Marx und seine Reproduktion
- Thema
- Essay von Gisela Notz
Warum Karl Marx ohne die Frauen in seinem Umfeld niemals der geworden wäre, der er war.
Wie viele andere SoziologiestudentInnen habe ich mir Anfang der 1970er Jahre „Das Kapital“ unter den Arm geklemmt und bin mit der U-Bahn zur Universität gefahren, um zum Kapitalkurs zu gehen. Zur dritten Veranstaltung kam ich zu spät. Ich entschuldigte mich, erklärte, ich hätte die Wohngemeinschafts-Kinder ins Bett bringen müssen. Dafür erntete ich Gelächter oder gar Buh-Rufe. Das weiß ich nicht mehr so genau, denn ich schämte mich unendlich. Anhören musste ich mir Sprüche, wie „die wichtigste Pflicht eines jungen Kommunisten ist Pünktlichkeit“ und „deine persönlichen Probleme interessieren hier nicht“. Als ich abends spät nach Hause kam, rief ich einen guten Freund an, der ebenfalls beim Kapitalkurs war. Ich teilte ihm mit, dass ich nicht mehr hingehen würde. Anstatt meine Partei zu ergreifen – was er allerdings schon im Hörsaal nicht getan hatte – wurde er ärgerlich, kritisierte mein Verhalten und machte mir deutlich, dass das so nicht ginge mit mir. Daraufhin haben wir uns eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Heute kann er sich nicht mehr an den Vorfall erinnern.
Leider machte ich nie mehr einen Kapitalkurs…
Während meines Studiums beschäftigte ich mich mit Frauenlohnarbeit, Reproduktionsarbeit und mit dem Arbeitsbegriff bei Karl Marx. Ich bedauerte meinen „Abbruch“ des Kapitalkurses und holte zu Hause und mit meiner Studiengruppe nur ungenügend nach, was ich versäumt hatte. Noch später verewigte ich die Frauen der Familie Marx in meinen Kalendern „Wegbereiterinnen“, die seit 2003 erscheinen. Ich begriff die Widersprüche zwischen Theorie und „wirklichem Leben“. Ich verstand aber auch, warum die linken StudentInnen kein Verständnis für mich haben konnten. Kinder ins Bett bringen, das war schließlich keine Arbeit. Und mit Hilfe der Wohngemeinschaft kam ich auch deshalb nicht wieder zu spät. Einen Kapitalkurs besuchte ich nie wieder, beschäftigte mich jedoch mit feministischer Marx-Kritik.
Die meist verbreitete und bis heute andauernde feministische Marx-Kritik seit den 1970er Jahren bezieht sich darauf, dass die großen Gesellschaftstheorien, die sich mit Arbeit befassen, die Leistung der Frauen für die Erschaffung und den Erhalt der Gesellschaft (Reproduktionsarbeit) ignorieren. Tatsächlich hat Karl Marx die außerökonomischen Faktoren der Arbeit nicht erfasst, das heißt, die unbezahlte, hauptsächlich durch Frauen geleistete Arbeit wurde nicht als Basis für die Entwicklung des Kapitalismus betrachtet und spielt auch in der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels keine Rolle. Die Arbeiten im Haus, bei der Erziehung der Kinder, der Pflege der Hilfsbedürftigen und in der ehrenamtlichen sogenannten „freiwilligen“ Arbeit fallen nicht unter die Definition von Arbeit, weil sie bekanntlich nicht bezahlt und privat, ohne Arbeitsvertrag, ohne tarifvertragliche und soziale Rechte erbracht werden und angeblich auch unbezahlbar sind. Aus dieser Ignoranz ergeben sich eine Reihe von Problemen, denn die Arbeiten, die nicht Erwerbsarbeit sind, sind gesellschaftlich ebenso notwendig wie die Erwerbsarbeit. Die bloße Behauptung, die Hausarbeit sei ebenso produktive Arbeit, die in Verbindung mit der in den großen Fabriken geleisteten Arbeit für die Vergrößerung des Mehrwerts sorge, ändert (noch) nichts an den geschlechterhierarchischen Zuschreibungen, an der isolierten Arbeitssituation von Hausfrauen oder (wenigen) Hausmännern und an der Tatsache, dass diejenigen, die sie leisten, von ihrem Ertrag nicht eigenständig existieren können.
Was sind „alle Verhältnisse“, die umgeworfen werden müssen?
