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Prekarität und Hegemonie

Buchautor_innen
Oliver Marchart
Buchtitel
Die Prekarisierungsgesellschaft
Buchuntertitel
Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung

Der Philosoph und Soziologe Oliver Marchart schlägt eine gesellschaftstheoretische Herangehensweise an das Phänomen Prekarität vor und entwickelt daraus eine diskursanalytische Methodik, die er schließlich auf Diskurse und Medien der EuroMayDay Bewegung anwendet.

Breite mediale Aufmerksamkeit fand der Begriff der Prekarität beziehungsweise des Prekariats erstmals mit einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Herbst 2006, die Marchart zum Einstieg kritisch rezipiert. Die Studie bezeichnete circa 8% der Bevölkerung als „abgehängtes Prekariat“. Diese Gruppe sei geringqualifiziert, oftmals arbeitslos oder unsicher beschäftigt und vom politischen System entfremdet, so die Studie. Die Verwendung des Begriffs durch die Sozialdemokratie sieht Marchart als Teil einer diskurspolitischen Strategie mit dem Ziel, die fast überall in der Gesellschaft auftretenden – und nicht zuletzt durch die Hartz IV-Gesetzgebung ausgelösten – Prekarisierungsprozesse als Problem einer gesellschaftlichen Randgruppe zu maskieren.

Mit dieser Beschreibung des Prekariats als einer Art neuer Unterschicht unterscheidet sich die Studie deutlich von der Verwendung des Begriffs, wie er bis dahin in der Soziologie verwendet wurde. Die soziologische Debatte, in Frankreich verbunden mit Namen wie Pierre Bourdieu oder Robert Castel und in Deutschland etwa mit Klaus Dörre, rezipiert Marchart als nächstes. Hier beschreibt der Begriff der Prekarisierung, vor allem durch die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ausgelöste, berufliche und soziale Unsicherheit. Durch die Zunahme von Teilzeit und befristeter Arbeit oder etwa unsicherer Selbständigkeit bei gleichzeitigem Abbau von Sozialleistungen wird das Ein- und Auskommen vieler Menschen zunehmend prekär. Die soziologischen Ansätze diskutieren darüber hinaus, wie Prekarität auch bei den Lohnabhängigen in Normalarbeitsverhältnissen quasi als „Damoklesschwert“ zu Verunsicherung, Leistungsdruck und Zurückhaltung in Arbeitskämpfen führt.

Einwenden lässt sich gegen diese Analysen teilweise, dass ihnen als implizite oder explizite Folie eben das Normalarbeitsverhältnis dient. Neben der unter anderem aus Geschlechterperspektive durchaus problematischen Fixierung auf Lohnarbeit, kann das Normalarbeitsverhältnis allerdings nur für die fordistische Periode als Normalität gelten – und auch hier lediglich für männliche Arbeitnehmer mit deutschem Pass. Mit Blick auf meist von Frauen ausgeführte Reproduktionsarbeit, die Arbeitsverhältnisse von Migrant_innen und den globalen Süden lässt sich feststellen, dass Prekarität kapitalistische Normalität ist, während das „Normalarbeitsverhältnis“ eine historisch, geografisch und strukturell eng begrenzte Ausnahme darstellt.

Marchart schneidet diesen Punkt kurz an, zieht seine Kritik jedoch anders auf. Für ihn leitet sich der soziologische Ansatz, wenn auch breiter als der FES-Ansatz, immer noch zu stark aus der Ökonomie ab. Marchart möchte dagegen einen umfassenden Begriff der Prekarisierung entwickeln, der alle Teilbereiche der Gesellschaft einschließt, deswegen spricht er von der „Prekarisierungsgesellschaft“. In dieser „tritt das Phänomen der Prekarisierung gleichsam über die Ufer der Arbeitswelt und beginnt in soziale Verhältnisse einzusickern, die scheinbar wenig mit Erwerbsarbeit zu tun haben“ (S. 9). Diese These ist zunächst einmal sehr überzeugend, steht allerdings noch nicht zwingend im Widerspruch zu Dörre oder Bourdieu. Zentraler Unterschied ist allerdings: Marchart fordert nicht nur ein Verständnis von Prekarität als gesellschaftlichem Problem, sondern argumentiert auch dagegen, selbst die Ursachen des Phänomens in der ökonomischen Sphäre zu suchen.

