Grenzenlose Auspressung von Arbeitskraft
- Thema
- Essay von Janina Puder
Warum wir Überausausbeutung als analytische Kategorie brauchen – ein Plädoyer für eine Weiterentwicklung des marxistischen Ausbeutungsbegriffs.
Wenn in der Öffentlichkeit von Überausbeutung gesprochen wird, dann meist, um auf die besonders schlechten, inhumanen Arbeits- und Lohnverhältnisse bestimmter Beschäftigungsgruppen aufmerksam zu machen. Ob moderne Sklaverei, Armut, Prekarität, Rassismus oder segmentierte Arbeitsmärkte: Diese Beschreibungen gelten als Indikatoren, um dem Problem der Überausbeutung Nachdruck zu verleihen – allerdings ohne Überausbeutung als eigenständiges Phänomen bestimmen zu können. Das ist nicht grundsätzlich falsch, geht aber am Kern der Problematik vorbei. Nehmen wir jedoch die theoretischen Wurzeln ernst, die auf die marx’schen Überlegungen zur Ausbeutung von Lohnarbeit zurückgehen, dann muss der Begriff der Überausbeutung nicht nur historisch und materialistisch genauer bestimmt werden. Es muss auch aus einer klassenspezifischen Sicht gefragt werden, weshalb sich in einigen Produktionsstätten kapitalistischer Gesellschaften überausbeuterische Arbeitsverhältnisse verstetigen, während dies in anderen undenkbar erscheint. Ordnen wir den Begriff der Überausbeutung hierfür zunächst im Debattenfeld ein.
Überausbeutung als analytische Kategorie wider die Moral
Wird auf eine analytische Herleitung verzichtet, kann der Begriff der Überausbeutung dazu verleiten, schlechte Arbeits- und Lebensverhältnisse allein auf moralischer Ebene zu problematisieren. Man kennt die Berichte aus der Bundesrepublik über osteuropäische Arbeiter:innen, die angestellt bei Subunternehmen zehn, manchmal zwölf Stunden am Tag im Akkord riesige Mengen Fleisch zerlegen, zu Löhnen, die de facto den Mindestlohn unterschreiten; von Saisonarbeiter:innen, die Spargel ernten, bis ihre Rücken vollkommen kaputt sind und in Unterkünften leben, ohne ausreichend sanitäre Anlagen und Platz; oder den Laienpfleger:innen aus Polen, die nicht selten rund um die Uhr ohne einen freien Tag in der Woche in Privathaushalten unsere Angehörigen pflegen. An den Rändern des globalen Kapitalismus scheinen derlei Arbeitsverhältnisse häufiger die Regel zu sein als die Ausnahme, denkt man zum Beispiel an die Situation der Textilarbeiterinnen in Bangladesch oder der unentlohnten Zuarbeit von Frauen (und manchmal auch Kindern) auf Palmölplantagen in Südostasien.
Diese Arbeitsverhältnisse enttarnen zweifellos die besonders hässliche Seite des Kapitalismus, der keine oder im besten Falle eine höchst selektive Moral zu kennen scheint. Doch trotz der wiederkehrenden Empörungskonjunkturen über solche Arbeitsbedingungen und politische Vorstöße, diese durch Gesetze (siehe zuletzt das sogenannte Lieferkettengesetz), internationale Abkommen im Rahmen der ILO (International Labour Organization) oder gesetzliche Mindestlöhne und Arbeitsschutzmaßnahmen auf nationalstaatlicher Ebene zu unterbinden, werden sie immer wieder in unterschiedlichen Branchen dokumentiert. Eine moralische Kritik an diesen Zuständen trägt dabei weder zu einem tiefergehenden Verständnis bei, weshalb überhaupt besonders schlechte Lohnarbeitsverhältnisse entstehen und wie sie sich reproduzieren können, noch bietet sie strategische Ansatzpunkte für deren Überwindung. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen erfordert eine kritische Perspektive, die zunächst den Zusammenhang von Kapitalakkumulation, der globalen Arbeitsteilung und der Abwertung von Arbeitsvermögen bestimmter sozialer Gruppen in den Fokus der Betrachtung rückt. Hierfür liefert das marx’sche Denken die entscheidenden Anknüpfungspunkte.
