Die Partei hat einen Plan
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- Felix Wemheuer
- Buchtitel
- Chinas große Umwälzung
- Buchuntertitel
- Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem
Von Mao bis Xi im Zeitraffer oder Chinas Aufstieg zur weltweit größten Volkswirtschaft.
In seinem neuen Buch will Felix Wemheuer Konturen und Linien im Kontext der Entwicklungen von Globalisierung, Entkolonialisierung, Kaltem Krieg und neoliberalem Kapitalismus sichtbar machen – ausdrücklich als einen „Anfang“, um „die Diskussion an[zu]regen.“ (S. 13) Es geht um die Fragen: Was kennzeichnet die moderne chinesische Gesellschaft? Wird China das Weltsystem grundlegend ändern oder selbst zu einem neuen kapitalistischen Zentrum aufsteigen?
Rückständigkeit zu überwinden, den Westen ökonomisch einzuholen, schließlich den historischen Anspruch vom „Reich der Mitte“ in der Gegenwart erneut zu realisieren, kennzeichnen den einen Plan der chinesischen Führung, seit die Kommunistische Partei (KPCh) am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik gründete. In immer wieder neuen Anläufen mit einer von radikalen Reformen bestimmten Innenpolitik machte sich die Partei daran, China quasi im Schnelldurchlauf von einer Agrargesellschaft zu einer führenden Hochtechnologienation zu entwickeln [Mehr dazu in unserer Ausgabe # #49 zu China]. Mit Erfolg: Das Mitte des vorigen Jahrhunderts überwiegend agrarisch geprägte Land ist inzwischen die größte Volkswirtschaft der Welt. Der Großteil der Bevölkerung lebt heute in stetig wachsenden urbanen Ballungszentren. Das bedeutet nicht nur für die chinesische Gesellschaft eine grundlegende Herausforderung, sondern auch für das internationale Machtgefüge.
Chinas Kalkül und die globale Welt
Der Anspruch Wemheuers – die innenpolitischen Entwicklungen einzuschätzen und zugleich ihre globalen Auswirkungen im Blick zu haben – spiegelt sich im Aufbau des Buches wider. Der erste Teil handelt von Chinas „Aufstieg im Weltsystem“, der zweite vom „sozialen Wandel der Gesellschaft und [ihrer] Konflikte“.
Analytisches Rüstzeug des Autors sind Marx’ Analyse des „Kapitalismus“ und die „Weltsystemtheorie“ des Kapitalismus- und Globalisierungskritikers Immanuel Wallerstein. Den globalen Zusammenhang entdeckt Wemheuer etwa in der Gleichzeitigkeit von Privatisierungen in einigen Teilen Chinas sowie der Bundesrepublik, in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen, kolonialen Befreiungsbewegungen und in dem von Umbrüchen und Verwerfungen geprägten Verhältnis zu den Supermächten USA und der Sowjetunion.
Wemheuer zeigt auf, wie die sozialistischen Staaten in ökonomischer Hinsicht gegenüber dem kapitalistischen Westen ins Hintertreffen gerieten und die Solidarität zwischen sozialistischen Bruderstaaten allmählich erodierte. Während die UdSSR zunehmend an revolutionärer Integrationskraft einbüßte und es der KPdSU nicht gelang, durch entsprechende Umgestaltungen ihre Macht nachhaltig zu sichern, vollzog die KPCh gegen Ende der 1970er Jahre grundlegende Reformen, in deren Folge sich die Volksrepublik vom Status der „Werkbank“ der Welt rasant zur neuen technologischen Supermacht entwickelte. Der Autor beschreibt dabei das Handeln der KPCh als planvoll und kalkuliert und unterstreicht ihre Lernfähigkeit angesichts des Scheiterns der Sowjetunion: Man beobachtete die Entwicklungen dort genau und entschied sich deshalb dazu, den eigenen Markt für westliches Kapital zu öffnen. Als Partner und Konkurrent der USA sollte zum einen die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft vorangetrieben werden, zum anderen wertvolles technologisches Wissen gewonnen werden, um selbst bedeutender Standort für die Produktion und Entwicklung von Hochtechnologie zu werden. Wemheuer gelingt es dabei, immer wieder die großen Linien des nach Plan ablaufenden Aufstiegs der Volksrepublik und der Wendepunkte in der Politik der KPCh auch als Wechselwirkung mit den globalen Entwicklungen aufzuzeigen.
So konstatiert er für die Jahre vor 1989 eine gewisse Liberalisierung der chinesischen Gesellschaft und verweist auf „die transnationale und ideologische Bandbreite und Offenheit, mit der im China der 1980er-Jahre über den weiteren Weg der Reformen diskutiert wurde.“ (S. 103) Die Ereignisse des Jahres 1989 bedeuteten demgegenüber einen klaren Bruch. Die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz unter Verhängung des Kriegsrechts beschreibt er als Triumph der Hardliner, die unter keinen Umständen ihre Macht einbüßen wollten, damit die Volksrepublik nicht das gleiche Schicksal wie die Sowjetunion ereile.
