Kapitalismus - jetzt mit gutem Gewissen! Ausgabe Nr. 54, 14. Januar 2020
Ökologische Krise, ökonomische Krise, politische Krisen. Die Welt scheint sich auf den Abgrund zuzubewegen. Für manche sind wir kurz davor, für andere ist es fünf nach zwölf. Eins ist immer deutlicher spürbar: Die Sorge um diesen Planeten und unsere Lebensgrundlage. So kann es nicht weitergehen, es besteht dringender Handlungsbedarf. Nur wie retten wir die Welt? Wie helfen wir denen, für die die Auswirkungen der Krisen schon längst Realität geworden sind?
Weltverbessern ist die Mode schlechthin geworden. Innovative Ideen und Konzepte haben Hochkonjunktur. Von Supermärkten, die Plastiktüten aus dem Sortiment verbannen über städtische carsharing-Lösungen hin zu zero-waste-Bewegungen. In sozialen Netzwerken, Medien, in WG-Küchen, in der Schule, auf dem Buchmarkt: Überall werden eifrig Ideen produziert, wie wir uns und den Planeten weniger belasten. Große Technologieunternehmen stehen dem in nichts nach und liefern am Fließband neue Produkte, die uns helfen, besser zu sein. Wer richtig konsumiert, trägt seinen Teil bei zur Rettung der Welt. Nicht nur, dass hiermit neue Märkte geschaffen werden für Produzenten, diese Konsumideologie lässt auch völlig außer Acht, dass man sich „bewusstes“, „faires“ und „umweltfreundliches“ Leben leisten können muss. Mal ganz davon abgesehen, dass bewusstes Konsumverhalten im einstelligen Prozentbereich etwas zur Verbesserung der Welt beiträgt, werden hier Klassenunterschiede ideologisch untermauert: Die „Selbstlosen“ versus die „Desinteressierten“. Indes macht sich ein neuer Trend bemerkbar: effective altruism. Datenbasiert und algorithmisch berechnet kann ich mir aussuchen, wo mein Gutes-für-die-Welt-tun die effizientesten Auswirkungen hat, die meisten Leben rettet, am besten investiert ist.
Das Objekt der Lösung aller Probleme ist immer das gleiche: das Individuum. Unangetastet bleibt der Kapitalismus als Produzent der Misere. Im ganzen Kratzen an der Oberfläche werden die Wurzeln der Krise, der Ungleichheiten und der Bedrohungen nicht freigelegt. So bleibt unser Helferkomplex in der ideologischen Nische des Neoliberalismus gefangen. Auf das Individuum kommt es an, die Gesellschaft gibt es nicht. Soziale Lösungen? Fehlanzeige. Leider, und das ist gefährlich, sind auch linke Debatten von diesen Hilfsansätzen durchzogen und lassen mehr und mehr radikale Ansätze hinter kurzsichtigen Konzepten zurück. Mit dieser Ausgabe wollen wir dem entgegenwirken.
In der Ausgabe #55 von kritisch-lesen.de wenden wir uns den Transformationen zu, die in den letzten Jahrzehnten in Industrie und Arbeitswelt auf globaler Ebene zu beobachten waren und fragen, was mit einer Gesellschaft passiert, die gleichermaßen vernetzt wie gespalten ist.
Ein großes Dankeschön möchten wir noch loswerden an alle, die kritisch-lesen.de mit regelmäßigen oder einmaligen Spenden unterstützen. Wir freuen uns sehr darüber!
Und nun viel Spaß beim kritischen Lesen!