Von Ausbeutungs- und Überausbeutungsverhältnissen
Im Kapital Band I zeigt Karl Marx, dass der Lohn, den Arbeiter:innen für die Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit erhalten, nicht dem Wert entspricht, den die Verausgabung ihrer Arbeitskraft im Produktionsprozess tatsächlich schafft. Vereinfacht ausgedrückt, orientiert sich die Lohnhöhe stattdessen an der Summe, die es braucht, damit die Arbeiter:innen ihre Arbeitskraft regenerieren können, um der Produktionssphäre jeden Tag aufs Neue zur Verfügung zu stehen. Die Höhe des Lohns bemisst sich am Mindestumfang, den Arbeiter:innen benötigen, um zum Beispiel Lebensmittel oder Kleidung (das heißt Reproduktionsmittel) erwerben zu können. Der zusätzlich erzeugte Wert, der im Produktionsprozess bei der Herstellung von Waren durch die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft entsteht (der Mehrwert), wird von Kapitalist:innen abgeschöpft und zum eigenen Konsum und zur (Re-)Investition in den Kapitalkreislauf verwendet. Während Arbeiter:innen morgens pünktlich auf der Arbeit erscheinen, um Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sind Kapitalist:innen daran interessiert, dass Arbeiter:innen arbeitstauglich zur Schicht erscheinen, ergo, dass sie die physischen und psychischen Kapazitäten, die sie bei der Produktion benötigen, einigermaßen reproduzieren können. Von Außen betrachtet wirkt der Tausch Arbeitskraft gegen Lohn wie ein fairer Handel zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen – schließlich wird im Arbeitsvertrag festgelegt, dass acht Stunden Arbeitszeit einer bestimmten Summe X entspricht. Wie Marx jedoch zeigt, werden Arbeitskräfte durch die einseitige private Aneignung des im Produktionsprozess erzeugten Mehrwerts durch die Kapitalist:innen de facto ausgebeutet. Denn: Es ist die Verausgabung ihrer Arbeitskraft, die den produzierten Waren mehr Wert verleihen, mehr als die Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft die Arbeitgeber:innen kostet. Es folgt daraus also, dass sie nicht für den gesamten Umfang ihrer verausgabten Arbeitskraft entschädigt werden.
Die analytische Herleitung des Ausbeutungsbegriffs gibt einerseits Aufschluss darüber, wie Kapital überhaupt erst angehäuft (das heißt akkumuliert) werden kann; andererseits verdeutlicht er, dass es sich bei Lohnarbeitsverhältnissen immer um eine hierarchische, wechselseitig abhängige Beziehung von Ungleichheit und Herrschaft handelt. Ausbeutung stellt dabei einen Grundmechanismus kapitalistischer Klassenverhältnisse dar. Allerdings kann die konkrete Ausgestaltung von Ausbeutungsverhältnissen stark variieren. Einige Arbeitgeber:innen versuchen ihre Mitarbiter:innen an das eigene Unternehmen zu binden oder Arbeitskämpfen vorzubeugen, indem sie zum Beispiel Betriebsfeiern veranstalten, vergleichsweise hohe Löhne zahlen oder flexible, auf die jeweilige familiäre Situation zugeschnittene Arbeitszeiten ermöglichen. Manche Unternehmer:innen begreifen sich selbst sogar als Philanthropen, wodurch sie sich nicht nur in der Verantwortung sehen, eine gute Arbeitsatmosphäre für ihre Mitarbeiter:innen zu schaffen, sondern sich auch in Form von Spenden oder Charity-Aktionen für das Gemeinwohl einsetzen. Ebenso kann eine starke gewerkschaftliche Interessensvertretung dazu beitragen, dass Beschäftigte bestimmter Branchen oder Betriebe gute Einkommens- und Arbeitsbedingungen genießen.
