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Noise bei Pierburg

Die vordere Umschlagseite trägt den Titel des Buches "Wilder Streik - das ist Revolution" in weißer Schrift auf magentafarbenem Untergrund und Untertitel in magentafarbener Schrift auf dunkelgelben Hintergrund. 
Es ist ein Hinweis aufgebracht, dass der Untertitel "das ist Revolution" vom damaligen Neusser Polzeipräsidenten stammt.
Es ist außerdem eine in schwarz-weiß stilisiertre Zeichnung von Arbeiterrinnen aufgebracht. Eine Frau zeigt den linke Arm hochgestreckt, die Hand zur Faust geballt.
Buchautor_innen
Dieter Braeg (Hg.)
Buchtitel
"Wilder Streik - das ist Revolution"
Buchuntertitel
Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973

Die Dokumentensammlung erinnert an einen im Wesentlichen durch Migrantinnen initiierten und getragenen Streik bei einem Automobilzulieferer.

Ende August 1973 fand in den Ford-Werken in Köln-Niehl ein „wilder Streik“ statt. 300 türkeistämmige Arbeiter_innen sollten fristlos entlassen werden, weil sie verspätet aus dem Jahresurlaub kamen. Dagegen und gegen niedrige Löhne begehrten die Arbeiter_innen auf. Nachdem anfänglich deutsche Arbeiter_innen sich noch mit ihren Kolleg_innen solidarisierten, kippte nach wenigen Tagen die Stimmung. Serhat Karakayali (2005) resümiert, dass der Streik letztlich an der Spaltung in Deutsche und Ausländer gescheitert sei. „Werksleitung, Betriebsrat und Medien hatten es nach und nach geschafft, die ohnehin schon strukturell unterschiedlichen Interessen ideologisch zu verfestigen.“ Während der Ford-Streik durch die Erinnerungsarbeit von Aktivist_innen mittlerweile relativ bekannt ist, sind viele andere Kämpfe, die von Arbeitsmigrant_innen Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, zunehmend in Vergessenheit geraten. So streikten im August 1973 nur wenige Kilometer entfernt von Köln in Neuss bei dem Autozulieferer Pierburg tausende Arbeiter_innen. Der nun von Dieter Braeg, einem damals beteiligten Aktivisten, herausgegebene Sammelband „Wilder Streik – das ist Revolution“ dokumentiert die Ereignisse um diesen Arbeitskampf in erster Linie anhand zahlreicher damals erschienener Texte, Interviews und Berichte.

Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Streik bei Pierburg

Die Firma Pierburg ist ein klassisches Beispiel für die Wirkmächtigkeit von Rassismus, Klassen- und Geschlechterverhältnissen auf die Organisation von Arbeit in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre. Während in den Niedriglohngruppen fast ausschließlich Arbeitsmigrant_innen beschäftigt waren, gab es in der Facharbeitergruppe „nur zwei, drei Jugoslawen, einen Griechen, also fast ausschließlich Deutsche“ (S. 110), die Vorarbeiter waren sogar ausschließlich Deutsche. Die Fakten der Lohndiskriminierungen werden in einem im Anhang des Buches versteckten, aber sehr aufschlussreichen Referat des Herausgebers Braeg aus dem Jahr 1975 deutlich. Migrantische Arbeiter_innen würden erstens aufgrund der Lohngruppen schlechter gestellt, zweitens wegen ihrer kürzeren Betriebszugehörigkeit durch „Rotation“ oft gesteuert, bekämen etwa weder Weihnachtsgeld noch Jahresprämie und erhielten drittens insgesamt „die schlechtesten und schlecht bezahlten Arbeitsplätze“ (S. 167). Besonders betroffen waren Migrantinnen. Während beispielsweise ein Aufstieg innerhalb des Betriebs männlichen Migranten vereinzelt gelang, war gleiches für Migrantinnen praktisch unmöglich.

