Petersburg 1917/18 … und der Triumph ist das Ende
- Buchautor_innen
- Alexander Rabinowitch
- Buchtitel
- Die Sowjetmacht
- Buchuntertitel
- Das erste Jahr
In einem akribischen Werk vermittelt der Historiker Rabinowitch wunderbar die Unübersichtlichkeit revolutionärer Umbrüche.
Der große Chronist der anarchistischen Bewegung Max Nettlau erwähnte einmal, dass seine Forschungen ihn zu dem „weitgehendsten Nicht-glauben an all und jede Geschichte“ geführt hätten, denn: „Die Wirklichkeit ist immer anders“ (zit. n. Becker 1993: XXI). Und nach der Lektüre des ausgezeichneten Buches des US-amerikanischen Historikers Alexander Rabinowitch über „Die Sowjetmacht“ kann man Nettlau nur zustimmen. Exzellent führt Rabinowitch den/die LeserIn über gut 500 Seiten durch die Komplexität des ersten Jahres der „Sowjetmacht“ in Petrograd.
Ausgangspunkt seiner Beschäftigung sind Fragen, die sich aus seinen älteren Untersuchungen ergaben:
„Wenn der Erfolg der bolschewistischen Partei 1917, soviel schien klar, wenigstens zum Teil ihrem offenen, relativ demokratischen Charakter und Handeln zu verdanken war, wie war dann zu erklären, dass sich diese Partei so schnell in eine der am stärksten zentralisierten und autoritärsten politischen Organisationen der Neuzeit verwandelte? Und weiter, wenn die Sowjets 1917 zutiefst demokratische Organisationen waren, Organe der Volksherrschaft in embryonaler Form, wie es die Ergebnisse meiner Untersuchungen nahelegen, welche Faktoren führten dann dazu, dass ihre Unabhängigkeit wie auch die anderer Massenorganisationen in so kurzer Zeit zerstört wurde? Die vielleicht entscheidendste Frage lautete: Wenn ein großer Teil der unzufriedenen Unterschicht Petrograds, die den Sturz der provisorischen Regierung anführte und den Bolschewiki die Machtergreifung leicht machte, eine egalitäre Gesellschaft und ein demokratisch-sozialistisches politisches System anstrebte, das Platz für viele Parteien bieten sollte, und wenn – auch das belegen meine Studien – viele bekannte Bolschewiki dieses Ziel ebenfalls verfolgten, wie lässt sich dann erklären, dass diese Ideale in so kurzer Zeit ausgehöhlt wurden und die autoritäre bolschewistische Herrschaft sich derart verfestigen konnte?“ (S. Xf.)
Von dieser Fragestellung her widmet sich Rabinowitch mit wunderbarer Akribie den verwirrenden und komplexen Prozessen, die sich im Petrograd vom Oktober 1917 bis Ende 1918 zugetragen haben. Im Durcheinander und Gegeneinander der Instanzen und AkteurInnen wird einem bisweilen schwindlig. Dies ist dem aber Buch zugute zu halten, verweist es doch auf das, was wirkliche Geschichte ausmacht: Komplexität.
Unterteilt ist das Buch in vier umfangreiche Teile: Von der „Niederlage der Gemäßigten“ über die Frage nach „Krieg oder Frieden?“ und die „Sowjetmacht am Rande des Abgrunds“ hin zu „Revolutionsfeiern im Zeichen des Terrors“.
Konfliktlinien
Im Kern kreisen Rabinowitchs Ausführungen immer wieder um zwei große Konfliktlinien: Zum Einen das Verhältnis zwischen den Bolschewiki und den Linken SozialrevolutionärInnen, die sich eben erst in Abkehr von der Sozialrevolutionären Partei konstituiert hatten und die auf eine Vertiefung des revolutionären Prozesses, das heißt eine Weitertreibung derselben über die menschewistische Vorstellung einer konstitutionell-demokratischen Republik hinaus drängten.