Die konkreten Arbeitsbedingungen sind entscheidend dafür, unter welchen Umständen Arbeiter:innen sich reproduzieren können. Eine bloße (diskursive) Ablehnung des Lohnarbeitsverhältnisses ist deshalb politisch gesehen nicht zielführend, da es kaum Spielräume bietet, Strategien mit Beschäftigten zu entwickeln, die perspektivisch auf die Überwindung von kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen zielen. Zudem verstehen sich Arbeiter:innen häufig nicht unmittelbar als ausgebeutet, aufgrund der rechtlichen Absicherung und der staatlichen Regulierung des Lohnarbeitsverhältnisses, der Entfremdung im Produktionsprozess sowie der ideologischen Rahmung dessen, was in kapitalistischen Gesellschaften unter Arbeit und gesellschaftlicher Arbeitsteilung verstanden wird – das Primat der Lohnarbeit erscheint universell. Nun stellt sich aber die Frage, wie man von Ausbeutung zu Überausbeutung gelangt; und wieso braucht es überhaupt ein eigenes Verständnis von überausbeuterischen Arbeitsverhältnissen?
Überausbeutung als eigenständiges Phänomen
Wenn man davon ausgeht, dass Arbeiter:innen unter „normalen“ Umständen mindestens den Lohn erhalten, den sie für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft benötigen, und dass Arbeitsbedingungen so gestaltet sind, dass es nicht zu einem frühzeitigen Verschleiß der physischen und psychischen Kräfte der Arbeiter:innen kommt, dann muss in Überausbeutungsverhältnissen eine gewisse Lohnuntergrenze unterschritten und/oder die Arbeitskraft der Arbeiter:innen vorzeitig abgenutzt werden. Marx selbst hält fest, dass das „Nichtskosten“ der Arbeitskraft vor allem „eine Grenze im mathematischen Sinn“ darstellt; „stets unerreichbar, obgleich stets annäherbar. Es ist die beständige Tendenz des Kapitals, sie auf diesen nihilistischen Standpunkt herabzusetzen.“ (MEW 23: 626) Das Problem, das er dabei sieht, ist: Je stärker Arbeiter:innen ausgebeutet werden, desto schneller verlieren sie an Arbeitssubstanz (das heißt an Arbeitstauglichkeit), wodurch diese den Kapitalist:innen als Quelle von Wert verloren geht. Deshalb geht Marx davon aus, dass das Herabdrücken des Lohns unter das gesellschaftlich definierte Mindestniveau und die uferlose Intensivierung der Arbeit zwar faktisch vorkommen kann, eine systematische Überausbeutung von Arbeitskräften würde aber den Kapitalkreislauf als Ganzes gefährden. Aus diesem Grund würden „einfache“ Ausbeutungsverhältnisse weiterhin die Norm in kapitalistischen Gesellschaften darstellen.
In Anknüpfung an Marx lohnt sich allerdings der Blick in die Peripherien des globalen Kapitalismus sowie eine Reflexion über die Wirkweisen von zum Beispiel vergeschlechtlichten oder „rassifizierten“ Arbeitsverhältnissen, um nachvollziehen zu können, inwiefern Ausbeutungs- und Überausbeutungsverhältnisse zwei Seiten der gleichen Medaille darstellen.
