Pop is not dead, it just smells funny
- Buchautor_innen
- Georg Seeßlen
- Buchtitel
- Is this the end?
- Buchuntertitel
- Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung
Die gesellschaftlichen Umbrüche der Gegenwart zeigen sich auch in der Kultur. Geht mit dem sozialdemokratischen Zeitalter auch die Ära des Pop zu Ende?
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Herausbildung der wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsmoderne und der damit verbundenen Demokratisierung der Klassengesellschaft, der sozialen und politischen Integration der ArbeiterInnenklasse, dem Aufkommen von Massenkonsum auch der unteren Klassen und der Entstehung einer Popkultur, wie wir sie seit Mitte der 1950er Jahre kennen und vielleicht auch lieben gelernt haben? Und wenn dieses Gesellschaftsmodell im Zuge der neoliberalen Wende, der Globalisierung, der Deindustriealisierung und Digitalisierung in die Krise gerät, welche Auswirkungen hat das dann auf die Popkultur?
Wenn man Georg Seeßlen Glauben schenkt, der sich in seinem Buch „Is this the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung“ mit dem gegenwärtigen Zustand der Popkultur befasst, befindet sich dieses Gesellschaftsmodell derzeit in einer Art finalen Krise. Pop war dabei für Seeßlen immer ambivalent: Momente der Befreiung und der Unterdrückung, des Klugen und Dummen, des Gelungenen und des Schunds fanden sich immer nebeneinander. Pop war Ausdruck der fordistischen Gesellschaft, aber im Unterschied zu dem, was Seeßlen als glattgebügelte „Kulturindustrie“ verabscheut, war Pop oft auch Protest gegen diese Gesellschaft und stand für die Verweigerung ihrer offiziellen, repressiven Sexualitäts- und Gendernormen, ihrer Arbeitsdisziplin und ihres Leistungszwangs und auch ihrer nationalistischen Ideologie. Pop war in seinen besten Momenten der Soundtrack für den Ausbruch aus diesem Elend und Vorschein einer besseren Welt.
Die Kinder von Marx und Coca-Cola
Der tendenzielle Abbau sozialer Ungleichheit in den westlichen Nachkriegsgesellschaften spiegelte sich für Seeßlen auch in der Popkultur wider:
„Man hörte Jimi Hendrix in Autowerkstätten und Universitäten; Donald Duck wurde in Kinderzimmern und Republikanischen Clubs gelesen, kurzum: Im Pop sollte Kultur ihren Klassen-, Rassen-, und Gender- Charakter überwinden und in den Dienst allgemeiner Erneuerung und Befreiung gestellt sein. Vor allem, um gemeinsam Spaß zu haben.“ (S. 18)
Doch gerade diese Konstellation ist im Moment dabei, zu zerbrechen. Während die Mittelschicht erodiert und sich Klassengegensätze verstärken, differenziert sich auch die Popkultur wieder zunehmend sozial aus. Platt gesagt lassen sich die Massen heute mit dem Schlagerpop Helene Fischers und dem Deutschrap Kollegahs abspeisen, während die distinguierte PopkonsumentIn, sagen wir, Holly Herndon hört. Herndorn steht dabei exemplarisch für jene Entwicklung, in der Teile der avancierteren Popkultur nicht mehr auf den Massenmarkt zielen, sondern eher beflissen nach dem Kunstbetrieb schielen und nach der Welt der staatlichen Stipendien und ihrer Musealisierung gieren. Dabei sei, wie Seeßlen ausführt, die Verbindung von Massenappeal und hochkulturellen und avantgardistischen Einflüssen eine Zeit lang gerade das spannendste und modernste an der besten Popmusik gewesen.
Arm, aber sexy
Breiten Raum nimmt im Buch das prekäre Alltagsleben der PopkünstlerInnen und KreativarbeiterInnen ein. Pop fungiert hier auch als eine Form von ideologischem Kitt. Man rödelt unter miesen und unsicheren Bedingungen herum, aber im eigenen Selbstbild ist man irgendwie doch cooler artist, der oder die was Kreatives macht und sich immerhin noch von anderen armen Schweinen, wie der Bäckereiverkäuferin, die einem für einen Mindestlohn die Brötchen verkauft, unterscheidet. Dabei haben die Arbeitsbedingungen im Kulturbereich längst eine Leitbildfunktion für andere Segmente der Arbeitswelt. Aber seltsam: In dem Augenblick, in dem sich weite Bereiche der Wirtschaft quasi in eine Popökonomie verwandeln – die Subjekte müssen in die flexibilisierten Arbeitsverhältnisse zunehmend ihre ganze Persönlichkeit mit ihren Affekten und ihrem „coolen Wissen“ einbringen – in dem Moment also verliert die Popmusik ihre Innovationskraft. Für diesen Befund bezieht sich Seeßlen auf die bekannten Thesen Simon Reynolds über die Retromania des aktuellen Pop, das Erstarren in ewigen Wiederholungsschleifen vergangener Popepochen, ohne wirklich Neues und Unerhörtes zuwege zu bringen.
