Zum Inhalt springen

Der öffentliche Gebrauch der Geschichte

Buchautor_innen
Susan Neiman / Michael Wildt (Hg.)
Buchtitel
Historiker Streiten
Buchuntertitel
Gewalt und Holocaust – die Debatte

In einem aufgeheiztem Debattenklima versammeln sich erstmalig breitere Teile der Beteiligten in einem Band. Trotz der scheinbaren Annährung geht das diskursive Ringen weiter.

Seit etwa anderthalb Jahren tobt eine Debatte, die unter der Bezeichnung „Historikerstreit 2.0“ verhandelt, wie in der bundesdeutschen Öffentlichkeit erinnert wird. In Anlehnung an den „Historikerstreit“ von 1986/87 wird die Singularität des Holocausts, dessen Verhältnis zu anderen Genoziden und deren Stellenwert in der hiesigen Erinnerungskultur diskutiert. Anstelle der Relativierung mit stalinistischen Verbrechen ist nun hingegen die Forderung nach einem angemessenen Einbeziehen kolonialer Verbrechen in das kollektive Erinnern impulsgebend.

Die kontroverse Israelkritik des kamerunischen Historikers und Politikwissenschaftlers Achille Mbembe im Jahr 2020 erweiterte nicht nur das Diskussionsfeld, sondern auch dessen politische Bedeutung. Mit der deutschsprachigen Veröffentlichung des Werkes „Multidirectional Memory“ des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg nahm die Debatte 2021 abermals an Fahrt auf. Spätestens mit dem Essay „Der Katechismus der Deutschen“ des australischen Historikers A. Dirk Moses von 2021 kommt die Diskussion an einen Punkt, der sich als Streit bezeichnet lässt. Darüber hinaus werden nicht zuletzt wiederholt Stimmen von unten laut, die sich aus unserer postmigrantischen Gesellschaft heraus nur eingeschränkt mit der hegemonialen Gedenkkultur identifizieren können und den Einbezug eigener Erinnerungen einfordern. Ob ein Gegeneinander resultiert oder eine konfliktfreie Einbindung möglich ist, bleibt abzuwarten.

Der Sammelband von Susan Neiman und Michael Wildt ist an das gleichnamige Symposium des Potsdamer Einstein Forums vom Oktober 2021 angelehnt und unternimmt den Versuch, unterschiedliche Zugänge und streitende Stimmen in einem Band zusammenzuführen. Auch wenn nach wie vor wichtige Perspektiven fehlen, handelt es sich um einen ergebnisorientierten Schritt, aus dem Feuilleton heraus- und in den direkten Austausch zu treten. Mit dem Sammelband geht die Hoffnung einher, einen ersten Zwischenstand des Streits in den Händen halten zu können. Es gilt auch zu bestimmen, ob die Debatte bereits zum intellektuellen Selbstzweck und zur akademischen Inszenierung verkommen ist oder sich tatsächliche Perspektiven für eine progressive und inklusive Erinnerungskultur von unten ableiten lassen.

Schattenseiten einer Debatte

Aufgrund der Dauer und Intensität der Debatte lassen sich bereits erste Schlüsse zur Art und Weise der Auseinandersetzung ziehen. Solche Problemlagen werden zum Teil auch von den Beteiligten selbstkritisch aufgeworfen. Trotz vieler gegensätzlicher Positionen scheint im Band ein Konsens zu herrschen, den auch die Historiker Volkhard Knigge und Dirk Moses im Gespräch formulieren:

„MOSES: Wo sind die afrodeutschen Stimmen in der Debatte, die palästinensisch-, syrisch-, türkisch-deutschen Stimmen? Wir wollen mehr von ihnen hören. KNIGGE: Da stimme ich Ihnen zu. Wir müssen die Perspektive der südlichen Welt auf die extreme Geschichte des 20. Jahrhunderts ernst nehmen.“ (S. 290)

Auch der Historiker und Soziologe Mischa Gabowitsch, der in seinem Beitrag insbesondere den mangelhaften Bezug der deutschen Erinnerungskultur auf die begangenen Verbrechen in Osteuropa kritisiert, bemängelt das Fehlen zahlreicher Perspektiven sowie ein unzureichendes Verständnis für deren Erfahrungen.

Weitere Kritikpunkte am Debattenverlauf arbeitet die Schriftstellerin Eva Menasse überzeugend heraus. Sie argumentiert, dass „der Digitalismus (…) uns trainiert, immer nach dem Trennenden, der Differenz zu suchen und das Gemeinsame, die Möglichkeit zum Kompromiss zu missachten“ (S. 22). Auch der Historiker und Schriftsteller Per Leo tritt in seinem Beitrag zunächst einen Schritt zurück und untersucht das Phänomen der streitenden Historiker (tatsächlich in erster Linie Männer). Streit werde oftmals durch Impulse aus der Öffentlichkeit ausgelöst und vor dieser ausgetragen. Die zugespitzte Kontroverse triumphiert dort zu oft über Fachlichkeit.

Möglichkeit zum Kompromiss?

