Erinnern von unten Ausgabe Nr. 66, 17. Januar 2023
Neues Jahr, neues Glück? Wir lenken zum Jahreswechsel noch einmal den Blick zurück in die Vergangenheit. Mit der ersten Ausgabe 2023 stellen wir die Frage, wer, in welcher Form und an was erinnern darf.
Im letzten Jahr verging kaum eine Woche ohne teils hitzige öffentliche Debatten über rassistische und antisemitische Skandale. Zugleich wurden damit auch Fragen nach den Folgen und Kontinuitäten kolonialer beziehungsweise imperialer Herrschaft und nach dem richtigen Umgang mit der Aufarbeitung von Vergangenem in der deutschen Medienlandschaft verhandelt. Das wohl prominenteste Beispiel: Auf der Documenta 15 in Kassel stellte das indonesische Künstler*innenkollektiv ruangrupa ein Kunstwerk des indonesischen Kollektivs Taring Padi aus, indem die Schrecken, aber auch die internationalen Verknüpfungen der indonesischen Militärdiktatur aufgearbeitet werden. Auf dem Banner, so wurde wochenlang landauf-landab diskutiert, hantierte das Kollektiv dabei mit antisemitischen Bildelementen. Ebenso musste sich der palästinensische Künstler Mohammed al-Hawajri dem Antisemitismusvorwurf für sein Werk Guernica Gaza stellen. Beides Werke, die auf künstlerischer Ebene Erinnerungspolitik verhandeln.
Ohne tiefer auf die Verläufe der Debatten einzugehen (hierzu gibt es sehr detaillierte Veröffentlichungen der Kunstschaffenden selbst und weiterer kritischer Beobachter*innen), zeigt sich daran, wie eingespielt öffentliche Empörungen in Deutschland verlaufen. Der liberale und der konservative Mainstream ist sich ganz grundlegend einig über die Form der Erinnerungskultur – so sehr, dass sie Teil der Staatsräson ist.
Dieses Grundverständnis birgt jedoch eine gefährliche Selbsttäuschung. Eike Geisel brachte es mit seinem bitteren Bonmot der „Wiedergutwerdung der Deutschen“ auf den Punkt: Endlich kann man wieder ruhigen Gewissens Deutsche*r sein, schließlich habe man aus der Geschichte gelernt und weiß nun, wie man es besser macht. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, diesen Konsens zu hinterfragen. Diese bundesdeutsche Mainstream-Erinnerungskultur hat vor allem die Beruhigung der Täterperspektive zum Ziel. Erinnerungspolitik wird als Zustand verstanden und nicht als – langwieriger, schmerzhafter, widersprüchlicher, empowernder – Prozess.
Zudem sind Erinnerungspolitiken oft begrenzt auf die Erzählungen hegemonialer Kräfte. Wie schwer der Kampf ums Erinnern ist, zeigt sich beispielsweise beim Gedenken an Opfer rechter Gewalt. Dieser Kampf muss von den Angehörigen und politischen Initiativen immer und immer wieder geführt werden; auch, weil die prägenden medialen Diskurse oft um die Täter*innen und nicht um die Opfer kreisen. Ausnahmen gibt es dennoch: So konnte beispielsweise die Initiative 19. Februar, die nach dem rassistischen und rechtsextremen Anschlag in Hanau gegründet wurde, mit ihrer Kampagne #saytheirnames eine notwendige und lange überfällige Form des Erinnerns einfordern: eine, die sich der Erzählung von oben widersetzt, die Betroffenen und Opfer in den Fokus rückt und die öffentliche Debatte auf die politischen Forderungen der Angehörigen lenkt. Über diese Kämpfe berichtet auch Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln, in unserem Interview.
Es geht um Erinnerungsarbeit, die sich ergänzen und überlagern, die aber nicht darauf abzielen darf, sich gegenseitig auszustechen. Gerade das Erinnern von unten, wie etwa Erinnerungen an rechte und rassistische Gewalt, an minoritäre Solidaritäten und antifaschistische Kämpfe, Erinnerungen an internationalistische Konzepte wie den Pan-Afrikanismus, Erinnerungen aus der Diaspora oder Süd-Süd-Erinnerungen ermöglichen politische Zukunftsperspektiven und Ermächtigungsstrategien, die sich nicht auf vereinfachende Identitätskonzepte oder nationalistische Framings reduzieren lassen. Erinnern ist eine politische Praxis, die als eine Grundlage und eine Form politischer Kämpfe verstanden werden muss. In dieser Ausgabe geht es daher nicht um rückwärtsgewandte Vergangenheitsbewältigung, sondern vielmehr um den Umgang mit der Zukunft. Wir fragen also: Wie verhält sich also das individuelle Erinnern zum kollektiven? Welche Geschichten werden als wertvoll, als erinnerungswürdig empfunden? Wie sieht ein linkes Erinnern aus, dass an Verteilungs- und Klassenfragen geknüpft ist? Welche utopischen Potenziale birgt das Erinnern?
Diese Ausgabe wurde dankenswerterweise unterstützt durch die Rosa Luxemburg Stiftung – Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.
In unserer April-Ausgabe 2023 wird es um Kontinuitäten ebenso wie neue Gestalten der Ausbeutung gehen.
Viel Spaß beim kritischen Lesen in 2023!