Ausbeutungsverhältnisse global betrachtet
Mitte der 1960er Jahre entstand in Lateinamerika eine Debatte (später bekannt als Dependenztheorie), die sich mit der abhängigen kapitalistischen Entwicklung der Länder des sogenannten Globalen Südens auseinandersetze. Im Rahmen dieser Diskussion entwickelte der Theoretiker Ruy Mauro Marini in seinem Text „Dialektik der Abhängigkeit“ (1974) ein eigenes Verständnis davon, was Überausbeutungsverhältnisse kennzeichnet und aus welcher strukturellen Logik der kapitalistischen Produktionsweise heraus sie entstehen. Im Kern argumentiert er, dass die Abhängigkeitsverhältnisse, die sich im globalen Kapitalismus zwischen den frühindustrialisierten Kernindustriestaaten und den Staaten des Globalen Südens herausgebildet haben, bei Letzteren zur Entstehung einer spezifischen Form des Kapitalismus geführt hat, die er als abhängigen beziehungsweise peripheren Kapitalismus bezeichnet. Die Tendenz zur Überausbeutung von Arbeiter:innen in peripheren Produktionsprozessen ist dabei Ausdruck der ungleichen Entwicklungsdynamik kapitalistischer Gesellschaften und der steigenden Produktivität (zum Beispiel durch Rationalisierungs- und Technologisierungsprozesse) des Industriekapitalismus in den Zentrumsstaaten. Während die Produktivität in den westlichen Industriestaaten zwar stetig zunimmt, ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Steigerung des Mehrwerts – denn, wie Marx darlegt, ist es allein die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, die Mehrwert im Produktionsprozess schafft. Während es also in den modernen Produktionsstätten des Globalen Nordens zu einer zunehmenden Substituierung von Arbeitskräften (lebendige Arbeit) durch Maschienen (tote Arbeit) kommt, steigt zwar unweigerlich die Produktivität, nicht aber zwingenderweise der Mehrwert, der den Treibstoff der Kapitalakkumulation darstellt. Auf lange Sicht betrachtet würde so die Profitrate tendenziell fallen, wodurch der Kapitalismus in eine Krise geraten würde. Um den Mehrwert global dennoch steigern zu können, blickt das Kapital gen Süden. Hier ist es durch einen vergleichsweise niedrigeren Technologieeinsatz in spezifischen Sektoren (zum Beispiel in der Landwirtschaft) bei einem gleichzeitig hohen Einsatz von Arbeitskraft möglich, höhere Mehrwerte zu erzielen, indem die Arbeitskraft der lohnabhängigen Bevölkerung in peripheren Zonen des globalen Kapitalismus systematisch überausgebeutet wird. Hier ist es also andersherum: Die Produktivität bleibt relativ gering, während die Ausbeutung der Arbeitskraft und dadurch die Erzeugung von Mehrwerten hoch bleibt beziehungsweise durch die Überausbeutung von Arbeit gesteigert werden kann. Der Weltmarkt, Investitionsregime und nicht zuletzt die ungleiche internationale Ordnung verteilt die so erzeugten Mehrwerte von Süden nach Norden um, indem sich die großen Kapitale des Nordens dadurch weiterhin bei steigenden Profitraten verwerten können.
Vor einigen Jahren erneuerte der US-amerikanische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler John Smith die These Marinis, indem er Überausbeutung im Kontext von Dynamiken der Produktionsverlagerung in die Peripherien, der Umstrukturierung globaler Wertschöpfungsketten und der krisenhaften Reproduktion des Kapitals als Ausdruck eines neuen (sub-)imperialistischen Schubs alter und neuer Industriemächte analysiert. Gerade Länder mit laxen Arbeitsrechten, einem ausgedehnten informellen Sektor, schwachen Gewerkschaften, segmentierten Arbeitsmärkten und niedrigen Lebenshaltungskosten stellen dabei eine regelrechte Überausbeutungsoase dar. Doch was bedeutet das konkret für die betroffenen Segmente der Arbeiter:innenklasse?
Überausbeutung von der Theorie zur Praxis
