechtlichen Menschen durch John Money, Joan Hampson und John Hampson und deren dankbare Übernahme und unreflektierte Verwendung in der Frauen- und Geschlechterforschung (zunächst in den USA, später im deutschsprachigen Raum) zu problematisieren, wie Gabriele Dietze (die zum Textkorpus der Arbeit gehört) in ihrem Aufsatz „Schnittpunkte“ (2006) es fordert.

In einer abschließenden persönlichen Stellungnahme spricht Calvi sich für die Anerkennung von Intergeschlechtlichkeit als „eigenes Geschlecht“ aus. Jenes Geschlecht müsse erst „adäquat benannt werden (…), um auch gesellschaftlich betrachtet an Bedeutung und Akzeptanz zu gewinnen“ (S. 157). Damit positioniert sich Eva Maria Calvi in einem sich entwickelnden Diskurs medizinkritischer und mit den Belangen intergeschlechtlicher Menschen solidarischer Sozialwissenschaftler_innen, die die Deutungsmacht der Medizin mit wissenschaftlichen Mitteln ebenso analysieren wie stark in Zweifel ziehen.

Eva Maria Calvi 2012:
Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen?. Intersexualität in der 'westlichen Gesellschaft'.
Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden.
ISBN: 978-3-86888-042-7.
185 Seiten. 24,95 Euro.
Zitathinweis: Anja Gregor: Konstruierte Nicht-Existenz. Erschienen in: Gedenkpolitik: Zwischen Mythos und Kritik. 26/ 2013. URL: https://kritisch-lesen.de/s/RXU3b. Abgerufen am: 21. 11. 2024 13:20.

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Eva Maria Calvi 2012:
Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen?. Intersexualität in der 'westlichen Gesellschaft'.
Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden.
ISBN: 978-3-86888-042-7.
185 Seiten. 24,95 Euro.