Für Karl Marx galt es „…alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Dieser Grundsatz gilt auch heute als geeignetes Kriterium für die Bewertung von Gesellschaftstheorie und politischen Praxen emanzipatorischer Bewegungen. Nach diesem strategischen Grundsatz müsste – gäbe es keine Mängel im Lehrgebäude von Marx – auch die Frauenunterdrückung einbezogen sein. Aber was sind „alle Verhältnisse“? Ökonomische Verhältnisse sind eine, aber nicht die einzige Form von Unterdrückung und Erniedrigung, die die Arbeiterklasse erfährt. Die feministische Forschung, mit der ich mich seit dem Studium beschäftige, kritisierte die Annahme, dass das Herrschaftsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit die grundlegende Form der Unterdrückung sei. Ich lernte, dass die Reproduktionsarbeit, die vor allem – auch heute noch – wesentlich von Frauen geleistet wird, von Marx zwar vorausgesetzt, in seinen Analysen aber vernachlässigt wird. Die Reproduktionsarbeit von Frauen ist für den Bestand der Lohnarbeitsverhältnisse aber nicht marginal, sondern zentral und zudem für die Unterdrückung von Frauen funktional. Die doppelte Ausbeutung der Frauen lässt sich jedoch nicht einfach auf dieses Unterdrückungsverhältnis zurückführen. Der von den MarxistInnen lange vertretenen These, der „Hauptwiderspruch“ zwischen Kapital und Arbeit strukturiere auch das Verhältnis der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung, weshalb die Auflösung des „Hauptwiderspruches“ durch die sozialistische Revolution die Voraussetzung der Lösung des „Nebenwiderspruchs“ der Frauenbefreiung sei, konnte ich – ebenso wie andere linke Feministinnen – nicht mehr folgen. Durch meine Arbeit in der Redaktion der beiträge zur feministischen theorie und praxis und die Zusammenarbeit mit Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern lernte ich bald, dass Rassismus eine weitere wichtige Form der Unterdrückung darstellt. Der Zusammenhang von Rasse, Klasse und Geschlecht (race, class, gender) wurde innerhalb der feministischen Forschung breit diskutiert. Vor allem durch die Genderforschung wurden wir bald damit konfrontiert, dass auch diese in Wechselwirkung bestehenden Unterdrückungsformen redundant seien und weitere Diskriminierungsformen (wie Sexualität, Alter, Gesundheit, Beeinträchtigungen etc.) nicht berücksichtigten. Alle Verhältnisse zu berücksichtigen ist deshalb das Anliegen der Feministinnen, die sich mit der Theorie der Intersektionalität befassen und eine Vielfalt von Unterdrückungsformen untersuchen. Schade, dass die Diskussion über diese Theorie fast ausschließlich im Elfenbeinturm der Wissenschaften stattfindet und die Anbindung an die Praxis weitestgehend verloren geht. Die Gefahr, dass das Subjekt der Unterdrückung (die ArbeiterIn, die Migrantin, die Frauen qua Geschlecht) oder die Ursache der Unterdrückung (Klassenverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, Neo-Nationalismus, Sexismus) verloren geht, ist groß, während die Ausbeutung bleibt.
Die Reproduktionsarbeit im Hause Marx
1843 heiratete Karl Marx Jenny von Westphalen. Sie war für Marx Geliebte, Sekretärin und Kampfgefährtin. Sie las, lektorierte und korrigierte seine Werke, schrieb seine oft für andere unleserlichen Manuskripte ab und sorgte so für die Druckreife seiner Schriften. Sie hielt ihm den „Rücken frei“, damit er seine philosophischen und gesellschaftskritischen Werke schreiben konnte. Dafür nannte er sie „liebe gute Herzensjenny“. Die Hauptlast der Sorge um das tägliche Leben und um Hab und Gut sowie um die Ernährung und Erziehung der Kinder lag offensichtlich bei Jenny. Dass sie auch die Hausarbeit machte, ist in den Erzählungen über sie nicht erwähnt. Nach der Heirat hauste das Paar mit dem ersten Kind in einer engen Wohnung. Jenny hatte offensichtlich nie gelernt, einen Haushalt zu führen. Als sie sich bei ihrer Mutter über die schrecklich Überforderung durch die zusätzliche Haus- und Sorgearbeit beklagte, schrieb Caroline von Westphalen: „Ich schicke Dir das treue liebe Lenchen, als das Beste, was ich dir schicken kann.“ Jenny nahm die Hausgehilfin Helena (Lenchen) Demuth, die sie bereits in ihrer Herkunftsfamilie betreut hatte, mit in ihre eigene Familie. Das Revolutionsjahr 1848/49 verbrachten sie mit Helena in Köln, wo Karl Marx und Friedrich Engels die Rheinische Zeitung herausbrachten. Als Mitte Mai 1849 ein Ausweisungsbefehl Karl Marx aus Köln vertrieb, begleitete Lenchen die Familie über Frankreich und Belgien nach London ins Exil. Sie betreute die sieben Kinder, von denen vier früh starben und lediglich drei Töchter das Erwachsenenalter erreichten, verwaltete die knappe Haushaltskasse und verhandelte mit den Pfandverleihern. Der „praktische Hausgeist“, wie Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx und Ehemann seiner Tochter Laura, sie später nannte, lernte die englische Sprache, kochte Kartoffeln und buk Brot, schneiderte für sich und die Kinder, teilte mit „hausfraulichem Geschick“ und Sparsamkeit das wenige Geld ein. Auch Freuden und Leiden, Erfolge und Niederlagen und die permanente Armut teilte sie mit der Familie Marx.