Wie sich in meiner eigenen Forschung gezeigt hat, äußern sich überausbeuterische Arbeitsverhältnisse mitunter in Hungerlöhnen oder Arbeitszwang, in gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, exzessiven Überstunden, der Abwertung von Arbeitsvermögen und der ideologisch-kulturell vermittelten Herabsetzung des Mindestumfangs an notwendigen Reproduktionsmitteln. Die Verrichtung von Lohnarbeit ist in diesem Fall nicht mehr reproduktionssichernd oder wird sogar reproduktionsgefährdend. Kann das Kapital zum Beispiel auf eine große Reservearmee an Arbeiter:innen zurückgreifen, die über keine oder unzureichende alternative Einkommensmöglichkeiten verfügen, um sie in Bereichen mit niedrigen Qualifizierungsanforderungen einzusetzen, stellt der vorzeitige Verschleiß von Arbeitskraft lediglich ein geringfügiges Problem dar. Sterben Arbeiter:innen bei der Arbeit oder streiken sie, werden sie meist rasch ersetzt. Die während der Covid-19-Pandemie auf einem niedersächsischen Spargelhof verhangene sogenannte Arbeitsquarantäne versinnbildlicht diese Praxis eindrücklich: Infolge eines Corona-Ausbruchs ordnete das Unternehmen Thiermann im April 2021 für rund 1.000 vorwiegend osteuropäische Beschäftigte an, sich häuslich abzusondern „mit Ausnahme der Wahrnehmung der beruflichen Tätigkeit“ (Nöggerath 2021). In einem Sektor, der bereits seit Jahrzehnten dafür bekannt ist, extrem niedrige Löhne zu zahlen, Beschäftigte bis an den Rand ihrer körperlichen Kräfte zu bringen und in beengten Behausungen unterzubringen, wurde es somit während der Hochphase einer globalen Pandemie in Kauf genommen, dass Arbeiter:innen sich zum Teil ohne ausreichend Schutzmaßnahmen unter Umständen mit einer für sie potenziell tödlichen Krankheit infizieren. Die nächsten Busse aus Rumänien und Polen waren schnell wieder vollbesetzt. Verschärft stellte sich die Situation auch für Teile der migrantischen Palmölarbeiter:innen in Indonesien und Malaysia dar. Mit Ausbruch der Pandemie riegelten einige Arbeitgeber:innen ihre Plantagen von der Außenwelt ab. Ohne Möglichkeit, das Areal zu verlassen, das gleichzeitig Wohnort für migrantische Arbeiter:innen ist, um medizinische Hilfe aufzusuchen oder Lebensmittel zu erwerben, überließ man hunderte Arbeiter:innen sich selbst.
Doch wie können überausgebeute Arbeiter:innen ihre Arbeitskraft dennoch reproduzieren? Wie sich in einigen Studien gezeigt hat, reproduzieren sich überausgebeutete Arbeiter:innen zum Beispiel, indem sie zusätzlich zu ihrem Lohnarbeitsverhältnis Tauschhandel betreiben, eine kleine Subsistenzwirtschaft pflegen, Schulden aufnehmen, einer zusätzlichen informellen Tätigkeit nachgehen oder sie in ihrem Haushaltszusammenhang alle Ressourcen bündeln, um sie an die jeweiligen Haushaltsmitglieder umzuverteilen. Soziale Beziehungen und informelle Netzwerke sind hierfür elementar. Diese Reproduktions- beziehungsweise Überlebensstrategien führen allerdings ungewollt dazu, dass sich überausbeuterische Lohnarbeitsverhältnisse in spezifischen Regionen, Sektoren oder sozialen Gruppen verstetigen können.
Wenn Arbeiter:innen nicht gleich Arbeiter:innen sind
Die Überausbeutung von Arbeitskraft besitzt neben der strukturellen auch eine politisch-institutionelle und ideologische Dimension. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass einige soziale Gruppen im Vergleich zu anderen überproportional häufiger von Überausbeutung betroffen sind. Um Überausbeutungsverhältnissen gesellschaftlich den Anschein einer gewissen Legitimität zu verleihen, wird zum Beispiel das Arbeitsvermögen bestimmter Segmente der Arbeiter:innenklasse sozial abgewertet – allen voran jenes von Frauen und Arbeitsmigrant:innen, selbst jene, die in ihrem Herkunftsland ein Hochschulstudium absolviert haben, finden sich in Deutschland auf einmal im Niedriglohnsegment wieder. Damit geht die Vorstellung einher, dass das deutsche System den (Aus-)Bildungssystemen anderer Staaten in weiten Teilen überlegen ist. Bestimmte Gruppen migrantischer Arbeiter:innen werden daraufhin immer wieder aufs Neue Bewährungsproben ausgesetzt. Zudem gilt es, die Essenz einer vermeintlich hochgradig leistungsfähigen deutschen Arbeitskultur und -moral zu verinnerlichen, die als eine tragende Säule der deutschen Wirtschaft imaginiert wird. In Katar werden Arbeitsmigrant:innen häufig mit Arbeitszwang und gefährlichen Arbeitsbedingungen konfrontiert, wie nicht zuletzt die Fußball-WM der Männer 2022 der Welt schmerzlichst vor Augen hielt. Hier sind die Arbeiter:innen einzig und allein Träger:innen von Arbeitskraft.