Weites Theoriepanorama

Im folgenden Kapitel präsentiert Marchart vier Theorieströmungen, von denen er sich Hinweise für einen breiten Prekarisierungsbegriff sowie für die Analyse der Proteste gegen die Prekarisierung erhofft. Die jeweils gut eingeführten Ansätze sind die Regulationstheorie, die Foucault’sche Gouvernementalitätstheorie, der Postoperaismus sowie Boltanskis und Chiapellos Beschreibung eines „Neuen Geists des Kapitalismus“.

Die aus Frankreich stammende Regulationstheorie (siehe dazu kritisch-lesen.de #32) etwa betont die jeweilige Spezifität und Instabilität eines Akkumulationsregimes und des entsprechenden Regulationsmodus. Die Schule geht dabei von einem jeweils instabilen Zusammenspiel von Ökonomie, Ideologie und Politik aus. Aus dieser Perspektive lässt sich laut Marchart Prekarisierung als eine der Regulationsformen des postfordistischen Akkumulationsregimes verstehen oder aber in einem umfassenderen Verständnis als „ein die gesamte Lebensweise im Postfordismus imprägnierendes Phänomen“ (S. 41).

Insgesamt gelingt es Marchart sehr überzeugend, Argumente für einen weiten Prekarisierungsbegriff aus den jeweiligen Theorien zu destillieren. Als Gemeinsamkeit betonen die vier theoretischen Ansätze etwa die Kontingenz, also die nicht vorherbestimmte Natur gesellschaftlich-sozialer Entwicklung sowie (mit Ausnahme von Foucault) die zentrale Rolle von sozialen Kämpfen für die Entwicklung des Kapitalismus, insbesondere für den Übergang zum Postfordismus. Aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch ist hingegen Marcharts Kategorisierung aller vier Ansätze als post-marxistisch, wobei er als Kriterium die geteilte Ablehnung von historischen und ökonomischen Determinismen heranzieht. Die Analyse der vier Ansätze dient nicht nur der Entwicklung und Plausibilisierung eines weiten Prekarisierungsbegriffs, sondern es geht ihm auch darum, die Ansätze „auf eine integrale Theoriematrix zu übertragen“ (S. 85). Die Basis dieser Theoriematrix liefert wiederum die diskursanalytische Hegemonietheorie nach Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, die sich selbst programmatisch als post-marxistisch beschreibt. Diese bildet den wichtigsten theoretischen Bezugspunkt von Marcharts Arbeit.

Hegemonie und Diskurs

Mouffe und Laclau nehmen Antonio Gramscis Hegemonietheorie auf und wenden sie poststrukturalistisch und diskursanalytisch. Die Kategorie des Diskurses ist nun konstitutiv für Gesellschaft: „Das Soziale gilt nun als gleichumfänglich mit dem Diskursiven, Gesellschaftstheorie wird zu Diskurstheorie, politische Analyse zu Diskursanalyse (und umgekehrt)“ (S. 93). Die Gesellschaft ist dabei grundsätzlich antagonistisch strukturiert, sie ist ein Kampffeld um Hegemonie, im Sinne der hegemonialen Festlegung von Bedeutung, die jedoch nie vollständig gelingen kann, was wiederum auf die grundsätzliche Konflikthaftigkeit und Instabilität gesellschaftlicher Entwicklung verweist. So bleiben Begriffe wie Demokratie oder Gerechtigkeit immer umkämpft und solche Kämpfe um Bedeutung stellen für Laclau und Mouffe das zentrale Feld des Politischen dar. Laclau/Mouffe und auch Marchart arbeiten folglich an einem Denksystem, das sowohl eine Philosophie des Sozialen, eine Theorie der Politik wie auch zahlreiche methodische Überlegungen umfasst.