Pop wie in Populismus
Verabschieden muss man sich Seeßlen zufolge auch von der Illusion, dass Pop immer irgendwie links und progressiv sei. Die Beispiele für das Maß an sexistischem, homophobem, antisemitischem und heimat- und traditionsseligem Stumpfsinn, der sich längst im Pop breitgemacht hat, sind Legion. Seeßlen nennt die üblichen Verdächtigen: Andreas Gabalier, Frei.wild, Xavier Naidoo, Kollegah, Bushido und so weiter. Der politische Rechtspopulismus hat längst ein popkulturelles Pendant zur Seite gestellt bekommen, das mit denselben Strategien des inszenierten Tabubruchs arbeitet. Verschärfend kommt hinzu, dass der Mainstream-Pop vor diesen Entwicklungen, wie überhaupt vor der politischen und gesellschaftlichen Realität, weitgehend die Augen verschließt. Für die Ignoranz und den Normalisierungsdruck des Mainstreams steht für Seeßlen vor allem der Erfolg Helene Fischers, die ja in der Tat das Kunststück vollbringt, irgendwie freizügig und gleichzeitig bieder zu sein. In sexueller Hinsicht steht sie für eine sterile Erotik, der jedes überschäumende Glücks- und Freiheitsversprechen ausgetrieben ist:
„Wenn Pop vom Medium der sexuellen Revolution zum Medium der sexuellen Reaktion werden sollte, dann nicht durch eine schiere Rückkehr zu den alten, bigotten Formen von Doppelmoral und Denunziation, sondern in der Form einer ‚Abklärung‘: Alles halb so wild, alles viel alltäglicher und vernünftiger, alles irgendwie normal.“ (S. 132)
Those were the days, my friend
Sicherlich wartet Seeßlen mit ein paar steilen Thesen auf. Aber dennoch lässt sich sein pessimistisches Bild vom Zustand der aktuellen Popkultur nicht mal eben als Gebrummel eines angry old man abtun, der verzweifelt der Popkultur seiner verflossenen Jugend nachtrauert und längst nicht mehr mitbekommt, was es auch in der Gegenwart an zukunftsweisenden Popentwürfen gibt. Gerade in ihrer Zuspitzung sind Seeßlens Reflexionen erfrischend und verweisen auf die Dringlichkeit einer Repolitisierung der Popkritik. Denn neben dem Pop befindet sich auch der Popjournalismus in einer tiefen Krise, was in der jüngsten Zeit im deutschsprachigen Raum durch die Einstellung der Printausgaben von Magazinen wie Spex, Intro, Groove und Skug offensichtlich wurde. Um die Infrastruktur, die eine lebendige Popkultur benötigt, ist es insgesamt nicht gut bestellt:
„Bestimmte Orte verschwanden, von den ‚Beatschuppen‘ über die Konzertbühnen bis zu den Clubs, in denen man mehr oder weniger zuhause sein konnte. Oder die Kinos, in denen man sich zur Nachtvorstellung traf. Die Plattenläden und wohlig vermüllten Buchhandlungen. Comic-Läden, in denen Sammler-Nerds anderen Sammler-Nerds Fetisch-Preise für Fetisch-Ware aus der Tasche ziehen. Nicht, dass Pop einmal richtig unschuldig gewesen wäre, höchstens in ein paar Millisekunden der Kulturgeschichte. Aber was die Ökonomie mit Pop seit den neunziger Jahren macht, ist nicht mehr komisch.“ (S. 10)
Das Kapital schafft sich eine Welt nach seinem Bilde. Bei Seeßlen kann man nachlesen, was dabei alles unter die Räder kommt.
Is this the end?. Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung.
Edition Tiamat, Berlin.
ISBN: 978-3-89320-228-7.
224 Seiten. 16,00 Euro.