Übergeordnet war es eine auf Rassismus und Geschlechterverhältnissen beruhende Segmentierung der Arbeit, die zum selbstorganisierten „wilden“ Streik im August führte. Diesem gingen allerdings zwei Streiks bei Pierburg voraus. 1969/70 protestierten bei selbstorganisierten Streiks jugoslawische Arbeiterinnen (ausschließlich Frauen) in erster Linie gegen die Wohnverhältnisse. Die Frauen wehrten sich gegen massive Einschränkungen im Privatbereich; so sah die Hausordnung der Wohnheime, in denen sie lebten, vor, dass „peinlichste Sauberkeit“ zu halten sei, „das Anbringen von Bildern und dergleichen“ eine Zustimmung der Hausleitung bedürfe oder es verboten sei, ohne Genehmigung des Hausmeisters Besuch zu empfangen (S. 93f.). Die Frauen hatten Erfolg: Nach und nach wurden die Wohnheime abgebaut und auch die niedrigste Lohngruppe (Lohngruppe I) abgeschafft, was zu einer − wenn auch geringen − Lohnerhöhung führte. Hier gab es bereits Solidarisierungen der deutschen Arbeiterinnen. Wenige Monate vor dem Auguststreik gab es im Juni 1973 einen weiteren spontanen Streik, in dem neben zahlreichen anderen Forderungen zentral die der Abschaffung der Lohngruppe II sowie die Erhöhung des Lohns für alle um eine Mark waren. Der Streik dauerte nur zwei Tage, da Pierburg durch kleinere Gehaltsaufbesserungen den Streik unterlaufen konnte. Der Unternehmensleitung war viel daran gelegen, die Lohngruppe II zu erhalten und die Kosten der Arbeitskraft weiterhin niedrig zu halten. Zudem sollten im Herbst 300 schon länger bei Pierburg arbeitende Migrantinnen entlassen und durch neue − und dadurch günstigere − Arbeiterinnen ersetzt werden.

Gegen diese geplanten Entlassungen richtete sich zunächst der Streik von 200 bis 300 Arbeiter_innen, die am Montag, dem 13. August 1973, zur Frühschicht die Arbeit nicht aufnahmen. Viele Arbeiter_innen in der Fabrik solidarisierten sich nach der Frühstückspause mit den Streikenden vor der Fabrik: 600 schlossen sich an, womit die Produktion lahmgelegt war. Der Streik dauerte die ganze Woche und viele deutsche Arbeiter_innen, auch einige Facharbeiter, solidarisierten sich.

Der Streik wurde von heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei begleitet, die sich schnell herumsprachen, einige Journalist_innen auf den Plan riefen und so ihren Weg bis in die Tagesschau fanden. Binnen kurzer Zeit solidarisierten sich auch viele Neusser Bürger_innen und unterstützten die Streikenden aktiv. Auch die IG Metall in Neuss, die zwar offiziell den Streik nicht unterstützen konnte, erklärte sich solidarisch. Durch die Gefährdung der Automobilproduktion bei Ford und Opel durch die Streiks bei den Zulieferern Pierburg und Hella schaltete sich ein Arbeitgebervertreter ein, was den Druck auf Pierburg erhöhte. Und tatsächlich, der Streik hatte großen Erfolg: Fünf Tage nach Streikbeginn wurde verkündet, die Lohngruppe II falle weg und es werde Lohnzuschläge von 53 bis 65 Pfennige geben. Die Streikenden erklärten sich bereit, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Solidarisierungen

Das Buch erinnert an den Streik und vermittelt durch viele Originaldokumente einen Eindruck der Atmosphäre des Kampfes vor vierzig Jahren. Aus heutiger Sicht lohnt es sich, den Streik genauer unter die Lupe zu nehmen, denn anders als beim bekannten Ford-Streik kam es zu Solidarisierungen seitens der deutschen Arbeiter_innen. Die Migrantinnen bei Pierburg forderten Solidarität ein in ihrem Kampf gegen eine durch Rassismus und durch Geschlechterverhältnisse geprägte Organisation der Arbeit, etwa als sie diejenigen Arbeiter_innen, die weiterarbeiteten, mit Rosen beschenkten, aber klar die Bitte um Mithilfe beim Streik formulierten. Eine damalige Gewerkschaftsjugendvertreterin beschreibt in einer Rückschau im Buch eindringlich, wie sie Tränen in den Augen hatte, als am Donnerstag die Kolleg_innen des Werkzeugbaus nach 9 Uhr ihre Arbeit niederlegten und mit erhobenen Rosenstrauß sich solidarisierend auf die Streikenden zugingen.

Die gelungene Solidarisierung gelang nicht zuletzt dank eines linken Betriebsrats, der es nach jahrelangen Kämpfen im Jahr 1972 schaffte, den alten unternehmerfreundlichen Betriebsrat abzulösen, was sich wesentlich auf die Repräsentation auswirkte. War die Mehrheit des Vertrauenskörpers zu diesem Zeitpunkt bereits mehrheitlich durch Migrant_innen besetzt, wurde bei der Zusammensetzung des Betriebsrats darauf Wert gelegt, dass mindestens 50 Prozent Migrant_innen und eine Person pro Nationalität vertreten waren. Außerdem wurden Informationsflugblätter in allen Sprachen der im Betrieb Beschäftigten verteilt und die Betriebsversammlungen in allen Sprachen abgehalten, auch wenn diese dadurch durchschnittlich knapp fünf Stunden dauerten.

