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Zurückdenken bis in die Zukunft

Buchautor_innen
Widerspruch Redaktionskollektiv
Buchtitel
Widerspruch 79. Beiträge zu sozialistischer Politik
Buchuntertitel
Erinnern für Gegenwart und Zukunft

Eine Schweizer Textsammlung zeigt die Potenziale und Leerstellen sozialistischer Erinnerungskultur.

Die Schweizer Zeitschrift Widerspruch erscheint seit 40 Jahren, mit zwei Heften pro Jahr. Die Jahrgänge sind jeweils zwei Jahre nach Veröffentlichung im Netz frei zugänglich. Inhaltlich bewegt sich die in Deutschland wenig beachtete Zeitschrift stets am Puls der (linken) Zeit. In der vorliegenden Ausgabe widmet sie sich im Schwerpunkt dem virulenten Thema der Erinnerung, verteilt auf 15 Beiträge zu den Themen Erinnern und Geschlecht, Internationales Erinnern, Vielstimmige Erinnerung und Denkmalpolitik sowie linkes Erinnern und Organisation.

Vielfalt der Erinnerung

Die Themenbreite der einzelnen Beiträge ist enorm. Das ist einerseits der große Gewinn der Ausgabe, andererseits lässt es aber offen, inwiefern nicht doch eine Hierarchie der Erinnerung besteht – und eine Beliebigkeit der behandelten Themen zu konstatieren ist. Eine Diskussion findet nicht statt, die Perspektiven stehen additiv nebeneinander. Der kollektive Zusammenhang und die kollektive Bedeutung werden nur implizit deutlich, es gibt nur das Wort Erinnern als roten Faden.

Die Texte sind nicht lang, oftmals sehr persönlich gehalten; sie sind sehr gut lesbar, auf den Punkt genau geschrieben, ohne unnötige, dem akademischen Usus nach Innovationen geschuldete Verkomplizierungen. Sie führen den Leser_innen vor Augen, wie vielschichtig Erinnerung für die Linke sein kann und wie tiefreichend dieses in das alltägliche Erleben eingebunden ist – über das eigene Leben und die eigene Perspektive hinaus. Das wird etwa mit Blick auf die internationalen Bezüge einzelner Beiträge deutlich: Von Femiziden und deren öffentlich-politischer Verdrängung – von Lea Küng am Beispiel der Schweiz expliziert – über den Zusammenhang von Militarismus und Familismus (Gisela Notz) bis hin zur Erinnerungskultur in Rojava und dem dortigen Erinnern an die Gefallenen (Hans-Christian König) und der Frage nach dem, was von 1968 bleiben kann (Kurt Seifert).

Bemerkenswert sind insbesondere die folgenden Beiträge: Dolores Zoé Bertschinger unternimmt einen Spaziergang über den Highgate Cemetery in London und präsentiert auf diesem Wege eine Möglichkeit der feministischen Erinnerungspolitik, indem sie – jenseits vom dort begrabenen Marx – auf die ebenfalls dort ruhende Jenny von Westphalen, auf die Kommunistin Claudia Vera Jones und die feministische Abolitionistin Ernestine L. Rose aufmerksam macht. Es ist reizvoll, einen solchen Spaziergang auch auf hiesigen Friedhöfen durchzuführen – wer weiß, welche Erinnerungen auf diesem Weg zugänglich gemacht werden könnten?

Erinnerung und bürgerlicher Diskurs

Geradezu erschreckend ist die Analyse des schweizerischen Medienechos anlässlich des Frauenstimmrechtsjubiläums von Sophie Bürgi, Joana Burkart und Andrea Maihofer. Sie stellen heraus, dass mehrheitlich kritisiert werde, dass der Fokus zu sehr auf Frauen liege. Medial würde in Frage gestellt, dass es sich überhaupt um Unrecht gehandelt habe, Frauen systematisch aus der Demokratie auszugrenzen. Die schweizerische Erinnerungspolitik wird von den Autor*innen als Beschönigung oder sogar Außer-Achtlassung der realen politischen Prozesse kritisiert. Wendet man den Blick auf aktuelle bundesrepublikanische Diskussionen, werden Parallelen deutlich – man schaue nur auf die diversen Diskussionen zur Identitätspolitik und Geschlechterverhältnisse und -gerechtigkeit. Auch hier werden Zusammenhänge verdeckt und bestritten. Indes ist die linke Erinnerung in den politischen Auseinandersetzungen mehr Beobachterin als voranschreitende Teilnehmerin.

