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Steigbügel des deutschen Imperialismus

Buchautor_innen
Abdulmajeed Al Haj Ali
Buchtitel
Die Orientfrage in der deutschen Außenpolitik von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg
Eine Studie untersucht, wie „der Orient“ dem Kaiserreich zum Aufstieg verhalf.

Zur Geschichte der deutschen Nahostpolitik wurde bereits einiges geschrieben. Häufig liegt der Fokus dabei auf der legendären Bagdadbahn oder dem deutsch-osmanischen Bündnis im Ersten Weltkrieg. In den letzten Jahren wurde zudem die sogenannte Araber- und Islam-Politik der Nazis vermehrt unter die Lupe genommen. Das Buch von Abdulmajeed Al Haj Ali legt dagegen den Schwerpunkt auf die Jahre 1871 bis 1914 – von der deutschen Reichsgründung bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Sezieren am lebenden Objekt

Al Haj Ali beginnt mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs im 19. Jahrhundert, bei dem die europäischen Großmächte ordentlich Hand anlegten. Zwar erhielt der „kranke Mann am Bosporus“, wie das Osmanische Reich auch genannt wurde, erst Ende des Ersten Weltkriegs den Todesstoß. Allerdings rissen sich die anderen Imperien bereits in den 1870er und 80er Jahren europäische und nordafrikanische Gebiete der Osmanen unter den Nagel. Zugleich verschuldete sich Konstantinopel zunehmend bei eben diesen Staaten, die gerne mit Finanzspritzen aushalfen – bis sich das Reich nach einer Überdosis schließlich 1881 einer europäische Haushaltsverwaltung unterordnen musste.

Der „neuralgische Punkt im Zerfallsprozess des Osmanischen Reiches“ (S. 6) aber war der Balkan. Die europäischen Mächte schnitten in wenigen Jahren fast ganz Südosteuropa Stück für Stück aus dem osmanischen Herrschaftsgebiet heraus, indem sie nationale Aufstände in der Region nach Gutdünken unterstützten. Der Leichnam wurde somit gefleddert, noch bevor der Patient tot war. Da vor allem aber Russland, Österreich-Ungarn und Großbritannien in Konkurrenz zu einander standen, entwickelte sich der Balkan auch zum Austragungsort dieser Gegensätze. Sie alle versuchten, die neu entstehenden Staaten entweder unter ihre Kontrolle zu bringen oder aber ihre Unabhängigkeit zu verhindern. Die oft blutigen Konflikte wurden dabei, abgesehen von einzelnen direkten Zusammenstößen zwischen den Mächten, vor allem auf dem Rücken der kleinen Völker ausgetragen.

Balanceakt im „Orient“

Reichskanzler Otto von Bismarck gelang es zunächst, den jungen deutschen Staat als Vermittler zwischen den Mächten zu inszenieren, der vermeintlich keine eigenen Interessen in der Region verfolgte. Wie Al Haj Ali aber überzeugend darlegt, diente die sogenannte „Orientfrage“ der Pendelpolitik Bismarcks zwischen Russland und Großbritannien. Diese bestand darin, den Erbfeind Frankreich zu isolieren und zugleich zu versuchen, sich sowohl mit Großbritannien als auch mit Russland gut zu stellen, was angesichts der beständig wechselnden und einander widersprechenden Interessen viel Taktiererei und Geheimdiplomatie erforderte. So nutzte der Reichskanzler die Spannungen zwischen den Mächten nicht nur, er feuerte sie wenn nötig auch an, sodass „in deren ‚totem Winkel’ Deutschland zu einer bestimmenden, schließlich gar zur Kolonialmacht aufsteigen konnte.“ (S. 39)

Überdies geriet der Nahe Osten zunehmend in den geo- und bündnispolitischen, vor allem aber in den wirtschaftlichen Fokus des Kaiserreichs. Deutsche Offiziere sollten den osmanischen Truppen preußische Disziplin beibringen. Mit ihnen kamen gleich auch deutsche Waffen und weitere Industriegüter. Der Autor zeichnet detailliert nach, wie Bismarck die Balance zwischen seiner außenpolitischen Strategie und den deutschen Wirtschaftsinteressen zu halten versucht: Auf der einen Seite will er es sich nicht mit den anderen Mächten verscherzen, auf der anderen drängt die deutsche Wirtschaft immer mehr auf Export.