Da sich Frauen angeblich besonders gut für emotionale und fürsorgliche Tätigkeiten eignen, ist der Pflegeberuf weltweit weiblich dominiert. Nicht Löhne seien hier entscheidend, sondern das gute Gefühl, anderen Menschen helfen zu können – dass sich die Pflegearbeiter:innen dennoch reproduzieren müssen, dass sie für ihre Rente vorsorgen oder dass sie genug Erholung brauchen, um ihre Tätigkeit konzentriert ausführen zu können, wird dabei ausgeblendet. Während der Pandemie noch als Heldinnen beklatscht, schlug sich die kurzzeitige gesellschaftliche Anerkennung in fast ganz Europa weder in einer substanziellen Lohnerhöhung noch in einem verbesserten Personalschlüssel nieder. Über Gesetze und gezielte politische Maßnahmen werden derlei ideologische Rechtfertigungssysteme institutionell abgesichert. Die ideologischen Konstruktionen und ihre politisch-institutionelle Verankerung bilden die Grundlage, auf der sich überausbeuterische Arbeitsverhältnisse potenziell herausbilden und gesellschaftlich verstetigen können. So wichtig der Blick auf Ideologie und Institutionalisierung überausbeuterischer Verhältnisse ist, bleibt dabei die Frage oftmals außen vor, ob und wie Arbeiter:innen sich gegen die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft wehren können.
(Un-)Sichtbare Kämpfe in der Produktions- und Reproduktionssphäre
Ein wesentliches Problem von Überausbeutungsverhältnissen äußert sich für die betroffenen Segmente der Arbeiter:innenklasse darin, dass ihre Interessen und Kämpfe meistens im Verborgenen liegen. Eine kollektive Organisierung überausgebeuteter Arbeiter:innen durch Gewerkschaften ist oftmals schwierig zu bewerkstelligen. In Sektoren, die von besonders vulnerablen und fragmentierten lohnabhängigen Gruppen dominiert werden, haben es Interessensvertreter:innen häufig schwer, sich Zugang zu den Betrieben zu verschaffen. Bisweilen fühlten sich Gewerkschaften auch für diese Gruppe von Arbeiter:innen nicht zuständig. Auf Seiten der Arbeiter:innen können Sprachbarrieren, eine fehlende Erfahrung im Umgang mit Gewerkschaften oder soziale Distanz, die einen Austausch zwischen den Beschäftigten untereinander erschwert, Organisierungsprozesse behindern. Von Unternehmensseite sind es Praxen des sogenannten Union Bustings (das heißt die Unterdrückung beziehungsweise Zerschlagung der Arbeitnehmer:innenvertretung) oder eine Personalpolitik, die nach dem Hire-and-Fire-Prinzip funktioniert, die den kollektiven Widerstand gegen überausbeuterische Arbeitsverhältnisse erschweren. Gerade mit Blick auf die Überausbeutung migrantischer Arbeitskräfte zeichnet sich eine besonders hohe Hürde für die Organisierung der Beschäftigten ab: Weil die Aufenthaltsgenehmigung für „gering-qualifizierte“ Migrant:innen in den meisten Staaten unmittelbar an das Beschäftigungsverhältnis gebunden ist, wodurch ein Konflikt mit Vorgesetzten nicht nur die Gefahr des Jobverlusts nach sich zieht, sondern auch das Bleiberecht gefährdet, schrecken viele Arbeiter:innen vor betrieblichen Auseinandersetzungen zurück. Diese Phänomene lassen sich auch in „regulären“ Ausbeutungsverhältnissen konstatieren, jedoch deutlich seltener.
Ohne Interessensvertretung oder einer militanten Selbstorganisierung wird es schwer, gegen Überausbeutungsverhältnisse vorzugehen. Ist der Kampf also verloren, bevor er begonnen hat? In diesem Fall kann die Antwort nur nein lauten, auch wenn man sich keine Illusionen machen sollte hinsichtlich der damit verbundenen Herausforderungen.