Die Marx-Töchter waren nicht nur davon überzeugt, es dem geliebten Vater schuldig zu sein, für ihn und seine Sache bedingungslos einzutreten. Sie wurden selbst zu überzeugten Sozialistinnen. Die älteste Tochter Jenny (verh. Languet), Laura (verh. Lafargue) und die jüngste Tochter Eleanor (später Marx-Aveling), genannt Tussy, gingen nicht nur zu Hause „ihrer Mutter an die Hand“, sondern bemühten sich gleichzeitig, gute Töchter ihres Vaters zu sein. Wie ihre Mutter Jenny von Westphalen bewährten sie sich als seine Sekretärinnen und Übersetzerinnen, halfen ihm bei der Korrespondenz, ordneten Bücher und Manuskripte, dolmetschten für ihn und verwalteten später mit Friedrich Engels seinen Nachlass. Eleanor wurde die unverdrossene Krankenpflegerin der Familie. Wie Wilhelm Liebknecht später schrieb, trat sie in die großen Fußstapfen des Vaters, indem sie ihren durchdringenden „Verstand dem Kampf für die Befreiung der Unterdrückten und Ausgebeuteten weiht“. Den oft kranken Vater begleitete sie zu seinen Kuren.
Eleanor schrieb später: „Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, ohne Jenny von Westphalen hätte Karl Marx niemals der sein können, der er war." Vielleicht hätte er es auch ohne Eleanor Marx-Aveling, ohne Laura Lafargue, ohne Jenny Longuet, und wahrscheinlich auch nicht ohne die „treue Genossin“ und lebenslange Freundin Helena Demuth das „Kapital“ schreiben können.
Eine unentbehrliche Genossin
Nicht nur hatte Lenchen Demuth Marx während seiner Krankheit liebevoll gepflegt, sie hatte auch – wie Historiker später schrieben – einen „unehelichen“ Sohn mit ihm und galt vielen als Marx’ „illegitime“ Frau. Nach Marx’ Tod führte sie das Haus von Friedrich Engels, mit dem sie eine kameradschaftliche Partnerschaft verband und politische Fragen und „Parteisachen“ erörterte. Marx und Engels und Lenchen Demuth kümmerten sich offensichtlich weniger um bürgerliche Konventionen als die vielen HistorikerInnen und JournalistInnen, die sich bis heute über diese Beziehung die Mäuler zerreißen. Außergewöhnliche Lebensformen gab es schon immer in der Geschichte und wird es auch weiter geben. Als Mitgestalterin der sonntäglichen Tafelrunden lernte Helena Demuth SozialistInnen aus vielen Ländern kennen. Auch ihren Sohn Freddy traf sie regelmäßig und Eleanor stand in regem Briefwechsel mit ihr. Die „treue Genossin“, wie August Bebel sie nannte, war es auch, die den schriftlichen Nachlass von Karl Marx ordnen half und dabei die Manuskripte zum zweiten Band des Kapitals entdeckte. Friedrich Engels ermöglichte sie ungestörte Stunden am Schreibtisch, wie sie das vorher für Karl Marx getan hatte. Nachdem sie im Oktober 1890 schwer erkrankt war, starb Lenchen Demuth am 4. November 1890 in London und wurde auf dem Londoner Highgate Friedhof im Grab von Karl und Jenny Marx beerdigt, so wie beide es sich zu ihren Lebzeiten gewünscht hatten. 1954 kam Eleanors Urne hinzu. Friedrich Engels schrieb in seinem Trauerbrief: „Lenchen und ich waren die zwei Letzten der alten Garde von vor 1848. Wenn während langer Jahre Marx und ich Ruhe zum Arbeiten fanden, so war das wesentlich ihr Werk.“ Was im Kleinen gilt, gilt auch im Großen: Marx’ Schriften, sein theoretisches und praktisches Wirken, seine enge Zusammenarbeit mit Engels: All das wäre ohne die Arbeit der Frauen in seinem Umfeld nicht möglich gewesen.
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Gisela Notz hat gemeinsam mit anderen SozialwissenschaftlerInnen 2014 den Sammelband „Marx für SozialwissenschaftlerInnen. Eine Einführung“ herausgegeben (Springer VS, Wiesbaden 2014). Darin findet sich auch ihr Aufsatz „Zur feministischen Kritik des marxistischen Arbeitsbegriffs“.
Seit 2003 gibt Gisela Notz beim Verlag AGSPAK jährlich den Kalender „Wegbereiterinnen“ heraus. Der Kalender 2018 ist kürzlich erschienen. Im 2008er Kalender findet sich ein Kalenderblatt zu Helena (Lenchen) Demuth.
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Gisela Notz ist Historikerin und Sozialwissenschaftlerin und lebt und arbeitet in Berlin.