Die Theorieentwicklung erfolgt bei Marchart (und auch bei Laclau/Mouffe) vielfach über eine Abgrenzung zu „traditionellem“ und „orthodoxem“ Marxismus. Diesem wirft Marchart ökonomischen und historischen Determinismus vor und bringt dagegen das Primat sozialer Kämpfe sowie die Kontingenz und Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse in Stellung. Dabei argumentiert Marchart für die zentrale Bedeutung des Diskurses und für ein Modell integraler Politik und Ökonomie, das deren Verflechtung betont. Marcharts Betonung von gesellschaftlicher Kontingenz und Kämpfen überzeugt und auch die Kritik an der Konstruktion von Ökonomie und Politik als völlig getrennte Sphären ist richtig und notwendig. Allerdings scheint mir die richtige Adressatin hier eher die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft und weniger Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie zu sein.

Postmarxismus: Klasse oder nicht?

Dass Marchart seinen Post-Marxismus oft über eine Abgrenzung zu einem „Traditionsmarxismus“ entwickelt, ist zunächst nur ein Beleg für seine poststrukturalistische These, dass Bedeutungsgenerierung ein konstitutives Außen benötigt. Schade ist, dass der Marxismus gegen den sich Marchart durchgehend abgegrenzt, dabei ein Strohmann bleiben muss. Der klassenreduktionistische, ökonomistische und geschichtsdeterministische Marxist wird sich in der Realität sicherlich irgendwo finden lassen, jedoch wird dieses Bild weder der Komplexität und Vielschichtigkeit des Marx’schen Denkens noch den breitgefächerten marxistischen Debatten heute gerecht.

Ein für das Thema durchaus relevantes Beispiel ist der Begriff Klasse. Wie Marchart richtig feststellt, entfernen Laclau und Mouffe den „Klassenkern“ aus Gramscis Hegemonietheorie und verallgemeinern die Funktionsweise des Kampfes um Hegemonie. Auch Marchart selbst bezieht immer wieder gegen einen Klassenreduktionismus Stellung. Er argumentiert, dass Klasse als politischer Akteur „ihr ontologisches Privileg“ (S. 94) verliere und grenzt sich so gegen Positionen ab, die die Arbeiterklasse als quasi automatisch revolutionär verstehen.

Allerdings ist Klasse für Marx nicht nur eine politische, sondern zentral auch eine Strukturkategorie, die sich aus der Stellung der Menschen im Produktionsprozess ergibt. In dieser Funktion spielt der Marx’sche Terminus für Marchart keine Rolle und damit bleibt die interessante Frage ausgespart, wie sich die Kategorie der Prekarität zur marxistischen Kategorie Klasse verhält. Die bekannte These von Alex Foti, dass das Prekariat in der post-industriellen Gesellschaft ist, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war, lässt sich auf dieser Grundlage also nicht bewerten.

Prekäre Proteste

Wenn Marchart gegen Ende des Buches zu den Fallstudien kommt, kann die Auswahl der Methodik niemanden überraschen: Er vertritt einen Ansatz der Diskursanalyse, der sich an der Essex School und den Arbeiten Stuart Halls zum Thatcherismus orientiert und macht diesen für die Bewegungsforschung fruchtbar. Die erste empirische „Stichbohrung“ (S. 137) umfasst dann eine Diskursanalyse verschiedener Aufrufe zu EuroMayDay-Demonstrationen in unterschiedlichen Städten im Zeitraum 2004 bis 2008. Diese Demonstrationen verwendeten den Begriff der Prekärität um die Gemeinsamkeit verschiedenster Ausbeutungsverhältnisse zu markieren – etwa die der illegalisierten Migrantin, des Sexarbeiters, der Minijobber_innen, der Arbeitslosen oder der Teilzeitkräfte an der Universität oder im Callcenter. Marchart analysiert sympathisierend, wie die Aneignung dieses Begriffs einerseits den Versuch darstellt, eine Identität und ein politisches Subjekt zu erschaffen, andererseits die Proteste aber sehr viel Wert darauf legen, die Unterschiedlichkeiten der Subjektpositionen und Ausbeutungserfahrungen nicht zu vereinheitlichen.