Hin zu einer kollektiven Organisierung überausgebeuteter Arbeiter:innen
Um über die Möglichkeit einer Organisierung überausgebeuteter Arbeiter:innen diskutieren zu können, erscheint es zunächst sinnvoll, die Beziehung zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre genauer zu betrachten. In seinem Buch „Social Reproduction Theory and the Socialist Horizon. Work, Power and Political Strategy” (2020) argumentiert Aaron Jaffe, dass die Emanzipation der Arbeiter:innenklasse nicht umhin kommt, sich auch von der Art und Weise zu emanzipieren, wie spezifische Zwänge der Arbeitskraft geformt und erfahren werden. Diese Zwänge können mitunter aus der dargelegten gesellschaftlichen Abwertung von Arbeitsvermögen bestimmter Gruppen resultieren. So ermöglicht eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung zum Beispiel einerseits die Schlechterbezahlung weiblicher Beschäftigter. Andererseits kann sie fragmentierend auf die gesamte Arbeiter:innenklasse wirken, wodurch einem kollektiven Widerstand gegen die Ausbeutung von Arbeit die Grundlage entzogen wird. Zwar führt die Aufhebung kapitalistischer Klassenverhältnisse nicht automatisch zu einer Überwindung von zum Beispiel Rassismus oder Sexismus. Grundlegend dafür, dass die Kapitalseite nicht mehr aktiv von der selektiven Abwertung von Arbeitsvermögen und der Spaltung der Arbeiter:innenklasse profitieren kann, bleibt aber dennoch der Kampf gegen die vorherrschende klassenspezifische Ungleichheit.
Übertragen auf den Kampf gegen Überausbeutung bedeutet dies, dass nicht nur die Bedingungen in der Produktionssphäre im Fokus von kollektiven Organisierungsversuchen stehen sollten, sondern auch die gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Rahmenbedingungen der Reproduktion. Die Interessen überausgebeuteter Erntehelfer:innen in Südeuropa beschränken sich häufig nicht allein auf höhere Löhne und mehr Freizeit, ebenso können Forderungen nach mehr politischen Rechten, besseren Wohnverhältnissen oder einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung Bestandteil geteilter Interessenslagen sein. Diese Forderungen berühren sowohl die Bedingungen in der Produktions- als auch Reproduktionssphäre. Für eine politische Praxis bedeutet dies, die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen sich übeausgebeutete Arbeitskräfte reproduzieren, in den Blick zu nehmen und davon abgeleitete Interessen zutage zu fördern, um sie als Ausgangspunkt für kollektive Organisierungsprozesse zu nehmen.
Hierfür bedarf es auch einer Verbindung von „klassischeren“ und „unkoventionellen“ Methoden der Organisierung entlang von Konflikten um die Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Beziehen Interessensvertreter:innen die häufig unsichtbaren alltäglichen Widerstandspraxen subalterner Arbeitskräfte in ihre Arbeit mit ein und nutzen sie die informellen sozialen Netzwerke der Arbeiter:innen, kann dies ein Handlungsfeld zum Aufbau kollektiver Gegenmacht eröffnen. Organisierungsbestrebungen müssen dabei generell darauf abzielen, eine solidarisierende Wirkung zwischen den verschiedenen Segmenten und Fraktionen der Arbeiter:innenklasse zu erzeugen. Auch hier zeigt sich, wie wichtig es ist, sich mit dem Zusammenhang von Ausbeutungs- und Überausbeutungsverhältnissen analytisch auseinanderzusetzen. Denn ein primär moralisches Verständnis von Überausbeutung birgt die Gefahr, den historisch-spezifischen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit fälschlicherweise auf das Verhältnis von Ausgebeuteten und Überausgebeuteten zu übertragen. Denn es sind nicht die Fachkräfte, die bei VW zu guten Löhnen und Arbeitsbedingungen für die Überausbeutung von Landarbeiter:innen in Lateinamerika oder anderen Weltregionen verantwortlich sind.
Neben der Forderung gleicher Lohn für gleiche Arbeit, muss es zudem um mehr Mit- und Selbstbestimmung im Betrieb und darüber hinaus gehen. Das kann mit Blick auf Überausbeutungsverhältnisse je nach politischem Kontext auch bedeuten, die Abschaffung von Leiharbeit und Werkverträgen, die Verhinderung von Produktionsauslagerungen, die Aufwertung von vermeintlich geringqualifizierter Arbeit, ein radikales Vorgehen gegen Union Busting, ein allgemeingültiges Recht auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft und eine Stärkung der Repräsentation von vulnerablen Arbeitssegmenten im Betriebsrat zu fordern. Letztlich wäre auch zu diskutieren, inwiefern Kämpfe, die sich sowohl auf die Produktions- als auch auf Reproduktionsebene sowie gegen die rechtliche Konstruktion spezifischer Arbeitsverhältnisse richten, nicht sogar einen politischen Streik erfordern.
