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Ausbeutung Ausgabe Nr. 67, 11. April 2023

Ausbeutung © Johanna Bröse

Gemeinhin ist die Annahme verbreitet, dass nur Menschen ausgebeutet werden, die einen unzureichenden Lohn erhalten, unter menschenunwürdigen, gewaltförmigen Bedingungen arbeiten oder in unzulässige Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen werden. Ausbeutung steht hier für eine Abweichung, die es – mit Blick auf ihre krassesten Auswüchse, wie Sweatshops oder moderne Sklaverei – vorrangig an den Werkbänken des globalen Südens oder auf den Baustellen Katars zu bekämpfen gilt. Aber bereits Karl Marx machte einen weiter reichenden Ausbeutungsbegriff stark: Ausbeutung ist der Normalzustand der kapitalistischen Produktion.

Marx-Leser:innen wissen: Arbeiter:innen produzieren mehr Wert, als ihnen von den Kapitalist:innen als Lohn für die Verausgabung ihrer Arbeitskraft ausgezahlt wird. Dieses Plus, das den Arbeiter:innen vorenthalten bleibt, streichen die Kapitalist:innen als sogenannten Mehrwert ein. Der Zwangscharakter jeder Form kapitalistischer Arbeit steht für Marx außer Frage. Jenseits aller moralischer Empörung und Regulierungspostulate brauchen wir also ein Verständnis von Ausbeutung, das zeigt, dass die kapitalistische Produktionsweise keine „freie“ Arbeit zulässt: Lohnarbeit im Kapitalismus ist strukturell betrachtet immer Lohnsklaverei.

Die gesamte Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte der Ausbeutung. Sie ist daher ein zentraler Begriff linker Theorie und Praxis. Einerseits, um den Kapitalismus und seine Entwicklungsdynamik auf theoretischer Ebene zu verstehen; andererseits, um auf praktischer Ebene über Mittel und Wege seiner Überwindung diskutieren zu können. Denn: Will man Ausbeutung abschaffen, muss man den Kapitalismus überwinden.

Die verschiedenen Dimensionen der Ausbeutung müssen dabei notwendigerweise global gedacht werden: Von der Ausbeutung von Menschen durch Menschen hin zur (neo)kolonialen Ausbeutung globaler Peripherien durch Staaten und Unternehmen bis hin zur Naturausbeutung, welche uns gegenwärtig immer näher an den Rand des Klimakollapses bringt. Auch nach dem formalen Ende von Kolonialherrschaften wurden die kolonialen und ausbeuterischen Infrastrukturen nicht aufgebrochen und wirken bis heute fort. Was gemeinhin als Integration in den Weltmarkt bezeichnet wird, erweist sich für viele vormals Kolonisierte als Selbstbedienungsladen für ehemalige Kolonialmächte. In Ländern des globalen Südens reproduzieren sich zudem ausbeuterische Dynamiken und führen beispielsweise zur Unterschichtung der Arbeiter:innenklasse, etwa, indem für viele wirtschaftliche Bereiche noch stärker unterbezahlte Arbeiter:innen aus Nachbar- und Drittstaaten angeheuert werden. Die Industrie zeigt eine hohe Flexibiltät in der Standortwahl auf der Suche nach den billigsten Arbeitskräften, so errichtet man beispielsweise Datenfarm-Fabriken in Refugee-Camps. Das kann man sich dann sogar als „Entwicklungshilfe“ auf die Fahne schreiben. Und in ihrer digitalen Erscheinung kann die Ausbeutung inzwischen sogar auf geografische Nähe verzichten. Datenbanken lassen sich auch gänzlich remote füttern.

Doch solange es Ausbeutung von Menschen gibt, solange formiert sich auch Widerstand dagegen. In dieser Ausgabe betrachten wir nicht nur den Begriff und Dimensionen der Ausbeutung in ihrer Vielschichtigkeit und kolonialen Kontinuitäten, sondern auch die Kontinuitäten des Kampfes. Wir fragen: Durch welche Ideologien und materiellen Bedingungen wird es beispielsweise möglich, das Arbeitsvermögen bestimmter Gruppen von Arbeiter:innen (z.B. weibliche oder migrantische Arbeitskräfte) gegenüber anderen abzuwerten? Welche Spaltungsdynamiken in der Arbeiter:innenklasse kann dies nach sich ziehen? Inwiefern werden diese Kämpfe als Klassenkämpfe ausgetragen und unter welchen Umständen ändern sie ihren Charakter? Und auch: Aus welchen Kämpfen der Vergangenheit lassen sich Strategien gegen die Ausbeutung von heute entwickeln?

Unsere nächste Ausgabe (#68) erscheint dann im Juli. Sie beschäftigt sich mit dem wichtigen und nicht einfachen Thema „Erwachsen werden“ in heutigen Zeiten – zwischen pädagogischen und gesellschaftlichen Ansprüchen und der Erwartung eines krisenhaften Lebens.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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