Die Linken Sozialrevolutionäre waren dabei in einer schwierigen Situation. Einerseits kritisierten sie von Anfang an die Bolschewiki dafür, in „rein bürgerlichen Formen der politischen Revolution“ verhaftet zu sein (Mstislawski zit. n. S. 106). Andererseits fühlten sie sich als junge Partei noch schwach, sahen in den Bolschewiki die Urheber des revolutionären Oktobers und wollten sich deshalb nicht gegen sie stellen. Bemüht darum, „von innen heraus mäßigend auf sie einzuwirken“ (S. 120) arbeiteten beide Parteien bis zum heftig umstrittenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk – in Petrograd auch darüber hinaus – zusammen, wobei Rabinowitch die immer heftiger werdenden Differenzen wie folgt umschreibt:
„Für die bolschewistische Führung lag die Antwort auf den anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Verfall und auf die Bedrohung durch äußere und innere Feinde in Diktatur, Zentralisierung, Heranziehung bürgerlicher Spezialisten sowie ehemaliger Offiziere und in der Verlängerung der ‚Atempause’ des Brester Vertrags um nahezu jeden Preis. Den Linken Sozialrevolutionären hingegen war diese Politik ein Gräuel. Sie hingen dem Ideal einer Selbstverwaltung der Arbeiter und Bauern durch demokratische Sowjets an und hielten einen weltweiten Volksaufstand für die einzige Überlebenschance der russischen Revolution.“ (S. 357f)
Zum Bündnis und dessen schließlichem Scheitern hält Rabinowitch – dabei auch die wichtigen Differenzen zwischen den Verhältnissen in Petrograd und Moskau vor Augen – fest:
„Das eminent wichtige Bündnis zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären in Petrograd wurde durch Ereignisse in Moskau zerstört. Mit geschwellter Brust gingen nationale Führer der Linken Sozialrevolutionäre daran, den Fünften Gesamtrussischen Sowjetkongress zu nutzen, um eine veränderte Politik in den Bereichen zu erreichen, in denen sie mit den Sowjets nicht übereinstimmten. Erst nachdem die Bolschewiki durch Wahlbetrug eine große Mehrheit der Delegierten hinter sich hatten, setzten die Linken Sozialrevolutionäre ihren törichten und unausgegorenen Plan für den Notfall um: die Ermordung des deutschen Botschafters in Moskau, Graf Wilhelm Mirbach. Sie hofften, der Mord würde die Deutschen veranlassen, die Feindseligkeiten gegen Russland wieder aufzunehmen, und damit den Brester Frieden hinfällig machen. Der Beginn der zweiten Schlacht an der Marne, die die Deutschen im Westen in die Defensive drängte, und das schnelle Handeln Lenins machten diese Hoffnung zunichte. Lenin setzte die brutale Unterdrückung der Linken Sozialrevolutionäre in der Hauptstadt ins Werk. Die sowjetischen Behörden in Petrograd wussten, dass die Petrograder Linken Sozialrevolutionäre von der Ermordung Mirbachs völlig überrascht wurden; dennoch unterwarfen sie sich kontraproduktiven Anweisungen aus Moskau: Sie zwangen die Führer der Linken Sozialrevolutionäre in den Untergrund, führten einen erfolgreichen Militärschlag gegen deren bewaffnete Kräfte, auf deren Hilfe sie bisher gebaut hatten, und sorgten dafür, dass Linke Sozialrevolutionäre auf allen Ebenen der Petrograder Regierung aus verantwortungsvollen Posten verdrängt wurden. (…) Rückblickend geht man wohl nicht fehl, im Ende der Zusammenarbeit zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären auf nationaler Ebene historische Weichenstellungen zu erblicken, die mehr als nur den Wendepunkt des sowjetischen politischen Systems zu einer Einparteiendiktatur kennzeichnen. Die Linken Sozialrevolutionäre stellten für die Sowjetmacht ein äußerst wichtiges Band zur ländlichen Bevölkerung dar. Ein Fortbestehen des Bündnisses zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären hätte wohl bewirkt, dass der russische Bürgerkrieg entschieden weniger Opfer gefordert hätte.“ (S. 535f)
Zum Anderen wendet sich Rabinowitch den Konflikten innerhalb der bolschewistischen Partei zu. Immer wieder verweist er auf weitreichende Differenzen und beklagt besonders, dass die historische Forschung den „gemäßigten Bolschewiki bisher zu wenig Beachtung geschenkt“ habe (S. 526). Neben diesen, die von den „Leninisten“ verdrängt worden seien (S. 158), gäbe es noch die „Linkskommunisten“ um Bucharin, auf die die Linken SozialrevolutionärInnen ihre Hoffnungen gesetzt hatten, welche aber in entscheidenden Momenten der Parteidisziplin den Vorzug gaben und so den Siegeszug der LeninistInnen begünstigten.
Wie weitreichend im konkreten Fall die unterschiedlichen Strömungen sich auch auf die Politik der Bolschewiki auswirkten, macht der Vergleich der Moskauer und Petrograder Tscheka deutlich. So konnte sich der Chef der Petrograder Geheimpolizei, Urizki, bis zu seiner Ermordung erfolgreich gegen Weisungen aus Moskau – dorthin waren die (terroristischen) Hardliner um Lenin im Gefolge der Bedrohung der Stadt durch die Konterrevolution im Frühjahr 1918 Hals über Kopf geflohen – zur Wehr setzen. In Moskau hingegen wütete der „rote Terror“, von Lenin gedeckt (S. 465f), der Urizkis Zurückhaltung „unerträglich“ empfand (Lenin zit. n. S. 423). Dass die Ermordung Urizkis nicht nur den „vielversprechenden Bemühungen, die P[etrograder]Tscheka aufzulösen, ein Ende“ setzte (S. 423), sondern Sinowjew Vorwand und Möglichkeit gab, nun auch in Petrograd eine verschärfte Gangart in Szene zu setzen, gehört wohl zu den tragischsten Momenten, über die Rabinowitchs Buch zu berichten weiß.