Hin zu einer marxistischen Begriffs(weiter-)entwicklung
Resümierend lässt sich festhalten, dass Überausbeutungsverhältnisse nicht nur eine reale Möglichkeit oder Tendenz in der allgemeinen Bewegung des Kapitals darstellt, sondern eine strukturell begründbare und empirisch beobachtbare Tatsache. Dass der Kapitalismus Überausbeutungsverhältnisse zwingend hervorbringen muss, ist zwar zu bezweifeln, jedoch stellen sie bis in die Gegenwart einen mächtigen Hebel zur Durchsetzung der Kapitalakkumulation dar. Als Resultat der globalen Arbeits(ungleichver-)teilung, der Notwendigkeit importierte Lebensmittel und/oder Konsumgüter künstlich zu verbilligen oder die Marktmacht von Unternehmen abzusichern – überall hier kann die (gewaltsame) Herabsetzung von Löhnen unter ein gewisses Mindestniveau und die grenzenlose Auspressung von Arbeitskraft Mittel zum Zweck werden.
Während jede dritte Frau, die in der Bundesrepublik 40 Jahre in Vollzeit gearbeitet hat, im Alter nicht genug zum Leben haben wird, legte die Osterweiterung Europas den Grundstein für die systematische Schlechterbezahllung und -behandlung osteuropäischer Beschäftigter – wie sich diese Situation zukünftig im Hinblick auf die Eingliederung ukrainischer Geflüchteter entwickeln wird, lässt sich dabei nur erahnen. In Argentinien erreicht die Inflation gerade ein Ausmaß, das die mittleren Einkommensklassen rasant zusammenschmelzen lässt. Immer mehr Arbeiter:innen müssen ihren Lebensmittelkonsum einschränken. Auch in Deutschland frißt die Inflation in weiten Teilen der Bevölkerung über Jahre hinweg hart erarbeitete Ersparnisse auf, die nun fürs Heizen und die Stromversorgung aufgewendet werden müssen. Auch wenn hier (noch) nicht von überausbeuterischen Arbeitsverhältnissen gesprochen werden kann, muss doch festgestellt werden, dass weite Teile der lohnabhängigen Bevölkerung in beiden Staaten immer weiter in ihrer Reproduktion eingeschränkt werden, während große Unternehmen immense Gewinne verzeichnen. Es bleibt daher abzuwarten, ob die überausbeuterischen Arbeitsverhältnisse der Peripherie auch in den westlichen Kernindustrieländern immer mehr zur Verallgemeinerung drängen, wie ein Teilstrang in der marxistsichen Debatte bereits in den 1970er Jahren argumentierte.
Literatur
Jaffe, Aaron (2020): Social Reproduction Theory and the Socialist Horizon. Work, Power and Political Strategy. London, Pluto Press. Marini, Ruy Mauro (1974): Dialektik der Abhängigkeit. In: Senghaas, Dieter (Hg.): Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 98-136. Nöggerath, Esther (2021): 1000 Mitarbeiter von Spargelanbauer in Kirchdorf in Quarantäne. Weserkurier, 30.04.2021. Online einsehbar hier.
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Janina Puder ist studierte Soziologin. Sie hat lange Zeit in Jena gearbeitet und ist seit 2022 an der Universität Duisburg-Essen beschäftigt. Wissenschaftlich wie politisch setzt sie sich unter anderem mit Fragen der Ausbeutung von Arbeit, Arbeitsmigration, Politischer Ökonomie, Kapitalismuskritik, Klassentheorie und sozial-ökologischen Transformationsprozessen auseinander. Im Rahmen ihrer Dissertation hat sie zur Überausbeutung migrantischer Palmölarbeiter:innen in Südostasien geforscht.