Hans Fässler präsentiert ebenfalls am Beispiel der Schweiz Vorschläge, wie Denkmäler zu überdenken sind. Seine Aufzählung zu Beginn macht deutlich, wie vielfältig das öffentliche Gedenken organisiert ist: Es sind nicht nur die klassischen Denkmäler Thema, es geht auch um Logos, Kirchen, Wappen von Gemeinden, Straßen-, Platz- und Parknamen bis hin zu Schlössern und Haltestellen. Die Vielfalt geht weit über das Alltagsverständnis von Denkmälern hinaus. Seine Ausführungen nehmen Bezug auf die hegemonietheoretischen Gedanken von Antonio Gramsci, der auf die alltägliche Ebene des gesellschaftlichen Deutungskampfes aufmerksam machte, die eben auch Straßenname beinhaltet. Fässler warnt zudem davor, Gedenken ausschließlich in den digitalen Raum zu verlagern: hier drohe die „Illusion der Reichweite“ (S. 100) – Stichwort: wie zu finden im Meer der Internetseiten? – und die Illusion „der Dauer“ – wer wisse schon, wie lange Internetseiten und die dahinterliegende Technik gepflegt würden. Einfach nur irgendwo online zu sein, genügt eben nicht, eine Seite muss auffindbar sein, etwa in einschlägigen Katalogen und Linksammlungen. Zugleich biete Digitalisierung auch die Chance, dass man selbst ohne großen Aufwand für Erinnerung sorgen könne, ohne in die „Welt da draußen“ gehen zu müssen. Gerade das Erinnern von unten lässt sich so organisieren, ohne um den Eintritt in etablierte Formen suchen und erkämpfen zu müssen.

Fallstricke und Lücken der Erinnerung

Sebastian Friedrich skizziert in seinem Beitrag die Fallstricke von Nostalgie. Sie könne zugleich aber auch „Komplizin sein“ dabei, „ein chronologisches Zeitverständnis zu retten“ (S. 122) – und so Hoffnung für eine Zukunft zu geben, die überhaupt erst wieder denkbar wird, jenseits des neoliberal verseuchten Gegenwartsdaseins, das weder Vergangenheit noch eine abweichende Zukunft jenseits der kapitalistischen Ordnung kennt. Nostalgie meint dabei eine spezifische Form der Erinnerung, die dann problematisch sei, wenn sie sich in nie dagewesenen Fiktionen und Verklärungen flüchtet – etwa in der bekannten Floskel, früher sei es eben besser gewesen. Friedrich betont dagegen, dass Nostalgie die Sehnsucht nach einem besseren Leben beinhalten kann, die es gilt, politisch zu nutzen.

Systematischer angelegt ist der Beitrag von Bernd Hüttner zu linker Geschichtspolitik: Es geht um Wissensproduktion, Wissensvermittlung und Wissensbewahrung, etwa durch Archive – wobei hier das Problem auftaucht, dass man eben erst von der Existenz solcher wissen muss. Hüttner nennt zum Beispiel die kollektive Online-Bibliografie zur kritischen Geschichte, oder das Onlineverzeichnis freier Archive. Über Hüttners Beitrag hinaus muss man sich mit der Problematik auseinandersetzen, wie die Erinnerung etwa an Bücher und die darin transportierten Theorien nachhaltig zu sichern wären, ohne dass jede Generation gezwungen wäre, das Rad jeweils neu zu erfinden. Dies betrifft auch die alljährliche Flut an neuen linken Titeln. Hier müsste ein zentrales Verzeichnis linker Publikationen geschaffen werden, etwa in Form eines Wikis. Außerdem sollten Bemühungen verstärkt werden, vor allem ältere Literatur zu digitalisieren und entsprechend in den Katalogen zu verlinken, und allgemein bekanntzumachen, am besten auch systematisch zu sammeln.

Was im Heft keinen Raum einnimmt, ist die Frage nach einem Umgang mit linker Erinnerungsverweigerung. Vielleicht ist dies auch eine zu persönliche Ebene und der Grad der eigenen Betroffenheit zu groß, oder überfordernd: Man schaue beispielsweise nur auf die eigene Familiengeschichte, die Eingebundenheit und Verantwortung der Eltern- und Großelterngenerationen im Nationalsozialismus; oder in die jüngere Vergangenheit geblickt: in der DDR. Letzteres müsste dann zum Beispiel auch eine konsequente Auseinandersetzung mit stalinistischem Denken mit sich bringen, die aktive Erinnerung an politische Wirrungen, Fehlentscheidungen und verpassten Chancen. Gerade in linken Kreisen gibt es allerlei nicht aufgearbeitete Konfrontations- und Konfliktlinien aus der Vergangenheit, die man sich selbst als jüngere Generation erst einmal mühsam erarbeiten muss.

Es ist zu hoffen, dass das hier von der Zeitschrift vorgelegte Format – im Sinn einer unakademischen Sammlung von Stimmenvielfalt – fortgesetzt wird, dann aber doch dringend verknüpft mit einer Aufforderung zur Diskussion untereinander, die hier vollständig fehlt. Zugleich wird auf Grund der Vielfalt deutlich: Erinnern kann nur kollektiv, inter- und transnational geschehen. Und es muss bewusst organisiert werden.

Widerspruch Redaktionskollektiv 2022:
Widerspruch 79. Beiträge zu sozialistischer Politik. Erinnern für Gegenwart und Zukunft.
Rotpunktverlag, Zürich.
18,00 Euro.
Zitathinweis: Sebastian Klauke: Zurückdenken bis in die Zukunft. Erschienen in: Erinnern von unten. 66/ 2023. URL: https://kritisch-lesen.de/s/iwncN. Abgerufen am: 03. 12. 2024 18:49.

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Widerspruch Redaktionskollektiv 2022:
Widerspruch 79. Beiträge zu sozialistischer Politik. Erinnern für Gegenwart und Zukunft.
Rotpunktverlag, Zürich.
18,00 Euro.