Dirk Moses bemängelt in seinem Aufsatz, wie er wiederholt mit Kritiken konfrontiert werde, auf die er bereits in unterschiedlicher Form eingegangen sei, und zu denen es bereits Klärungen gegeben hätte. Lässt sich Gemeinsames finden, wenn sich ständig im Kreis gedreht wird?

An der bis heute in der breiten Öffentlichkeit als Tabu behandelten Unvergleichbarkeit des Holocausts scheint niemand aus der Fachwissenschaft festzuhalten. Der israelische Historiker Yehuda Bauer betont, dass der Holocaust mit anderen Genoziden verglichen werden müsse, „denn nur so kann man schlussfolgern, ob er anders als andere Genozide war“ (S. 132). Uneinigkeit besteht weiterhin dahingehend, ob im Ergebnis der Holocaust als singulärer „Zivilisationsbruch“ dasteht, wie Bauer behauptet. Sicher ist demgegenüber uneingeschränkt, dass ein konstruktiver Vergleich immer dem Erkenntnisgewinn und nie der Bagatellisierung dienen darf.

Im Sammelband wird sich auch mit angrenzenden Feldern der Politik, insbesondere mit der pro-palästinensischen BDS-Kampagne und dem dazugehörigen Beschluss des Bundestages, befasst. In diesem werden die „Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung“ als antisemitisch verurteilt. Der Historiker Omer Bartov bezeichnet hingegen den Beschluss als „Fehler“, der „eine abschreckende Wirkung auf die öffentlichen und akademischen Debatten im Land“ (S. 195) hätte. Eine allgemeine „abschreckende Wirkung“ konstatiert auch Dirk Moses dem Verlauf der Debatte insgesamt. Insbesondere „nicht weiße Deutsche mit Migrationshintergrund und progressive Juden“ hätten „Angst vor Repressalien am Arbeitsplatz, vor allem an Universitäten und kulturellen Einrichtungen“ (S. 217). Demgegenüber sieht Yehuda Bauer keinerlei Einschränkungen kritischer Stimmen gegenüber Israel in der deutschen Publizistik.

Praktische Erinnerungsarbeit

Fest steht, die bundesdeutsche Erinnerungskultur ist an keinem Endpunkt und unterliegt einer Vielzahl gesellschaftlicher Wandlungen. Mischa Gabowitsch fordert mit Blick auf den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa eine Ausweitung des Geschichtsbewusstseins. Einigkeit herrscht dabei mit Dirk Moses: „Die Totalität der deutschen Verbrechen wurde nicht erfasst oder nur einseitig verstanden“ (S. 202). Nicht zuletzt durch die Migration nach Deutschland im Zuge des Krieges in der Ukraine prägen unsere Gesellschaft neue Erinnerungen und Sichtweisen auf den deutschen Vernichtungskrieg sowie „aktuelle Erfahrungen von Massenmord und Zerstörung“ (S. 306). Was wir im Umgang und Kontakt brauchen, sei Empathie und Emotionalität, die nach Omer Bartov vor allem älteren Wissenschaftler*innen oft gefehlt habe. Verhandelt werden nach wie vor traumatische Erfahrungen und Erinnerungen.

In der überwiegend theoretisch geführten Debatte bietet der Band nur vereinzelt Praxisbezüge. Omer Bartov thematisiert, wie die bundesdeutsche Erinnerungskultur aus einem vielschichtigen Kampf seit den 1980ern hervorgegangen ist. Die Kämpfe sind von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteuren, meist gegen offizielle und staatliche Narrative, geführt worden. Dirk Moses zitiert in seinem Beitrag Per Leo aus einem persönlichen Schreiben:

„Lokale Initiativen, Mitarbeiter von Gedenkstätten, Journalisten und weniger bekannte Intellektuelle waren allesamt überraschend offen, um über die Mängel unserer Erinnerungskultur und die Notwendigkeit, ihren Kurs zu ändern, zu diskutieren.“ (S. 241)

Das Bewusstsein sei da, dass sich „mit dem sozialen Wandel (…) auch die Sichtweise einer Gesellschaft auf ihre eigene Vergangenheit ändern wird und notwendigerweise ändern muss“ (ebd.). Der Pragmatismus der Erinnerungsarbeit vor Ort eröffnet Möglichkeiten, denen die akademische Debatte oft zögerlich gegenübersteht. Auf sie und ihre zentralen Akteure einen Blick zu werfen lohnt allemal.

Susan Neiman / Michael Wildt (Hg.) 2022:
Historiker Streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte.
Propyläen Verlag, Berlin.
ISBN: 9783549100509.
368 Seiten. 26,00 Euro.
Zitathinweis: Jonas Baake: Der öffentliche Gebrauch der Geschichte. Erschienen in: Erinnern von unten. 66/ 2023. URL: https://kritisch-lesen.de/s/p9U8G. Abgerufen am: 21. 12. 2024 15:06.

Zum Buch
Susan Neiman / Michael Wildt (Hg.) 2022:
Historiker Streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte.
Propyläen Verlag, Berlin.
ISBN: 9783549100509.
368 Seiten. 26,00 Euro.