Der Betriebsrat widmete sich außerdem Problemen, die nicht konkret die Arbeit betrafen, „sondern auch die Probleme der Wohnung, Ausbildung, des Kulturlebens, der rechtlichen Situation“ (S. 170). So forderte der Betriebsrat unter anderem die Garantie einer akzeptablen Wohnung und die sofortige Aufhebung der seit 1973 erlassenen Beschränkungen wie Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse, Bevorzugung von Deutschen bei der Arbeitsplatzvergabe, Zuzugsbeschränkungen in Ballungsgebieten und die diskriminierende Kindergeldregelung.

Die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes

Imposant an dem Buch ist die fühlbare Freude an der Solidarität und am gemeinsamen Kampf. Das gelingt zum einen durch den beiliegenden Dokumentarfilm aus dem Jahr 1975, der die Geschichte des Streiks und der Solidarität in Bilder packt und es schafft, die Atmosphäre auch emotional fassbarer zu machen. Das gelingt zum anderen durch die zahlreichen Originaldokumente im Buch. Zwar hätten diese besser kontextualisiert werden können − bei manchen Dokumenten braucht es eine gewisse Zeit bis sich Indizien verdichten, von wem und wann der Text verfasst wurde. Schade ist zudem, dass nur wenige eigens für das Buch verfasste Texte aus heutiger Sicht die Ereignisse reflektieren, weshalb kaum thematisiert wird, was aus den Streikenden von damals geworden ist. Dennoch: Die Fülle an Originaldokumenten fängt durch ihre Sprache und ihren Stil eindringlich gefühlte und gelebte Solidarität authentisch ein. In einem dokumentierten Streikbericht eines linken Gewerkschafters heißt es:

„Plötzlich ist ein türkischer Dudelsackspieler da, im Werk auf dem Hof und vor dem Werk bilden sich Gruppen aus Männern und Frauen aller Nationalitäten und man beginnt zu tanzen. Die Deutschen machen mit, hilflos am Anfang, aber die Mädchen zeigen ihnen, wie man die Füße setzen muß. ¸Dies ist der schönste Tag meines Lebens', sagt ein älterer deutscher Arbeiter, ¸heute halten wir alle zusammen, das habe ich noch nie in meinem Leben erlebt. Pierburg kann uns nicht schaffen!'“ (S. 23)

Der Streik bei Pierburg ist, wie Manuela Bojadzijev (2008) in ihrer umfangreichen und ausgezeichneten Studie „Die windige Internationale“ (siehe die Rezension von Katharina Schoenes in dieser Ausgabe) festhält, ein Beispiel dafür, wie rassistische Spaltungen unterlaufen werden konnten − trotz der Strategien der Unternehmensleitung, staatlicher Apparate und der Presse, die Kampfbereitschaft der Belegschaft zu schwächen. Dies gelang, da

„Migrantinnen beharrlich auf Allianzen setzten und Solidarität einforderten. Die hatten sie durch gezielte Interventionen erreicht: durch Besuch der Kneipen, die sie sonst nicht frequentierten, durch Einfluss auf die deutschen Facharbeiter, durch die temporäre Aneignung der Fabrik, die zumindest für einen Tag festartigen Charakter erhielt“ (Bojadzijev 2008, S. 170).

Der Band hält diese Momente der Solidarität fest und würdigt mit hoher Authentizität einen kurzen Augenblick des gelungenen Widerstands, der Platz finden sollte im kollektiven Gedächtnis der Linken.

Zusätzlich verwendete Literatur

Bojadzijev, Manuela (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Westfälisches Dampfboot, Münster. Karakayali, Serhat (2005): Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln. Migrantische Kämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik. In: Grundrisse 14 (2/20015). Online hier.

Dieter Braeg (Hg.) 2012:
"Wilder Streik - das ist Revolution". Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973.
Die Buchmacherei, Berlin.
ISBN: 978-3000399046.
178 Seiten. 13,50 Euro.
Zitathinweis: Sebastian Friedrich: Noise bei Pierburg. Erschienen in: Umkämpfte Migration. 30/ 2013, ...können wir nur selber tun! 45/ 2017, Transformationen – Kapitalismus und Arbeit im Wandel. 55/ 2020. URL: https://kritisch-lesen.de/s/vXeTx. Abgerufen am: 21. 11. 2024 13:49.

Zum Buch
Dieter Braeg (Hg.) 2012:
"Wilder Streik - das ist Revolution". Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973.
Die Buchmacherei, Berlin.
ISBN: 978-3000399046.
178 Seiten. 13,50 Euro.