Eingesperrte Frauen
- Buchautor_innen
- Bettina Wilpert
- Buchtitel
- Herumtreiberinnen
- Buchuntertitel
- Roman
Ein Ort in Leipzig, der in unterschiedlichen Zeitebenen drei Frauen in ihrer Devianz gegenüber dem herrschenden System miteinander verbindet.
Die Sätze, die Bettina Wilperts „Herumtreiberinnen“ vorangestellt sind, sind ein Ausblick auf das, was kommt: „Wir sind immer auf der Flucht. Wir sind der Abschaum, das Unterste. Sie nennen uns HwGs oder Herumtreiberinnen, Arbeitsbummelantinnen, Asoziale […, sie] sagen, wir seien Wahnwitzige und Sinnlose, Liederliche. Wir werden versorgt und verwahrt.“ (S. 5)
Manja, Robin und Lilo: drei Frauen, deren Geschichten sich durch die Räumlichkeiten eines Gebäudes in der (fiktiven) Lerchenstraße in Leipzig in den 1980er Jahren, 2015 und in den 1940ern verbinden. Es ist eine einsperrende Institution, die jede dieser Frauen auf unterschiedliche Weise zu disziplinieren versucht – und sie doch nicht brechen kann. Der Roman orientiert sich an wahren historischen Begebenheiten. Er ist eindrücklich, spannend und vor allem feministisch.
Manja: Die Venerologische Station
Die 1980er Jahre sind die erste Zeitebene, die die Leser*innen kennen lernen. Es ist die Geschichte von Manja und ihrer Freundinnenschaft zu Maxie. Dadurch, dass beide den ersten Auftritt haben, ihre Geschichte als einzige aus der Ich-Perspektive geschrieben ist und verhältnismäßig viel an das Quellenmaterial angelehnte Ausschnitte beschrieben werden, hat dieser Strang über die gesamte Romanlänge eine besondere Bedeutung: zwei junge Frauen der Leipziger 80er Jahre, die lieber heimlich die erste Raumfahrt von Sally Ride gucken und auf die Kleinmesse gehen anstatt in die Schule. Die Jungs, Abenteuer und ihre Freundinnenschaft im Sinn haben und weniger den Klassenstandpunkt und das Aufsatzthema, wie schwierig ein BRD-Bürger seine Freizeit sinnvoll gestalten könne.
Die Leidenschaften der Mädchen werden jäh durch einen Zugriff der Volkspolizei beendet. Manja wird in einem Heim für mosambikanische Vertragsarbeiter aufgegriffen und auf die geschlossene Venerologische Station, genannt Tripperburg, eingewiesen. Es folgt Gewalt. Gewalt durch das medizinische Personal. Gewalt durch die anderen eingewiesenen Frauen, unter denen es eine eindeutige Hierarchie gibt. Gewalt, die Manja selbst ausübt. Zutage treten die unterschiedlichsten Biografien derjenigen Frauen, die auf der Tripperburg festgehalten werden. Und schnell wird klar: Die Venerologische Station ist ein Repressionsinstrument des DDR-Staates. Und als solches ist es explizit gegen Frauen gerichtet.
Robin: Die Geflüchtetenunterkunft
Robin arbeitet 2015 als Sozialarbeiterin in der Lerchenstraße, die nun eine Unterkunft für Geflüchtete ist. Robin ist als Protagonistin der von ihr bespielten Zeitebene der Gegenwart am nächsten, denn der „Sommer der Migration” ist noch nicht einmal historisiert. Im Unterschied zu den anderen beiden Protagonist*innen des Buches ist Robin in ihrer Funktion als Sozialarbeiterin allerdings freiwillig in der Lerchenstraße. Damit unterscheidet sich ihre Rolle im Gegensatz zu der von Manja und Lilo, die gegen ihren Willen dorthin verschleppt worden waren. Aber auch als Geflüchtetenunterkunft hat die Lerchenstraße eine einsperrende und repressive Funktion, denn es geht um Kontrolle der Bewohner*innen. Hier macht Wilpert eine reale Kontinuität sichtbar: Repressive Orte werden zumeist in verschiedenen Zeiten und Systemen (weiter) genutzt, da sie baulich gut passen.
Die unterschiedlichen Rollen, die Lilo, Manja und Robin repräsentieren, werden im Roman weniger ausformuliert. Dafür zeigt die konkret formulierte Biografie von Robin besonders eindrücklich einen markanten Unterschied der Frauen: In der Parallelisierung von weiblicher Lust und dem „Herumtreiben“, wegen dem die Frauen der anderen Zeitebenen interniert werden. Robin hingegen datet modern, das heißt auf Tinder, hat unverbindliche Affären und weder Lust auf klassische Beziehungskonstellationen noch auf Kleinfamilie. Der Umstand, dass Robin nur zeitweise in der Lerchenstraße ist, lässt mehr über ihr restliches Leben erfahren, beispielsweise ein vermeintlich nonkonformes Sexualverhalten, was Robin einige Reflexion abverlangt. Dies ist ein starkes Statement im Roman und eine weitere, aufgezeigte Kontinuität: Bis heute müssen sich Frauen für ihr Sexualverhalten rechtfertigen.