Das provokante Bagdadbahnprojekt lehnte er persönlich ab, musste ihm jedoch trotzdem grünes Licht geben. Schließlich wurde Bismarcks Politik zum Hemmschuh für das deutsche Großkapital. Wie das Buch zeigt, galt dies gerade in Bezug auf den Nahen Osten. Nach Bismarcks Sturz meldete Kaiser Wilhelm der II. auf seiner Orientreise 1898 persönlich die deutschen Ambitionen in der Region an. Es folgten die Marokko-Krisen 1904 bis 1906 und 1911. Parallel wuchsen die deutsch-osmanischen Wirtschafts- und Militärverflechtungen weiter.

Freunde, Partner, Imperialisten …

Al Haj Ali legt in seinem Buch einen besonderen Fokus auf den ökonomischen Aspekt in der deutschen „Orientpolitik“. Das Osmanische Herrschaftsgebiet wird in den 1880er-Jahren Absatzmarkt für Industrieprodukte aus dem Kaiserreich und hielt umgekehrt als Rohstofflieferant her. Ein klassisch koloniales Verhältnis. Merkwürdigerweise sieht der Autor das anders. Während er Bismarck als falschen Freund der Türkei mit eigenen Machtinteressen entlarvt und die Türkei als „Labor deutscher Außenpolitik“ (S. 178) bezeichnet, heißt es an anderer Stelle: „Die eigentlich imperialistische Politik wird also in Paris und London, nicht aber in Berlin betrieben.“ (S. 173) Diese merkwürdige Unterscheidung stützt sich auf die Strategie der deutschen Führung, das Osmanische Reich als Entwicklungsland zum abhängigen Handelspartner und zugleich zum militärischen Vasallen zu machen. Damit erteilt er den zuvor angeführten Theorien W. I. Lenins, Rosa Luxemburgs und Joseph Schumpeters eine Absage, wonach Imperialismus strukturell zu fassen sei und sich nicht erst in Krieg und Gebietsansprüchen ausdrücke. Schon zuvor definiert er den Imperialismus nach Heinrich Friedjung als „den Drang der Völker und der Machthaber nach einem wachsenden Anteil an der Weltherrschaft.“ (S. 40)

Neben diesen Begriffsverwirrungen stolpert man als Leser*in zudem hin und wieder über veraltete Ausdrücke wie „moslemisch“ (S. 69) und „mohammedanisch“ (S. 21, 65). Da es sich um eine Dissertation handelt, kommt das Buch sprachlich und dem Aufbau nach sehr akademisch daher. Auch werden gewisse Vorkenntnisse zur europäischen Geschichte im 19. Jahrhundert, insbesondere zu internationalen Mächteverhältnissen und zum Balkan vorausgesetzt. Ist dies gegeben, liest man Al Haj Alis Buch allerdings mit Gewinn. Zwar dürfte die abschließende Erkenntnis des Autors, dass die Wirtschaft die treibende Kraft deutscher Außenpolitik gewesen sei, wenig überraschen. Um aber diese Wahrheit konkret benennen zu können, braucht es Bücher, die Fakten zusammentragen und auswerten. Al Hat Ali tut dies insbesondere an den Stellen, an denen er die wirtschaftlichen Dimensionen und Dynamiken anhand von Zahlen und politisch-ökonomischen Seilschaften hervorhebt.

Abdulmajeed Al Haj Ali 2019:
Die Orientfrage in der deutschen Außenpolitik von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg.
LIT-Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-643-13898-9.
200 Seiten. 34,90 Euro.
Zitathinweis: Leon Wystrychowski: Steigbügel des deutschen Imperialismus. Erschienen in: Kapitalismus - jetzt mit gutem Gewissen!. 54/ 2020. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1586. Abgerufen am: 27. 04. 2024 15:35.

Zum Buch
Abdulmajeed Al Haj Ali 2019:
Die Orientfrage in der deutschen Außenpolitik von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg.
LIT-Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-643-13898-9.
200 Seiten. 34,90 Euro.