Auf philosophischen Umwegen
- Buchautor_innen
- Theodor W. Adorno
- Buchtitel
- Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen
- Buchuntertitel
- Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Herausgegeben von Rolf Tiedemann
Statt einer Einführung zu Kant nutzt Adorno die Kritik der reinen Vernunft als Vehikel, eigene Gedanken auszuwalzen.
Die Grundlage des vorliegenden Bandes bildet eine Vorlesung über Kant, die Theodor W. Adorno im Sommersemester 1959 in Frankfurt gehalten hat. Diese wurde, wie für die als „Kolleg“ bezeichneten Veranstaltungen des Philosophen und Soziologen seit dem Wintersemester 1957 üblich, mit einem Tonbandgerät aufgenommen. Das Tonband wiederum wurde von einer Mitarbeiterin Adornos abgehört und transkribiert, das Tonband selbst anschließend für das nächste Kolleg wiederverwertet. Dieses Manuskript war dann – nach der Löschung des Tonbands – lange Zeit das einzige schriftliche Zeugnis der Vorlesung, sieht man einmal von den Stichwörtern ab, mit welchen Adorno selbst sich die Eckpunkte seiner ansonsten freien Rede vor dem Kolleg absteckte. Auf der Grundlage dieses Manuskripts editierte Rolf Tiedemann wiederum einen Band, der 1995 – also mehr als 20 Jahre nach dem Tod Adornos – in der gebundenen Reihe „Nachgelassene Schriften – Abteilung IV: Vorlesungen: Band 4“ bei Suhrkamp erschien. Nun 2022, fast fünf Jahre nach dem Tod von Tiedemann, erschien der Band als Taschenbuch. So viel zu den Umwegen der Editionsgeschichte.
Verständnisprobleme
Und als würde sich diese Form auf den Inhalt niederschlagen, geht auch dieser einen Umweg. So formulierte der Herausgeber bereits 1995, dass Adorno in seiner Vorlesung über Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ einen merkwürdigen Schwenker macht. Er stellt seinen Studierenden die Dialektik als Gedankenform vor, „dessen Elemente ich Ihnen an Kant entwickelt habe“ (S. 352), die aber bereits viele Überlegungen seiner späteren „Negativen Dialektik“ vorwegnehmen. Entsprechend stellt der Herausgeber trocken fest: „Deutlicher konnte Adorno nicht sagen, worum es ihm ging; nicht um immanente Auslegung des historischen Kant; er verhandelte vielmehr bei Gelegenheit Kants Fragestellungen der eigenen Philosophie.“ (S. 422) Adorno geht in der Vorlesung also einen Umweg über Kant zurück zu seinen eigenen Überlegungen. Diese Doppelung des Gegenstandes, also die Darstellung von Adornos Philosophie, vermittelt über die Erkenntnistheorie des Aufklärers Kant, mag wohl dafür noch mehr für dafür verantwortlich sein, dass „die Mehrzahl der Studenten durch seinen Vortrag überfordert wurde“ (S. 419), als das „Niveau“ (ebd.) der Vorlesungen selbst, dass Tiedemann ursächlich für die Verständnisprobleme sieht.
Da Adorno über weite Strecken – lediglich durch Kant vermittelt – doch seine eigenen Überlegungen zur Dialektik vorstellt, sollte zuerst einmal vor einem Missverständnis gewarnt werden: Hier liegt keine Einführung in Kants Werk vor, sondern eine Einführung in das Denken Adornos, dargestellt anhand seiner Kantrezeption. Wer sich mit dem Aufklärer und dessen erkenntnistheoretischen Überlegungen beschäftigen möchte, sollte also zu einem anderen Buch greifen. Aber die meisten Leser*innen dürften den Band wohl – wenn überhaupt – genau wegen dessen berühmtem Autor kaufen und lesen, und nicht wegen eines Interesses an dem alten Königsberger. Neben der Prominenz Adornos hat das auch mit Kants Stellung in der Philosophie zu tun: Einerseits kennt ihn jede*r. Andererseits gelten seine Lehren als derart unangefochtene Grundlagen der modernen Philosophie, dass viele seiner Urteile längst zu Kalendersprüchen degradiert wurden. Politiker*innen zitieren den kategorischen Imperativ und Soziolog*innen relativieren jede Kritik damit, dass das Ding-an-sich bekanntlich nicht zu fassen sei. Anders gesagt: Gelesen zu werden, ist gar nicht wichtig für das Funktionieren eines Klassikers im Philosophiebetrieb eines bürgerlichen Staates; er ist Berufungsinstanz.
Welcher Philosoph spricht hier eigentlich?
Das ist auch seine Funktion bei Adorno: Kant dient dem kritischen Philosophen als Instanz zur Beglaubigung und als Anlass für die eigenen Überlegungen. Entsprechen mäandert die Vorlesung zwischen Würdigung des Klassikers und Entwicklung der eigenen Positionen. So ist der Band weder als Einführung zu Kant noch zu Adorno zu empfehlen. Gerade die Urteile des Frankfurters über Erkenntnistheorie und Dialektik sind in seinen „Fragen der Dialektik“ (Rezension in kritisch-lesen.de #64), die vier Jahre später in Frankfurt Gegenstand des Kollegs waren, viel klarer dargelegt.
Haben wir hier also einen unnützen Band vorliegen? Nicht ganz. Dort, wo Adorno Kant ernst und nicht als Sprungbrett für eigene Überlegungen nimmt, finden sich durchaus spannende Hinweise auf die Widersprüche beim Versuch des Königsbergers, Rechenschaft über das Erkenntnisvermögen abzulegen:
„[…] wenn einer auf der einen Seite der Metaphysik vorwirft, daß hier die Vernunft ihr eigener Schüler sein wollte, dann ist natürlich in einem Verfahren, in dem die Vernunft sich zum Kritiker der Vernunft aufwirft, die Vernunft ganz gewiß in einem nicht geringeren Maße ihr eigener Schüler. […] Sie werden, wenn Sie die Metaphorik durchdenken, die hier bei Kant vorliegt, bemerken, daß das ein etwas sonderbarer Gerichtshof ist: nämlich ein Gerichtshof, in dem eigentlich der Richter, der Kläger und der Angeklagte alle drei dieselbe Person sind.“ (S. 86)
Wenn Kant also das Projekt verfolgt, die „vorgehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft“ (Kant 1995, S. 53) durchzuführen, dann leistet er sich eben einen Widerspruch: Wer soll diese Prüfung auch leisten, wenn nicht die Instanz, die geprüft werden soll? Solche kurzen Hinweise sind aber kaum ein Grund, 354 Seiten Adorno über Adorno zu lesen.
Zusätzlich verwendete Literatur
Kant, Immanuel (1995): Kritik der reinen Vernunft. Werke, Band zwei. Köln: Könemann.
Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen. Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Herausgegeben von Rolf Tiedemann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.
ISBN: 978-3-518-29968-5.
440 Seiten. 25,00 Euro.