Fazit
Es fällt schwer, ein einfaches Fazit aus der Untersuchung Rabinowitchs zu ziehen. Vielleicht liegt der Wert des Buches gerade darin, dass man sich dem Material in seiner Sperrigkeit stellen muss und nicht mit einer einfachen Geste die Antwort geben zu können meint. Dies umso mehr, da im Grunde Fragen, Probleme und politische Konzepte im Zentrum stehen, die für eine linke Politik immer wieder (kritisch) zu thematisieren sind. Es ist überdies im Kopf zu behalten, dass hier nur ein winziger Ausschnitt aus diesem von Material strotzenden Buch dargestellt werden konnte.
Allem (berechtigten) Fokus auf die „Verhältnisse“ und „Umstände“ zum Trotz zeigen die Ausführungen Rabinowitchs jedenfalls den bisweilen erstaunlichen Einfluss, den Personen in den Wirren der Zeiten ausüben können. An einer Stelle erklärt Rabinowitch:
„Der wichtigste Faktor war jedoch zweifelsohne Lenin (mit Unterstützung Trotzkis) – sein festes Vertrauen auf die Richtigkeit seiner Einschätzung der revolutionären Lage in Russland und weltweit, sein eiserner Wille und seine unerschütterliche Entschlossenheit, seine Ziele entgegen jeglicher Stärke der Opposition zu erreichen, seine herausragende politische Begabung und seine Freiheit von jeglichen Skrupeln. Gewiss wurde die Oktoberrevolution in Petrograd vom Volk getragen, doch die politischen Ereignisse, die sich vom 25. Oktober bis 4. November 1917 in dieser Stadt abspielten, sind ein Beleg für die bisweilen entscheidende Rolle des Individuums in der Geschichte.“ (S. 71)
Diese Ausführungen, auf den Oktober bezogen, lassen sich – mit Vorsicht – etwas verallgemeinern. Denn es ist nicht zuletzt die kaum begreifliche Autorität Lenins, die sich immer wieder – aller Rückschläge zum Trotz – durchzusetzen vermag und die, zusammen mit Trotzki, das ganze Unheil in Habitus und Strategie des Bolschewismus verkörpert und personifiziert. Nicht um Lenin und Trotzki die alleinige Schuld zu geben, aber um deren Einfluss zu verstehen, müsste man sich näher mit dem komplexen Verhältnis von Sendungsbewusstsein, Willensstärke, erfolgreich instrumentalisierter Parteidisziplin, Verfügung über materielle Mittel und Deutungshoheit über die politische Situation beschäftigen.
Nicht zuletzt deshalb machen die revolutionären Geschehnisse in Russland deutlich, wie wichtig es ist, einen Raum zu erkämpfen und zu verteidigen, der von keiner/m der Beteiligten monopolisiert werden darf. Denn, wie schon Volin erklärte:
„Auf sozialem Gebiet kann niemand die ganze Wahrheit für sich allein beanspruchen, kann niemand von sich behaupten, er irre sich niemals im Weg. Diejenigen, die das behaupten – ob sie sich nun ‚Sozialisten’, ‚Kommunisten’, ‚Anarchisten’ oder sonstwie nennen – zerschlagen, wenn sie mächtig und stark geworden sind, mit diesem Anspruch alle anderen Ideen und errichten zwangsläufig eine Art soziale Inquisition, die wie jede Inquisition alle Wahrheit, alle Gerechtigkeit, allen Fortschritt, das Leben, den Menschen, selbst den Atem der Revolution erstickt.“ (Volin 1947: S. 186, Herv. i. O.)
Rabinowitchs Buch ist unbedingt zu empfehlen. Dass ein anscheinend Trotzki nicht abgeneigter Verlag es in Deutschland publizierte, ist anerkennend hervorzuheben, schneidet der Revolutionsführer doch (zu Recht) keineswegs gut ab.
Zusätzlich verwendete Literatur
Heiner Becker (1993): Einleitung. In: Max Nettlau (1925): Der Vorfrühling der Anarchie. Seine historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Münster: Bibliothek Thélème. S.VII-XXXII.
Volin 1947: Die unbekannte Revolution. Band 1. Hamburg: Verlag Association, 1975.
Die Sowjetmacht. Das erste Jahr.
Mehring Verlag, Essen.
ISBN: 978-3-88634-090-3.
677 Seiten. 34,90 Euro.