Staatskapitalismus und Macht
Im zweiten Teil seines Buches widmet sich Wemheuer dem Wandel der chinesischen Gesellschaft seit der Machtübernahme durch die KPCh. Dabei betrachtet er unter anderem den Staatskapitalismus und die Entwicklung einer „neuen Klasse“ von Privatkapitalist*innen. Das vierte Kapitel ist eine Zusammenfassung der ebenfalls 2019 erschienenen Monographie „A Social History of Maoist China“. Dem Ansatz des Intersektionalismus folgend, charakterisiert der Autor die Mao-Ära als „semi-sozialistische Gesellschaft“, welche die Eliten und Strukturen der prärevolutionären Gesellschaft zerschlug und mit der „Kulturrevolution“ trotz aller „Gewalt und Radikalität“ nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass der „Umwälzung der Gesellschaft im Sinne einer Modernisierung sowie Aufbau des Sozialismus“ (S. 174) Grenzen gesetzt waren. Erst die Reformperiode und die damit verbundene Öffnung für den Weltmarkt führten zu einer Modernisierung der Gesellschaft, ohne aber eine (westliche) Liberalisierung nach sich zu ziehen.
Dennoch haben Strukturmerkmale der Mao-Ära bis heute einen nachhaltigen Effekt auf die Gesellschaft. Im Gegensatz zur Sowjetunion war in China die Planung weniger stark zentralisiert und es wurde lokalen Behörden mehr Eigeninitiative bei der Verwendung von Steuergeldern zugesprochen, die somit selbst zu wirtschaftlichen Akteur*innen wurden. So kam es zu einer Verschränkung von wirtschaftlicher und politischer Macht, die mit der ökonomischen Liberalisierung seit der Reformära zu einem einzigartigen Wachstum führte, aber auch die Korruption in erheblichem Maße ansteigen ließ.
Bis heute entscheiden Parteiränge über gesellschaftlichen Status und damit einhergehende Privilegien. Inzwischen geht man von Seiten des Zentralkomitees gegen diese Form der Schattenwirtschaft vor. Die „Staatsklasse“ als einflussreichste gesellschaftliche Macht ist das korrupte System, welches sich mittels Anti-Korruptionskampagnen gegenüber der Öffentlichkeit in ein gutes Licht zu stellen sucht (in den Jahren zwischen 2012 und 2016 waren über 1,1 Millionen Personen von dieser Kampagne betroffen). Nach Wemheuer werden es vor allem jene Kampagnen sein, die über die Zukunft der Volksrepublik entscheiden. Die Frage wird sein, ob es der Partei gelingt, ihre oligarchischen Strukturen zu bereinigen, ohne dabei an eigener Macht und gesellschaftlicher Legitimation einzubüßen.
Und die Neue Seidenstraße?
Felix Wemheuer stellt mit seiner Monographie eine lesbare Einführung zum Verständnis der Geschichte der Volksrepublik bereit. Das begriffliche Werkzeug, inspiriert von Marx und Wallerstein, ermöglicht es, die globalen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas einzuordnen und das gegenwärtige Handeln der KPCh nachzuvollziehen. Was dabei etwas außen vor bleibt, sind zum Beispiel die „One Belt, One Road“-Initiativen Chinas zum Aufbau interkontinentaler Handels- und Infrastrukturnetze. Während die Rhetorik der KPCh bei diesem Projekt auf eine gemeinsame Entwicklung des weltweiten Handels und einer Hilfe zur Selbsthilfe hinweist (insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent), tritt die Volksrepublik als eine eigentlich neokoloniale Akteurin auf, die sich mit Krediten in dreistelliger Milliardenhöhe den Zugriff auf die Rohstoffmärkte zu sichern sucht. Trotz der umfangreichen Analyse des gegenwärtigen „Weltsystems“ lässt der Autor damit die Frage offen, wie sich diese Initiative auf das globale Machtgefüge auswirken wird.
Außerdem geht er auch der Frage nach einer emanzipatorischen Perspektive aus dem Weg, die über eine Kritik der Situation der Menschenrechte in der Volksrepublik hinausreichen würde. Die KPCh hat sich zwar nie der „christlich-abendländischen“ Menschenrechtsidee verpflichtet gefühlt, sondern sieht sie immer auch von den jeweiligen „Denkweisen“ eines Landes abhängig. So wäre es aber interessant zu untersuchen, welcher Zweck jenseits der Machterhaltung hinter dem einzigartigen gesellschaftspolitischen Experiment der geplanten flächendeckenden Überwachung und des Sozialkreditsystems auszumachen ist. Denn mit seiner zunehmenden Hegemonie wird der „Sozialismus chinesischer Prägung“ auch Auswirkungen auf das Leben in den einstigen Metropolen haben. Damit bleibt zu hoffen, dass durch Wemheuers Monographie eine Debatte angestoßen wird, die China als einen globalen Akteur ernst nimmt und über die Situation der Menschenrechte hinausweist.
Chinas große Umwälzung. Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem.
PapyRossa, Köln.
ISBN: 978-3-89438-676-4.
271 Seiten. 16,90 Euro.