Die gewinnbringende Auseinandersetzung mit den Aufrufen gelingt auch deswegen, weil die Sprache der EuroMayDay-Bewegung von oben beschriebener Aushandlung und Offenheit sowie von großer Selbstreflexivität gekennzeichnet ist und sich damit wohltuend von manch anderer linker Aufrufprosa unterscheidet. Dennoch muss eine Analyse von Aufrufen einigermaßen eindimensional bleiben, dienen diese doch in erster Linie der Mobilisierung und Selbstrepräsentation nach außen.

In einer zweiten „Stichbohrung“, die Marchart der Mediennutzung der Protestbewegung widmet, gelingt ihm ein mehrdimensionaleres Bild. Mit einer Rundschau durch das mediale Repertoire der Bewegung – von Sprechblasen und Superheldenkostümen über die Plünderung von Delikatessenläden bis hin zu Onlinedemonstration und fiktiven Modeschauen, um die Arbeitsbedingungen der Branche anzuprangern – gelingt es Marchart, ein lebendiges Bild der kreativen und experimentellen Praxen zu zeichnen, die sich im EuroMayDay-Kontext entwickelten. Theoretischer Einsatz ist hier die Analyse der prekären Proteste als solche, in denen es zu Formen der „Entsubjektivierung und Selbstinfragestellung“ (S. 211) kommt. Darauf aufbauend bezeichnet Marchart die EuroMayDay-Bewegung, aber auch andere neuere Proteste wie etwa occupy und Studierendenproteste, als „postidentitäre soziale Bewegungen“ (S. 219). Diese würden sich doppelt abgrenzen, einerseits gegen die traditionelle Arbeiterbewegung, andererseits gegen identity politics und seien gekennzeichnet durch eine ständige Infragestellung des eigenen Standpunkts und der politischen Formen. Marchart begrüßt dies und argumentiert abschließend dafür, diese Bewegungen als „Demokratisierungsproteste“ (S. 230) im Sinne radikaler Demokratie zu verstehen.

Fazit

Stärke des Buches ist die Gleichzeitigkeit von Theorieentwicklung und Gesellschaftsanalyse, aus der sich eine Gesellschaftstheorie der Kontingenz und das Primat sozialer Kämpfe ergeben. Dies erlaubt eine gewinnbringende Perspektive auf das Phänomen Prekarisierung. Insgesamt muss man Marcharts theoretische Perspektive nicht vollständig teilen, um das Buch mit Gewinn zu lesen. Ein Wermutstropfen bleibt aber die teilweise schematische Abgrenzung gegen Ökonomismus, zumal hier einige Fragen zum Verhältnis von Ökonomie und Politik, Diskurs und Materialität offen bleiben.

Die Lesarten, die Marchart für die EuroMayday-Bewegung vorschlägt, sind überzeugend, wenn auch notwendigerweise unvollständig. Insgesamt gelingt ihm aber ein gutes Bild verschiedener Facetten der Bewegung. Interessant wäre in diesem Zusammenhang jedoch noch die Frage gewesen, warum der Höhepunkt der EuroMayDay-Bewegung anscheinend vorbei ist. Auch wenn es momentan Versuche gibt, das europäische Netzwerk wieder zu beleben, stellt sich doch die Frage, warum der Begriff der Prekarität im Kontext der aktuellen Krise wenig politische Bedeutung entfalten kann.

Oliver Marchart 2013:
Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2192-1.
248 Seiten. 22,99 Euro.
Zitathinweis: Moritz Altenried: Prekarität und Hegemonie. Erschienen in: Deutschland im Krieg. 32/ 2014. URL: https://kritisch-lesen.de/s/q6RLP. Abgerufen am: 03. 12. 2024 18:12.

Zum Buch
Oliver Marchart 2013:
Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2192-1.
248 Seiten. 22,99 Euro.