Lilo: Das Untersuchungsgefängnis
Lilo wird schließlich in den 1940er Jahren nach ihrer Verhaftung durch die Gestapo in der Lerchenburg festgehalten. Als Tochter eines bekennenden Kommunisten entschloß sie sich, selbst Teil seiner kommunistischen Zelle in Leipzig zu werden. Wilpert erzählt diese Zeitebene allerdings weiter aus und so geht es auch um Lilos Leben in den 1920er Jahren. Ihr Alltag ist geprägt von Arbeit und Familie, für die sie als Älteste ganz automatisch die Verantwortung mit übernehmen muss. Dabei hat sie für sich persönlich selbst wenig Entscheidungsspielraum. Es erstaunt umso mehr, mit welchem Willen sie Teil des Widerstands gegen die Nationalsozialisten sein will, mit welcher Kraft sie sich durchsetzt, um im Untergrund aktiv zu werden und auch mit welcher Energie sie gegen sich und ihre eigenen Ängste kämpft.
Dabei kämpft Lilo eigentlich zwei Kämpfe. Einen familiär-feministischen gegen den eigenen Vater, der (der Zeit entsprechend?) sich wenig für seine Familie und Kinder interessiert, aber viel für Politik. Der nur sporadisch zu Hause ist und seine älteste Tochter nicht ernst nimmt. Sie, die in jungen Jahren Angst vor ihm haben muss und bei seiner ersten Verhaftung fast froh ist, dass er nicht mehr zu Hause ist. Und gleichzeitig der Kampf gegen die Vorurteile, dass sie als junge Frau nicht im Untergrund arbeiten könne, sie immer darauf angewiesen ist, dass man ihre eine Aufgabe zuträgt; dass sie nicht bei den konspirativen Treffen dabei sein darf und nur ausführt, was man ihr aufträgt. Dabei ist die Erzählung über Lilos Leben auch geprägt von Gedanken, die sich die junge Frau über sich, die Zukunft, ihre Positionierung innerhalb verschiedener Gruppen und in verschiedenen Beziehungen macht. Vor allem im Wechselspiel mit Robins Geschichte wird greifbar, wie sehr sich Handlungen (bspw. erotische Zuneigung) in unterschiedlichen Zeiten voneinander unterscheiden (Tinder nach links swipen vs. lange Spaziergänge unternehmen und sich gegenseitig Bücher empfehlen), aber jeweils die Verantwortung für eine offensiven, unkoventionellen Umgang den Frauen zuschiebt.
Die Klammer
Die Frage nach dem Handlungsspielraum von Frauen* wird in allen drei Zeitebenen implizit gestellt. Die Geschichte Robins prägt die Frage Hedonismus versus Politik. Bei Lilo geht es sprichwörtlich um Leben und Tod, da sie als Kommunistin, also Gegnerin des Systems, unter den Nationalsozialisten eingesperrt ist. Und auch Manja erfährt auf der Venerologischen Station, dass Frauen* untereinander keineswegs automatisch solidarisch miteinander sind: Die Demütigungen und die Gewalt, denen die Frauen* ausgesetzt sind oder die sie erleben, begehen sie teilweise selbst.
Vor allem der Anfang des Romans ist stark geschrieben, mit literarischer Raffinesse und die lesende Person wird förmlich in das Buch eingesogen. Die Parallelen der Geschichten und der Themen sind deutlich erkennbar, werden aber nicht aufgedrängt. Die impliziten Bezugnahmen haben jedoch Grenzen und streckenweise wirken die einzelnen Geschichten voneinander abgekoppelt und die historischen Verbindungen werden nicht ganz klar. Die Begründung, warum Wilpert bestimmte Figuren, Ereignisse und Geschichten nennt, sind nicht immer schlüssig. Allerdings ist das auch gleichzeitig eine Stärke des Buches: Die Protagonistinnen und alle anderen Frauen* des Romans werden mit ihren individuellen Geschichten deutlich in den Vordergrund gestellt. Der Ort der Lerchenstraße – der zwar fiktiv ist, aber eine reale Vorlage in Leipzig hat – als verbindendes repressives Element gegen Frauen* ist eine inhaltliche Klammer, die dazu anregt, darüber nachzudenken, in welcher Form und warum Frauen* damals wie heute von der patriarchalen Gesellschaft normiert und vermeintliche Abweichung sanktioniert werden. Leider lassen Schreibstil und Kohärenz zum Ende hin etwas nach. Ein irritierendes Element ist eine Art „Chor“, der unregelmäßig auftritt. Er agiert als eine Art kollektives überhistorisches Wir aller devianten Frauen – die Einschätzung dieses Kunstgriffs ist Geschmackssache.
Dennoch: Die Perspektive, aus der geschrieben wird, ist eine eindeutig feministische, fast liebevolle gegenüber den Romanfiguren. Neben dem hervorragend recherchierten Inhalt, der dazu einlädt, sich mit den Themen weiter zu beschäftigen, ist es vor allem die Auseinandersetzung mit der Devianz und die feministische Bezugnahme auf alle drei Protagonist*innen, die das Buch zu einem fulminatenten Lesevergnügen machen, bei dem man über die holprigen Stellen gut hinwegsehen kann.
Herumtreiberinnen. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin.
ISBN: 9783957325136.
266 Seiten. 25,00 Euro.